August 2019. Ich liege schluchzend auf dem Küchenfußboden, weil ich kurz davor bin, meine Doktorarbeit abzubrechen. Meine Betreuer*innen haben andere Vorstellungen von der angemessenen Methode als ich. Ihre Version würde zu banalen Ergebnissen führen; ich hingegen will in eine sozialwissenschaftlichere Richtung, die komplizierter, aber auch interessanter wäre. Das können und wollen sie jedoch nicht betreuen. Soll ich es lieber ganz lassen? Doch ich bin nicht bereit, mich von der Idee der Doktorarbeit zu verabschieden. Schließlich will ich wissen, ob Forschung vielleicht auch etwas für mich wäre.1
In diesen Wochen des Haderns keimt in mir eine ganz andere Idee – wenn ich die Doktorarbeit abbräche, hätte ich bis zum Beginn des Praktikums im November nichts zu tun. Die perfekte Gelegenheit, einen Newsletter zu starten. Dieses Medium kenne ich zu diesem Zeitpunkt seit einigen Jahren und verliebe mich immer mehr in diese E-Mails. Während die meisten sie mit nerviger Werbung assoziieren, tummeln sich in meinem Postfach Anne Helen Petersen, Ann Friedman, Rachael Anne Jolie2 und andere Pionier*innen. Ihre Newsletter erinnern mich an Blogs ca. 2009 bis 2015, aber passen besser zu mir: noch textbasierter und keine*r erwartet tägliche Updates, denn tägliche E-Mails sind Spam.
Ich brainstorme Namen,3 Themen und Textideen, recherchiere Plattformen und beauftrage meine Schwester, einen Header zu designen (danke!). Ich grüble darüber, ob ich auf Englisch schreiben sollte wie in meinen alten Blogs oder doch lieber auf Deutsch.
In dieser Wolke der Planungsenergie kommt meine Doktorarbeit durch einen Betreuungswechsel wieder auf die Spur Richtung Happy End. Aber ich will trotzdem Newsletterautorin werden und in X Jahren, wenn das Medium sich im deutschsprachigen Raum durchgesetzt haben wird (heute?), sagen können, dass ich von Anfang an dabei gewesen bin. Doktorarbeit plus Newsletter, kein Problem, denke ich in klassischer Overachiever-Manier (Spoiler: Probleme siehe hier und hier).
Anfang 2020 ist es soweit. Ich poste Links auf Facebook und Instagram, damit der Newsletter nicht im Äther verdorrt. Aus meinem direkten Umfeld kommt die allerbeste Unterstützung und so verschicke ich am 5. Januar 2020 die erste Ausgabe von Fast jeden Sonntag an 52 liebe Menschen. (Eine vollständig überarbeitete Version dieses Textes gibt es nächstes Mal für alle Abonnent*innen mit solidarischem Abo.)
Seitdem ist unglaublich viel passiert. Ich habe 67 Newsletter verschickt. Das entspricht einem gar nicht so kurzen Buch – bei geschätzt sechs Druckseiten pro Text kommen wir so auf ca. 400 Seiten! Ich habe die Plattform gewechselt, lasse meine Texte lektorieren, habe das einwortKollektiv mitgegründet und solidarische Abos freigeschaltet.
Wie hat dieser Newsletter mein Schreiben verändert? Oder besser gefragt: Wie hat er mein Schreiben nicht verändert? Ich schreibe mehr, kann meine Ideen klarer auf den Bildschirm bannen und die falschen Wörter streichen, damit die richtigen heller strahlen. Ich habe Durchhaltevermögen entwickelt – das ist mein längstes Schreibprojekt überhaupt.
Ich schreibe schon sehr lange – alles begann in der dritten Klasse mit einem orangen Diddl-Tagebuch. Darauf folgten mehrere gescheiterte Romanversuche. Seit ich meinen Weg ins Internet fand, bewunderte ich Essays. Meine ersten persönlichen Essays schrieb ich um die Abizeit, aber zeigte sie niemandem. Doch schon damals hätte ich gern eine Kolumne gehabt. Stattdessen berichtete ich als freie Mitarbeiterin der Lokalzeitung über die konstituierenden Sitzungen der Ortsbeiräte einzelner Stadtteile. Mit diesem Newsletter erfülle ich mir den Wunsch in Eigenregie, statt weiter auf ein höchst unwahrscheinliches Angebot zu warten.
Wenn ich schreibe, tue ich etwas für mich. Ich sortiere meine Gedanken und folge ihrer Logik bis ans Ende, statt kurz: „Oh, interessant“, zu denken und dann vom Alltag abgelenkt zu werden. Ich kuschele mich in meinem Gehirn ein und habe eine gute Zeit.
