Wer einen Liebesroman aufschlägt, trifft weniger Prinz*essinnen als im Märchenbuch, aber dafür CEOs von Schokoladenfirmen oder Dating-Apps, stille Investor*innen, (Bollywood-)Schauspieler*innen mit Trust Fund, Datenanalyst*innen mit Trust Fund, Politiker*innen mit Trust Fund oder professionelle Baseballspieler. In 42 der 61 Liebesromane (= 69 %), die ich 2021 gelesen habe, war mindestens eine Protagonist*in (sehr) reich. Im echten Leben dagegen können nicht 69 % der Menschen reich sein, da „Reichtum“ sich im Verhältnis zu den leeren Konten der Mehrheit definiert.
Warum denken Verlage, dass wir Liebesgeschichten über reiche Leute lesen wollen? Haben sie Recht oder ist das eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Wir lieben, was sie uns anbieten, woraus sie wiederum schließen, dass wir mehr davon wollen?
Ein Grund für diesen auffälligen Reichtum ist, dass er Geschichten etwas Märchenhaftes verleiht. Das Subgenre über „echte“ Prinz*essinnen gibt es zwar auch, doch adelige Meet-Cutes sind auf Dauer eintönig. Das obere Prozent, der Adel des Kapitalismus, bringt Variation ins Spiel. Die sind von uns Leser*innen genauso weit entfernt wie Prinz*essinnen erfundener Kleinstaaten oder die Bridgertons.
Geld erfüllt ähnliche Funktionen wie Magie: Wer eine goldene Kreditkarte hat, braucht keine Fee, die Mäuse in Kutscher*innen, Lumpen in Ball-Outfits und Kürbisse in Transportmittel verwandelt. Die Besitzer*in dieser Karte kauft einfach eine Designer-Garderobe und eine Limousine. Viele Probleme, die in Märchen einen Zauberstab erfordern, können heutzutage durch eine Kombination von Geld und Technologie geklärt werden – insbesondere in Liebesromanen, wo beides im Überfluss vorhanden ist.
Außerdem trägt Geld zur romantischen Atmosphäre bei: Das Leben dieser Menschen, die das Wort Geldsorgen googeln müssten, ist komplett anders als unseres. Logischerweise gilt das auch für ihre Beziehungen – viel romantischer, viel lesenswerter als unsere. (Doch das stimmt nur am Anfang und Ende: Die Dramaturgie des Genres erfordert in der Mitte eine Katastrophe, die immer extrem stressig klingt. Wir sollten froh sein, wenn unsere Beziehungen nicht mal genug Stoff für eine Kurzgeschichte liefern.)
Reichtum und Klassenunterschiede schüren Konflikte – ich kann mich nur in mein Bodyguard verlieben, wenn ich einen habe. Wer wohlhabenden Partner*innen für immer abschwört, wird nur Hauptfigur eines Liebesromans, wenn sie*er sich in eine Person verliebt, die ihr Vermögen geheim hält. Eine Stolz-und-Vorteil-mäßige erste Begegnung kommt leichter zustande, wenn eine*r reich ist und die*der andere arm. So schafft Geld Machtunterschiede. Wenn in heterosexuellen Romanen die Frau mehr hat als der Mann, kann das ein interessanter feministischer Twist sein. Und eine Konfliktquelle: Sie hat einen Trust Fund, er eine krebskranke Mutter ohne Krankenversicherung und arbeitet deshalb als Escort.
Dann ist da noch das Leben im neoliberalen Kapitalismus. Geld ist eine Sprache, die wir alle verstehen müssen. Deswegen können Autor*innen damit vermittelen, dass eine Figur das Prinz*essinnen-Äquivalent sein soll. So wird sofort deutlich, warum wir uns für die Geschichte interessieren sollen.
