#43: Jenseits des weiß-männlich-toten Kanons
Persönliche Lesehistorie und ein Hack für ein besseres Leben.
Ich lese kaum noch Bücher von Männern und ihr solltet es auch lassen. Die literaturwissenschaftliche Begründung dafür liefert Nicole Seifert im wundervollen Buch Frauenliteratur. Sie beschreibt, wie so genannte Frauenliteratur „abgewertet, vergessen [und] wiederentdeckt“ wurde und wird: Warum FLINTA-Autorinnen
so selten im Kanon auftauchen, wie sie die Welt durch eine andere Brille beschreiben, warum Verrisse ihrer Werke schnell persönlich werden (Spoiler: Misogynie) und warum das Fehlen von FLINTA-Autorinnen nicht auf Qualitätsstandards des Literaturbetriebs zurückzuführen ist, denn die spielen bei der Auswahl von Männern auch eine geringere Rolle als allgemein vermutet. Lest dieses Buch, Seifert begründet darin etwas, das ich lange nur geahnt habe.Seit August 2014 führe ich eine Liste mit gelesenen Büchern. Ich musste schnell feststellen, dass 82 % der Autor*innen männlich waren. Das lag daran, dass ich nicht aufs Geschlecht geachtet hatte und mich durch den Kanon las. Nach anderthalb Jahren Beobachtung beschloss ich, FLINTA-Autorinnen zu priorisieren.
Im Erasmus entdeckte ich Bibliotheken neu, so wurde mein Lesen mutiger und zeitgenössischer, da mir Hardcover kostenlos zur Verfügung standen. Außerdem las ich mehr feministische Bücher, unter anderen von Margarete Stokowski und Laurie Penny. FLINTA-Anteil: 63 %. 2017 entdeckte ich feministische Science Fiction (Octavia E. Butler, Suzette Haden Elgin) und zeitgenössische Lieblingsautorinnen wie Elena Ferrante, Rachel Cusk und Lionel Shriver.
Spaß wurde langsam wichtiger als der Kanon. FLINTA-Anteil: 87 %. 2018 zogen Bücher über Antirassismus, Carearbeit, und philosophische Aspekte von Gesundheit und Krankheit in mein Regal. FLINTA-Anteil: 91 %.2019 kamen Bücher übers Schreiben hinzu, u.a. von Marlene Streeruwitz, Terézia Mora und Anne Lamott. Ich bewegte mich selbstverständlich zwischen Jugendliteratur, Liebesromanen und soziologischen und philosophischen Texten wie von Eva Illouz und Kate Manne, all das mit 89 % FLINTA-Anteil. 2020 wagte ich mich an feministische Fantasy wie die von N.K. Jemisin. Meine Liebe zu Essays war schon in vorherigen Jahren gekeimt, aber nun wurden sie durch Jia Tolentino, Katja Eichinger, Samantha Irby, Rebecca Solnit und Tressie McMillan Cottom zu einer meiner liebsten Formen. FLINTA-Anteil: 93 %. Dieses Jahr setzen diese Trends sich fort, nur dass ich mir noch mehr Raum für Spaß gebe (ich empfehle feministische Liebesromane von Elizabeth Everett und Kate Davies, und Fantasy von Noemi Novik, Samantha Shannon und Leigh Bardugo). Der Kanon ist kein Beweis, dass wir lesen können; die Welt braucht keine weiteren Personen, die behaupten, sie hätten Infinite Jest verstanden.
Das Leben ist schöner und bunter, seit ich mehr FLINTA-Autorinnen lese (das ist der versprochene Hack). Erstens lese ich seitdem wesentlich mehr (s. grafische Darstellung der absoluten Zahlen) – und das liegt nicht daran, dass ich mehr Zeit oder weniger Sorgen als 2014/15 hätte. Doch seit ich den Kanon nicht mehr mit meiner Leseliste verwechsele, macht Lesen mehr Spaß. Wahrscheinlich gibt es auch im Kanon spaßige Bücher (fragt jetzt bitte nicht nach Beispielen), aber das ist Zufall – Lesespaß ist in der Regel kein Auswahlkriterium.
