Wie viel Gesundheitsarbeit habt ihr heute schon geleistet? Damit meine ich nicht Lohnarbeit, die zufällig im Gesundheitswesen stattfindet, sondern die Arbeit an eurer eigenen Gesundheit. Ich habe beim Zähneputzen meine Waden gedehnt und Kräftigungsübungen gemacht. Ich stand beim Abwasch auf einem Bein, um meine Fußstabilität zu trainieren. Habe meine Waden zwanzigmal über eine Faszienrolle gerollt, vor und nach dem Sport. Voltaren auf meine Achillessehne geschmiert und Frischhaltefolie drumgewickelt, damit es möglichst lange wirkt. Beim Sport meine Bandage getragen und auf achillessehnenbelastende Übungen verzichtet. Sport musste sein, um meine Stimmung zu regulieren und zur Erhaltung der Arm- und Schultermuskeln, die meine Handgelenksprobleme verringern. Fürs Tippen habe ich meine Handgelenke mit in Scheiben geschnittenem Heizungsrohrisolationsmaterial in eine ergonomische Position gebracht. Diese grauen Schaumstoffdinger habe ich in jeder Tasche, jedem Rucksack, auf dem Schreibtisch und dem Sofatisch. Beim Schreiben von Hand benutze ich einen Füller und lege ein keilförmiges Stück Schaumstoff unter meinen Unterarm, wieder für die Ergonomie. Ich schlafe mit Handbandagen. Ich mache täglich 15 Minuten Ergotherapie. Mein eReader ist im Linkshändermodus, damit die rechte Hand entlastet wird.
Ich mache das seit Jahren. Schuhe ohne Fersenpolster zu tragen, käme mir absurd vor; Heizungsrohrisolationsmaterial-Scheibchen gehören enger zu meinem Laptop als das Ladekabel. Natürlich kann ich mich an Zeiten erinnern, in denen das nicht nötig war, doch diese Erinnerung verblasst zunehmend. Ob ich mir eine Zukunft ohne diese Accessoires vorstellen kann, weiß ich nicht. Doch das ist egal; ich habe mich an sie gewöhnt. Deshalb habe ich Jahre gebraucht, um zu merken, wie viel Arbeit das alles ist. Ich muss jeden Tag über Dinge nachdenken, die für viele von euch kein Thema sind. Wöchentlich verbringe ich allein 2,5 Stunden mit diesen Übungen, zusätzlich zu Yoga und Sport.
Gesundheit ist Arbeit. Nicht für alle – manche Menschen sind einfach gesund, so wie andere immer toll aussehen und wieder andere „einfach“ Geld haben, weil ihre Eltern reich sind. Doch spätestens wenn die Gesundheit weg ist, beginnt die Arbeit. Arbeitsdefinitionen gibt es viele – Wikipedia zu Arbeit (sozialwissenschaftlich) sagt es sei „eine besondere Form der Tätigkeit, dient dem Lebenserhalt“ und schließt somit auch den Gesundheitserhalt mit ein. In der Mechanik ist Arbeit der Unterschied in der Energie eines Systems – meine wird dadurch jedenfalls immer weniger. Oder auch meine persönliche Definition: Zeit, die ich lieber anders verbringen würde. Geld taucht in keiner dieser Definitionen auf, denn nur weil wir im Kapitalismus leben, wird noch lange nicht jede Arbeit vergütet. Würde meine Gesundheitsarbeit bezahlt, wäre sie sichtbar und ich hätte nicht Jahre gebraucht, um sie als Arbeit zu erkennen. Krankheit ist eben doch nicht nur Rumliegen-und-warten-bis-es-besser-wird.
Unter Gesundheitsarbeit fällt unglaublich viel: Termine bei Ärzt*innen und Therapeut*innen vereinbaren und wahrnehmen, Hilfsmittel besorgen, Übungen aus der Therapie in den Alltag integrieren, herausfinden, welche Strategien funktionieren und welche nicht, gegebenenfalls neue finden und ausprobieren… Viel dieser Arbeit ist geistig und dadurch noch unsichtbarer. Mit „geistig“ meine ich die mentale Koordination, die ein Leben mit mangelhafter Gesundheit erfordert: Bieten diese Schuhe ausreichend Unterstützung für meine Achillessehne? Kann ich heute zur Bahn laufen oder sollte ich ein Taxi nehmen? Muss ich zum Radfahren meine Bandage tragen? Kann ich heute spazieren gehen? Wann mache ich meine Übungen? Kann ich Quiche-Teig kneten, obwohl ich meine Handgelenke schon mit Computerarbeit strapaziert habe?
Nur weil wir krank sind, verschwinden unsere anderen Verpflichtungen nicht – Lohnarbeit, Haushalt, Steuererklärung scheren sich bekanntlich wenig um unseren Gesundheitszustand. Zusätzlich zur Arbeit am spezifischen gesundheitlichen Problem können auch diese Dinge krankheitsbedingt länger dauern und so zu Mehrarbeit werden. Vielleicht sind wir nicht gut zu Fuß, stehen im Haushalt wegen Gelenkbeschwerden vor ungeahnten Herausforderungen oder müssen aufgrund einer psychischen Erkrankung für alles viel zu viel Kraft aufwenden. So wird der Alltag zum Mount Everest. Ohne Sauerstoff.
Um weiterzuleben müssen wir emotional mit diesen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten klarzukommen. Auch das ist bei jeder schweren, chronischen oder unklaren Erkrankung Arbeit. Freund*innen können dabei helfen, aber gerade am Anfang oder bei Rückfällen fühlen wir uns oft unglaublich allein.
Viel dieser Arbeit müssen wir selbst leisten. Gedanken sortieren und mit Einschränkungen leben lernen kann Wochen, Monate oder gar Jahre dauern. Meine Übungen nehmen pro Tag mindestens 20 Minuten in Anspruch, an Tagen mit Physio-Terminen summiert der Zeitaufwand sich auf über eine Stunde. Andere Aufgaben, wie die Terminvereinbarungen oder Ausflüge zur Apotheke, könnten theoretisch an andere ausgelagert werden. Doch dies zu organisieren ist wieder Arbeit, vor allem, wenn wir nicht mit Partner*innen zusammenleben, die diese Unterstützung automatisch übernehmen „müssen.“ Um Hilfe bitten ist ein komplizierter Prozess: Ich muss das Problem identifizieren und mir eine mögliche Lösung einfallen lassen. Dann muss ich mir überlegen, wen ich fragen kann: Wer hat die nötigen Skills, die nötige Zeit, zu wem ist die Beziehung eng genug, dass die Person nicht nein sagt? Von wem habe ich in letzter Zeit schon viel gefordert? Jetzt erst kommt die eigentliche Bitte, Ausgang ungewiss.
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Im Medizinstudium wurde Gesundheitsarbeit nicht erwähnt, obwohl es uns auf einen Beruf vorbereiten soll, in dem wir täglich mit Menschen zu tun haben, die diese Arbeit leisten müssen. Ohne dieses Puzzleteil kann unser Umgang mit Betroffenen jedoch kaum funktionieren. Das ist, als würden wir einen Laptop benutzen, ohne ihn zu laden und uns wundern, wenn er nach einem halben Tag ausbrennt.
Ich habe diese Arbeit jahrelang geleistet, ohne sie benennen zu können. Überhaupt wurden erst durch meine politische Beschäftigung mit Arbeit viele Formen davon sichtbar. Zum Beispiel die emotionale Arbeit, wenn wir zum zehnten Mal mit einer Freund*in Beziehungsprobleme wiederkäuen, die eigentlich eine Therapeut*in regeln sollte, oder die Mental Load, wenn wir als Familien-CEO die Arbeit der anderen Haushaltsmitglieder organisieren. Oder eben die (geistige) Arbeit des Krankseins. Als der Achillessehnenscheiß vor sechs Jahren begann, hätte ich meine Strategien noch nicht als Arbeit erkannt.
Eigentlich hat erst dieser Text diesen Erkenntnisprozess (halbwegs) abgeschlossen: Der erste Entwurf vom Herbst 2019 (!) handelte davon, wie lange der Kopf braucht, um sich von der geistigen Arbeit des Krankseins zu erholen, nachdem meine Beschwerden sich gebessert hatten. Bei der dritten Überarbeitung merkte ich, dass das Quatsch war: Meine Beschwerden waren trotz Besserung noch da. Deshalb leistete ich weiterhin geistige Gesundheitsarbeit. Dass diese Arbeit mir erst auffiel, als die Symptome besser wurden, sagt nichts über „Heilung“ im Kopf. Vielmehr hatte ich eine Routine entwickelt, durch die im Gehirn Platz für diese Erkenntnis frei wurde. Dann verschlechterten die Symptome sich wieder und ich musste mehr Übungen machen und Termine wahrnehmen. Wodurch ich merkte, dass es sich nicht bloß um geistige Arbeit handelt, sondern generell um Arbeit, die durchs Kranksein oder die Prävention von Krankheiten entsteht.