Vielleicht wollen wir nichts über die Probleme lesen, die wir aus unserem Alltag kennen. Ein einfacher Weg, Figuren und damit ihre Probleme von uns Normalos abzuheben ist, sie zu CEOs zu machen, die unbedingt die Konkurrenz-Dating-App aufkaufen wollen. Außerdem hat wer nicht für Mindestlohn schuftet auch heute mehr Zeit für die Liebe und kann Energie in Romantik investieren. Mehr Geld bedeutet im Kapitalismus mehr Möglichkeiten, weshalb Menschen mit Ressourcen die handlungsfähigeren Romanfiguren sind.
Manchmal macht Geld die Story erst plausibel. Das gilt vor allem für historische Liebesromane: Zu Zeiten, als in England zwölfstündige Arbeitstage in Fabriken als kurz galten, Krankenversicherungen nicht existierten und der Hungertod auch in Europa keine Seltenheit war, hatten nur Reiche die Zeit und Energie, um sich zu verlieben. Alle anderen waren mit dem nackten Überleben beschäftigt, weshalb Romane über sie in heutigen Buchläden in anderen Regalen stehen.
Auch im 21. Jahrhundert ist Romantik, vor allem in Form von großen Gesten, mit mehr Geld einfacher: Ich kann nur spontan nach New York fliegen, um einem Schauspieler meine Liebe zu gestehen, wenn ich mir die Tickets leisten kann. Auch mit luxuriösen Geschenken kann ich nur überzeugen, wenn mein Kontostand das zulässt.
Möglicherweise spielen kulturelle Unterschiede eine Rolle: Viele Bücher, auf die meine These sich stützt, spielen in den USA. Echos des American Dream hallen durch die Seiten, obwohl längst bekannt ist, dass diese Erzählung nicht weniger märchenhaft ist als die von Dornröschen oder Schneewittchen. Vielleicht leben auch religiöse Elemente in diesen sekulären Texten fort, insbesondere die Doktrin des Wohlstandsevangeliums. Demnach ist Reichtum ein Beweis für die Gunst Gottes (diese Idee wird scharf kritisiert, aber gerade evangelikale Pastor*innen, die an ihren Gemeinden gut verdienen, halten daran fest). In Liebesromanen ist es nicht göttliche Gunst, sondern die perfekte Partner*in, die sich zum vollen Konto gesellt und beweist, dass die Figuren auserwählt sind – weswegen sie nicht nur Geld, sondern auch Liebesglück verdient haben.
Und wir? Wir haben Leseglück verdient. Das wächst, wenn wir den Reichtum der Figuren als genauso unrealistisch betrachten wie ihre Liebe auf den ersten Blick, die Liebesgeständnisse nach wenigen Tagen und die großen Gefühle, die komischerweise ohne Streit über dreckige Wäsche, Mental Load oder Haushaltskonten auskommen. Wir sollten diese Bücher lesen wie Fantasy: Genauso irrelevant wie die Frage, wann wir zaubern lernen, ist die, wann wir Milliardär*innen werden. Stattdessen sollten wir uns, wenn wir uns mit einem Liebesroman von einer harten Woche erholt haben, überlegen, wie wir eine Welt aufbauen können, in der alle haben, was sie brauchen. Damit wir irgendwann Liebesromane lesen können, in denen Geld keine Rolle spielt.
PS: Buchempfehlungen für romantische Winterabende: Diversity ohne Diäten, neurodiverse Romantik, Sufragetten studieren in den 1880ern in Oxford (Band 3 ist sogar intersektional), Cinderella als dick_fette Schuhdesignerin bei einer Datingshow, Schauspieler*innen schreiben Fanfiction, ein nordischer Prinz und eine Schwarze Frau, Indisch-amerikanische Jane-Austen-Nacherzählungen im 21. Jahrhundert, Bodyguard + Investorin/Ex-Model, queerer Eiskunstlauf, Teenager flirten besser.
PPS: Ein Tipp, wenn ihr mehr lesen wollt: