#26: Gemeinschaft und Perfektionismus
Was ich durch diesen Newsletter im ersten Jahr gelernt habe
Wir haben 2020 fast überstanden und obwohl dieses Jahr war, wie es war, möchte ich euch einladen, es mit einer positiven Note zu beenden: Worauf seid ihr 2020 stolz? Es muss nichts großes sein, einfach überleben reicht. Aber vielleicht seid ihr zusätzlich stolz auf den Beschluss, dass Jogginghosen angemessene Kleidung sind (ich tippe diesen Satz in derselben). Oder darauf, dass ihr eure Kinder trotz Schul- und Kitaschließungen nicht umgebracht habt (hätte ich welche, wäre das der erste Punkt auf meiner Liste). Vielleicht habt ihr trotz Pandemie ein wichtiges Projekt vorangetrieben oder gar abgeschlossen – auch auf große Dinge dürfen wir stolz sein, wohl aber in dem Wissen, dass es pures Glück war, dass die Pandemie ausgerechnet dieses Projekt nicht vereitelt hat. Vielleicht fällt euch nichts ein, aber wir haben alle irgendwie gelernt, mit dem Virus umzugehen, auch wenn es sich nicht so anfühlt: Wir haben weniger geplant, schwierige Entscheidungen getroffen, uns an Masken gewöhnt und hoffentlich niemanden angesteckt. Darauf können wir auf alle Fälle stolz sein.
Ich bin dieses Jahr stolz auf diese Kolumne. Darauf, dass ich heute die 26. Ausgabe verschicke. (Darüber, ob jeder zweite Sonntag wirklich „fast jeder“ ist, lässt sich sicherlich streiten, aber das ändert nichts an meinem Stolz). Durch das Schreiben – und von euch – habe ich sehr viel gelernt. Da ich dieses Jahr elf von 26 Kolumnen über die Pandemie geschrieben habe (eigentlich eine überraschend niedrige Quote), wird auch diese Reflektion sich in diesem Rahmen bewegen. Aber dann bringt sie euch mehr, denn ich weiß nicht, wie viele von euch eine E-Mail-Kolumne haben (her mit den Links!), aber in der Pandemie leben wir schließlich alle.
Durch das viele Schreiben bin ich – Überraschung! – besser darin geworden. Kürzlich überarbeitete ich einen Entwurf, den ich im Januar als „fast fertig“ betrachtete; es wäre fast die erste Ausgabe von Fast jeden Sonntag geworden. Ich war schockiert und änderte den Text grundlegend. Das Ergebnis landete Ende November in eurer Mailbox. Es ist extrem befriedigend zu sehen, dass mein neues System von Planung-Schreiben-Überarbeiten funktioniert. „Übung macht die Meister*in“ ist natürlich keine neue Erkenntnis, aber gerade Klischees, die wir seit der Grundschule kennen, vergessen wir gern. Wenn andere uns daran erinnern, sagen wir „Ja, ja, blabla, ich weiß.“ Setzen wir die Lektion zufällig um, sind wir von ihren positiven Effekten geflasht. Vielleicht ist Händewaschen ein Klischee, dessen Wahrheit dieses Jahr sehr klar geworden ist. Außerdem haben wir wie bereits erwähnt dieses Jahr gelernt, mit der Pandemie zu leben. Ich glaube nicht, dass es nur ein passives Darangewöhnen war. Wir haben Strategien gefunden, uns über das Virus und diverse Videotelefonie-Plattformen informiert, neue soziale Codes bezügliche Hygiene entwickelt und so weiter. Obwohl die Fallzahlen höher denn je sind, kommen wir besser damit zurecht als im März. Und nein, das lässt sich nicht allein durch Abstumpfung erklären, sondern auch durch Übung mit dem Dasein in der Pandemie.
Die Sonntagsdeadline hat mir außerdem geholfen, meinen Perfektionismus zu bändigen. Wenn die fünfte Überarbeitung nur noch wenige Worte verändert hat, habe ich mich gezwungen, sie abzuschicken. Zitat meines Gehirns: „Scheiß drauf, weg damit!“ Das Feedback „Also Sofia, heute war die Kolumne aber nicht perfekt!“ kam trotzdem nie. Was nicht heißen soll, dass die Kolumnen perfekt waren, sondern dass ihr sie daran nie gemessen habt. Hätte ich nur „perfekte“ Kolumnen verschickt, wäre euer Postfach leer geblieben. Möglicherweise äußert euer Perfektionismus sich eher im Haushalt, in der Uni oder auf der Arbeit, aber wenn ihr euch angesprochen fühlt, lade ich euch dazu ein, auch mal „Scheiß drauf!“ zu sagen. Vielleicht reicht alle zwei Wochen saugen. Oder ihr hebt euch die aufwändigen Gerichte fürs Wochenende auf. Schickt die Präsentation/Hausarbeit/etc. ab, wenn sie gut genug ist und werkelt nicht weiter daran rum; realistischerweise wird sie genau wie diese Kolumnen niemals perfekt werden. Gerade zu Pandemiezeiten sollten wir behutsam mit uns sein – das hier ist trotz aller Übung stressig genug, wir müssen mit deplaziertem Perfektionismus nicht noch einen drauflegen.
Eine sehr wichtige Lektion für mich war das Ignorieren der Zahlen. Die Abonnent*innen werden zwar langsam mehr, aber nach Internetmaßstäben sind es weiterhin lachhaft wenige. Doch vor dieser Kolumne hatte ich null Leser*innen, weshalb jede Abonennt*in ein Erfolg ist. Allerdings ich habe diese Kolumne auch kaum beworben (ein Tweet die Woche für 15 Follower*innen zählt wahrscheinlich nicht??), sondern mich aufs Schreiben konzentriert. Darin liegt die auf die Pandemie und das Leben im allgemeinen übertragbare Lektion: Konzentrier dich auf das Wichtige. Diese Kolumne gibt es, damit ich sie schreibe, nicht damit sie besonders viele Abonnent*innen sammelt. Viel sinnvoller ist es, das Ego zur Seite zu schieben und beeinflussbare Ziele zu setzen: Heute habe ich offiziell jeden zweiten Sonntag eine Kolumne verschickt. Darauf hatte ich deutlich mehr Einfluss als auf die Zahl der Abonnent*innen. Ähnliches gilt für Ziele in der Pandemie: „An fünf Abenden die Woche meditieren“ ist beeinflussbar und somit erreichbarer als „Weltreise 2021“. Dazu gehören auch andere, bessere Maßstäbe für Erfolg: Dieses Jahr war für Fast jeden Sonntag erfolgreich, weil ich 26 lesbare Texte produziert habe, nicht weil diese Texte sich besonders viral verbreitet hätten. Erfolge in der Pandemie könnten also sein, wie oft wir Freund*innen angerufen haben, dass wir X neue Rezepte ausprobiert haben, eine Sportroutine für zu Hause gefunden haben, usw. Erfolgsindikatoren von 2019 wie Reisen, Beförderungen oder Geld sind dieses Jahr dagegen einfach nur Mist. (Das waren sie ehrlicherweise vorher auch schon.)
Ohne euch hätte ich dieses Jahr niemals 26 mehr oder weniger „fertige“ Texte geschrieben. Ich schreibe mehr, wenn ich es verschicke – auch wenn es „nur“ eine von mir selbst initiierte E-Mail-Kolumne ohne offizielle Deadlines ist. Außerdem musste ich nach dieser Kolumne mehr auf Demos gehen, damit ich mir nicht heuchlerisch vorkomme. So habe ich mich dazu gezwungen, etwas zu tun, was mir sehr wichtig ist, aber wofür ich manchmal zu faul bin. Gleiches gilt fürs Schreiben: Wenn andere es auch von mir erwarten, ist es leichter, meinen eigenen Erwartungen gerecht zu werden. Auch das ist keine neue Erkenntnis, doch sie lässt sich auf alle Bereich des Lebens übertragen: Pandemie-Sport zu Hause klappt nicht? Verabredet euch über Zoom oder schickt euch (oder mir!) danach verschwitzte Beweis-Selfies. Ihr findet einfach keine Zeit für euer Herzensprojekt? Ihr seid damit nicht allein, tut euch zusammen, berichtet euch von eurem Fortschritt, motiviert euch gegenseitig… oder startet eine E-Mail-Kolumne ;) Helft einander dabei, ein kleines bisschen zufriedener zu werden und helft auch mir, meinen Kolumnen-Vorsatz 2021 zu realisieren: Kolumnen an zwei von drei Sonntagen (das sind 35 E-Mails).
Was ich nicht erwartet hätte, ist dass ihr durch die Kolumnen das Gefühl habt, mit mir im Kontakt zu sein. Das fand ich zunächst komisch, aber natürlich bekommt ihr mit, was mich beschäftigt, auch wenn die Texte keine persönlichen Updates im engeren Sinne sind. Das ist allerdings einseitig, weshalb ich hier nochmal sagen möchte: Ich freue mich auch über Updates von euch! Der Akt des Schreibens mag einsam sein, doch ohne Gemeinschaft funktioniert es trotzdem nicht. Seitdem ich für euch schreibe, schreibe ich anders, schreibe ich mehr, schreibe ich lieber. Das ist eigentlich die Hauptlektion aus diesem Schreibjahr und diesem Pandemiejahr: Wir schaffen das nur zusammen.
Eine weitere Lektion über Gemeinschaft ist, dass Feedback wirklich sehr hilft – zumal bisher nur positives kam, aber konstruktiv-kritisches wäre natürlich auch sehr willkommen! Das soll kein Fishing for Compliments sein, sondern ein Auftrag, darüber nachzudenken, wem ihr durch positives oder konstruktives Feedback helfen könntet: Eurer Freund*in, die in letzter Zeit so coole Sachen bei Instagram postet? Der Partner*in, durch deren Kochkünste kaum auffällt, dass die Restaurants geschlossen sind? Der Fremden bei Twitter, deren politische Analysen euch jedes Mal weiterbringen? Eurer Nachbar*in, die so schön Klavier spielt? Eine kurze Nachricht bedeutet kaum Aufwand, aber könnte den anderen den Tag retten. Und das brauchen wir zur Zeit mehr denn je. Deswegen möchte ich euch noch einmal für das erste gemeinsame Jahr danken. Ohne euch wäre Fast jeden Sonntag möglicherweise nach ein paar Monaten sang- und klanglos eingeschlafen. Das Gegenteil ist passiert, durch euch bezeichne ich mich jetzt sogar als Autorin! Hoffentlich kann ich euch 2020 ein letztes Mal inspirieren und damit komme ich zu meiner Eingangsfrage zurück: Worauf seid ihr dieses Jahr stolz? Dieses Jahr lag der Fokus verständlicherweise auf allem, was nicht möglich war. Ich möchte euch dazu einladen, diese Sichtweise wenigstens für ein paar Minuten umzudrehen. Deswegen ist eure Hausaufgabe für euren nächsten Spaziergang eine mentale Liste zu erstellen: Mit den großen und kleinen Dingen, die ihr dieses Jahr geschafft habt. Und wenn ihr mit Ausschnitten davon auf diese Mail antworten wollt, würde ich mich sehr darüber freuen.
Schickt diesen Text an eine Person, die dieses Jahr allen Grund hat, stolz zu sein.