In meinen Kanonjahren bemerkte ich nicht, dass ich dort nicht vorgesehen war. Mir fiel nicht auf, dass FLINTA meist nur als Statistinnen und Projektionsflächen für Sexismus auftauchten. Dass eine patriarchale Gesellschaft patriarchale Bücher pusht, ist natürlich keine Überraschung. Doch wer diese Strukturen noch nicht sieht, kann die Norm der männlichen Perspektive nicht hinterfragen. Erst das Protokoll meines Leseverhaltens beleuchtete diese Einseitigkeit. Durch den Fokus auf FLINTA-Autorinnen weiß ich jetzt, dass auch ich einen Platz in der Literatur habe. Nur dadurch konnte sie ein noch wichtigerer Teil meines Lebens werden.
Der Beginn meines „ernsthaften“ Schreibens steht in einem engen Zusammenhang zum steigenden FLINTA-Anteil: Diese Bücher haben mir gezeigt, dass eine Person wie ich doch etwas zu sagen haben könnte. Es ist nur folgerichtig, dass das mir genug Selbstbewusstsein gab, ein Word-Dokument mit „Roman“ zu betiteln. Auch meine Liebe zu Essays führte zur Geburt dieses Newsletters – dankt also den oben genannten Autorinnen für diese Mail.
Auch meine Politisierung wurde von FLINTA-Autorinnen geprägt und vorangetrieben. Das liegt daran, dass ich mir immer ein Buch suche, wenn ich etwas nicht verstehe. Doch auch wenn ihr nicht so tickt, sind Bücher eine sinnvolle Ergänzung und Vertiefung zu politischer Arbeit und Wählen gehen (nächste Woche! Just do it! #noafd). Sarah Jaffe, Audre Lorde, Gabriele Winker, Silvia Federici, Mona Chollet, Mithu Sanyal und viele andere zeigten mir, warum ich zum Plenum oder zur Demo gehen musste, egal wie müde ich war. Denn ohne uns werden die Anderen die Welt verändern und die aktuelle Demoversion davon ist beängstigend genug.
Nun suche ich jenseits weiß-männlich-toten Kanonperspektive bewusst Autor*innen of Color und andere, deren Lebenssituationen und Perspektiven sich stark von meiner unterscheiden und die im Kanon unterrepräsentiert sind. Zu lesen, wie andere die Welt sehen und erleben, macht uns zu besseren, empathischeren Menschen, dessen bin ich mir ganz sicher. Ihr könntet zum Beispiel mit Sharon Dodua Otoo, Zakiya Dalila Harris, Toni Morrison, Alice Walker, Leone Ross, Ashley C. Ford und Roxane Gay anfangen.
Übrigens lese ich, wenn es gute Gründe dafür gibt, ab und zu ein Buch von einem Mann. Dieses Jahr waren es schon sechs, was laut einer Forsa-Umfrage von 2015 mehr ist als 53 % der Bundesbürger*innen im ganzen Jahr schaffen (Instagram dürfte diese Situation nicht verbessert haben). Nur falls irgendein Quatschkopf mir vorwerfen will, Männer zu diskriminieren (Seifert erklärt auf den Seiten 166-170, warum das nicht stimmt). Ich habe also in all den Jahren möglicherweise mehr Männer gelesen als ihr.
Wer sind eure liebsten FLINTA-Autorinnen?
Ich lasse in diesem Text das Sternchen weg, damit Männer keinesfalls denken, sie seien mitgemeint.
In diesem Text tauchen absichtlich so viele Namen auf, um die Behauptung, es gäbe keine FLINTA-Autorinnen, von vorne herein zu entkräften.