Dieser Newsletter war natürlich ein Lernprozess. Anfangs schrieb ich einfach drauf los, aber meine Ideen kamen oft nicht dort an, wo ich sie hinführen wollte. Dann kam ich auf die grandiose (präzedenzlose!) Idee, meine Texte vorher in Stichpunkten zu planen. Viele Ideen blieben in diesem Stadium – im heimeligen Gefühl der Lieblingstasse in meiner Hand während eines Auslandspraktikums fand ich zwar Inspiration, aber keinen Essay. Dieses Planungssystem habe ich in den letzten Monaten verfeinert, jetzt sind die Stichpunkte durch Per-Hand-Drauflosschreiben ergänzt und vermischt. So entstehen brauchbare Sätze, vor allem der Einstieg. Wenn ich das Ganze ins Digitale gieße, fühlt es sich oft so an, als schriebe der erste Entwurf sich von selbst (der ja eigentlich der dritte ist).
Ich überarbeite meine Texte viel mehr als früher. Fünfmal ist völlig normal, auch zehn Überarbeitungen kommen vor. Mein Hauptinstrument ist die Löschtaste: Der „fertige“ Text ist mindestens 20 bis 30 % kürzer als die erste digitale Version. Dadurch habe ich meine Sprache herauskristallisieren können, auch wenn die Suche nach der eigenen Stimme eine Konstante des Autor*innen-Daseins ist.
Der Gamechanger war jedoch das Lektorat. Nach diesen beiden Überarbeitungsrunden sind meine Texte oft kaum wiederzuerkennen und die Ideen strukturierter, klarer formuliert und so logisch. Ohne Katha hätte ich mich nicht an die Körper-Serie getraut – sie hat sehr schnell festgestellt, dass in meinem Entwurf zum ersten Teil mindestens sieben Themen verwurstet waren. Durch ihr Feedback habe ich die Serie von den geplanten drei Teilen auf zehn erweitert. Doch je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr verselbständigt die Reihe sich – Stand jetzt werden es wohl 12 Teile. Ich brauchte nach mehr als drei Jahren Newsletter ein Lektorat, weil ich meine Grenzen erkannt hatte und allein nur noch langsam wachsen konnte. Jetzt, dank Katha, bin ich wieder mitten im Wachstumsschub.
Doch ich habe nicht nur meinen Stil und Arbeitsprozess verfeinert, sondern auch meine Themen gefunden. In meiner Recherche zu Newslettern las ich ständig, dass eine einzigartige Nische sehr wichtig sei. Doch ich hatte keine Ahnung, was meine sein könnte. Daher der Name Fast jeden Sonntag – ich wollte mich lieber auf einen Wochentag festlegen als auf ein Thema. Nach vier Jahren und diversen Neuformulierungen ist meine Tagline: „Ein Newsletter über Feministisches, Medizinisches, Politisches und gelegentlich Literarisches“. Zugegebenermaßen keine besonders enge Nische, doch diese Themen bedingen sich gegenseitig: Durch mein feministisches und politisches Interesse und Engagement bin ich eine andere Ärztin. Durch meine medizinische Ausbildung und Einblicke ins Gesundheitssystem kann ich neuartige Schlüsse zu feministischen und politischen Themen ziehen. Die Literatur kommt zwar immer kürzer – ich genieße sie aktuell lieber passiv – aber wer weiß, wann das nächste Mal strukturelle Bedingungen in Liebesromanen oder die Geschlechterverhältnisse des Kanons analysiert werden müssen.
Doch natürlich ist nicht alles Sonnenschein.
Ich interessiere mich mehr für die Zahlen als für meinen Seelenfrieden gut wäre: Wie viele Abonnent*innen? Wie viele Likes? Wie oft wurde der Newsletter aufgerufen, wie hoch ist die Öffnungsrate, wie oft habt ihr den Text geteilt oder kommentiert? Steigen alle Kurven schön nach oben? Mit diesen Fragen verbringe ich meine Sonntage – und viel zu oft auch Montage.
Instagram löschen hat geholfen, trotzdem refreshe ich obsessiv und freue mich über jede Mail, die mich über neue Abonnent*innen informiert, mehr als über Schokokekse. Warum tue ich nicht das Vernünftige, das Gesunde, und schalte diese Benachrichtigungen aus? Nach der Logik des Instagram-Löschens wäre das nur folgerichtig.
Doch dann erinnere ich mich an den Dopaminkick der Likes und neuen Abonnent*innen und möchte ihn nicht missen. Ich bin den Zahlen gegenüber zutiefst ambivalent, freue mich über sie und will mich doch nicht freuen, weil zen-artige Gleichgültigkeit so viel besser für meine Psychohygiene wäre. So bleibe ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach einem möglichst schnell wachsenden Newsletter und einem gesunden Desinteresse an der Statistik. Und doch stelle ich mir beim Einschlafen gern vor, dass bekannte Feministinnen wie Margarete Stokowski oder Emilia Roig meine Texte teilen und loben, dass sie plötzlich viral gehen und die Abonnent*innen sich vervielfachen. Dass sich mit der Zeit immer mehr unter ihnen für ein solidarisches Abo entscheiden und ich dann anfangen könnte, mir für diese Arbeit Mindestlohn auszuzahlen. Oder gar, Traum aller Träume, einen ähnlichen Stundenlohn wie bei meiner Arbeit als Ärztin, wodurch ich meine Arbeitszeit reduzieren und noch mehr schreiben könnte.
Doch dann denke ich: Ach, eine kleine Plattform ist eigentlich ganz kuschelig, die Atmosphäre hier ist super, ich muss mich nicht mit Hasskommentaren rumschlagen und mir wird selten bis nie widersprochen.
Aber ich bin doch sicher noch sehr, sehr weit von der Hasskommentar-Grenze entfernt. Ein bisschen Wachstum würde also nicht schaden.
Oder?
Diese Ambivalenz werde ich heute nicht lösen können, aber ihr könnt mir und meinem Newsletter ein Geburtstagsgeschenk machen und ihn auf nachdrücklichste Weise mit euren Freund*innen und Netzwerken teilen, damit ich mehr Likes, mehr Abonnent*innen und einen konstanteren Dopaminrausch bekomme. Danke!
Wenn ihr mit dem Gedanken spielt, einen Newsletter zu starten oder schon einen habt, was würde ich euch aus meinen vier Jahren Erfahrung mitgeben? Hier sind meine drei wichtigsten Lektionen für (zukünftige) Newsletterautor*innen:
1. Nehmt euer Schreiben ernst. Das bedeutet: Schreibt, als hättet ihr eine große Plattform, auch wenn euch bisher nur Freund*innen und Familie lesen. Überarbeitet eure Texte, bis ihr sie fast auswendig könnt. Schreibt regelmäßig – dabei hilft ein Ritual. Meins bedeutet, eine halbe Stunde früher aufzustehen und vor der Arbeit zu schreiben. So habe ich schon etwas für mich getan, bevor ich den ganzen Tag für andere da bin. Wenn ihr noch einen draufsetzen wollt und Geld übrig habt: Lasst eure Texte lektorieren. Gute Lektor*innen können euer Werk auf eine ganz andere Ebene befördern.
2. Tut euch zusammen! Gründet ein Schreibkollektiv, geht zu Autor*innen-Stammtischen oder Schreibtreffen und erzählt allen von euren Newslettern. Verabredet euch zum Schreiben, tauscht Texte und gebt euch gegenseitig Feedback. Dazu gehört auch, euer Umfeld zum Lesen einzuladen, denn das ist die beste Unterstützung. Meine Freund*innen waren die ersten Abonnent*innen, die ersten solidarischen Abos schlossen meine Eltern ab, gelegentlich erreichen mich Nachrichten mit Feedback und als es hier 2022 sehr still war, kamen sanfte Nachfragen, wann es denn mal wieder etwas zu lesen gebe.
3. Seid sanft zu euch selbst. Setzt euch nicht unter Druck. Ignoriert die Zahlen (ja, ich schreibe hier auch an mich selbst), macht Pausen, wenn ihr sie braucht. Ihr macht dieses Projekt für euch und euer Schreiben. Wenn das Leben mal zu viel wird, werden eure Leser*innen auch noch da sein, wenn ihr wieder zu Atem kommt.
Jetzt bleibt mir nur noch, euch das allergrößte Dankeschön zu schicken. Ohne euch läge dieser Newsletter seit Jahren im Koma und mein Kopf wäre voller Ideen, von denen es keine in meine Notizbücher oder meinen Laptop schaffen würde (und schon gar nicht ins Internet und eure Postfächer). Danke, danke, DANKE!
Auf die nächsten vier Jahre!
Lektorat: Katharina Stein
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Er erscheint ein- bis zweimal im Monat.
PS: Wer jetzt noch ein solidarisches Abo abschließt, bekommt nächstes Mal als Dankeschön eine vollständig überarbeitete Version der allerersten Ausgabe von Fast jeden Sonntag. Dank neuer Erkenntisse ist sie jetzt doppelt so lang …
Oder ihr spendiert mir einen Kaffee. Ihr könnt die Arbeit am Newsletter auch via Paypal unterstützen.
PPS: So habe ich den ersten Geburtstag dieses Newsletters gefeiert:
Ist sie nicht. Nach der Doktorarbeit bin ich sowas von durch damit.
Ich weiß auch nicht, warum sie alle Ann(e) heißen!
Dieses Projekt hätte beinahe Sofias Seitenhiebe oder Patriarchat und Kapitalismus überleben gehießen.