Gleichzeitig schätze ich mich jeden Tag glücklich, dass ich diese Arbeit überhaupt leisten kann. Dass ich materiell abgesichert bin und deshalb nicht die geistige Arbeit leisten muss, die mit Armut und Prekarität einhergeht. Dass ich die Termine nur wahrnehmen muss, ohne mich zu fragen, wie zur Hölle ich dafür bezahlen soll. Dass ich ausreichend Zeit für Ergotherapie und mein Sportprogramm habe. Dass „nur“ mein Körper eingeschränkt ist, mein Geist also – zumindest meistens, zumindest theoretisch – in der Lage ist, diese Arbeit zu leisten. Das wäre bei psychischen Erkrankungen oder bei stärkeren Schmerzen deutlich schwieriger. Sodass wir es hier mit einem Best-Case-Scenario zu tun haben, auch wenn es sich nicht so anfühlt.
Wir müssen mehr über Gesundheitsarbeit sprechen, damit Betroffene nicht Jahre brauchen, um sie zu erkennen: Wenn wir wüssten, dass Arbeit dazugehört, wie viel dieser Arbeit geistig ist, würden wir uns nicht wundern, wenn abends der Kopf brummt. Wir müssen uns besser vernetzen, um von der geistigen Arbeit anderer zu lernen, anstatt tausendfach das Rad neu zu erfinden.1
Doch Vernetzung allein reicht nicht – ihr wisst längst, dass dieser Newsletter niemals neoliberal den Betroffenen die Problemlösung überlassen wird. Medizinisches Personal muss verstehen, wie viel Arbeit Patient*innen leisten. Dass sie eben NICHT passiv darauf warten, behandelt zu werden, sondern dass sie Expert*innen für den Alltag mit ihrer Erkrankung sind. Das ist eine Frage der Empathie: Nicht nur Gesundheitsarbeiter*innen haben ein anstrengendes Leben. Es muss unsere Aufgabe sein, Betroffene – gerade bei neuen Symptomen oder Diagnosen! – über diese Arbeit aufzuklären. So haben sie wenigstens eine Ahnung, was auf sie zukommt. Und sie bekommen ein Argument für ihre Bitten um Hilfe: „Die Ärzt*in hat gesagt, dass Krankheit Arbeit ist!“
Nur weil ihr nicht krank seid oder im Gesundheitssystem arbeitet, heißt das nicht, dass dieser Text nichts mit euch zu tun hat. Wir alle müssen Betroffenen empathischer gegenübertreten. Wenn ihr nicht wisst, wen ich meine, habt ihr euren Freund*innen in den letzten Jahren nicht zugehört. Gesundheit und Nichtbehinderung sind temporäre Zustände – selbst wenn ihr oder euer Umfeld nicht betroffen seid, wird sich das ändern. Und dann werden alle Beteiligten davon profitieren, dass ihr schon mal über Gesundheitsarbeit nachgedacht habt. Oder noch besser, darüber wie ihr Freund*innen einen Teil davon abnehmen könnt: Könnt ihr euch durch Foren klicken und die besten Tipps für das Leben mit Erkrankung X zusammenstellen? Die besten Selbsthilfegruppen und Spezialist*innen in eurer Region für Erkrankung Y recherchieren? Einen Preisvergleich der besten Gadgets für das Leben mit Erkrankung Z aufstellen? Könnt ihr andere Arbeiten übernehmen – einkaufen, zur Apotheke gehen, die Wohnung putzen, den angefangen Pullover fertig stricken? Wenn ihr nicht wisst, wie ihr helfen könnt: Fragt nach. Macht Vorschläge, um zu zeigen, dass das keine höfliches Floskel ist. Die meisten Betroffenen wissen, was ihnen das Leben erleichtern würde, aber es ist oft verdammt schwierig, darum zu bitten. Schafft im Kleinen die Welt, in der ihr leben wollt, wenn auch eure Gesundheit euch im Stich lässt.
Leitet diesen Text an einen Lieblingsmenschen weiter – mit einem Vorschlag, wie ihr sie*ihn in Zukunft unterstützen werdet.
Lektorat: Katharina Pusch
Schreibt mir, wenn ihr Probleme mit der Achillessehne oder den Handgelenken habt, meine Trickkiste ist gigantisch!