Die Sonne scheint und der Himmel ist so blau, wie es sich in Südfrankreich gehört. Ein Lüftchen weht Zigarettenrauch, Kaffeeduft und Motorrollerabgase zu mir. Französisch sprechende Kinder gleiten auf Tretrollern über die Place Opéra, Jugendliche kicken einen orangen Ball hin und her. Zwei Polizistinnen und ein Polizist patrouillieren über den Platz; unter ihren kugelsicheren Westen muss es schweineheiß sein. Gelegentlich höre ich ein Martinshorn. Die Stimmung in Marseille ist festlich aufgeladen, denn bald wird die französische Rugby-Nationalmannschaft hier eins ihrer Vorrundenspiele der Rugby-WM gewinnen.
Ich bin genau in der Mitte meines dreiwöchigen Urlaubs. Es wäre der perfekte Moment für ein bisschen Ruhe. Doch statt nichts zu tun, schreibe ich diesen Text. Immerhin von Hand; mein Notizheft trägt den Titel „Gedanken – für die Stürme im Kopf.“ Ich rede mir ein, das sei ok, vielleicht sogar ein gutes Zeichen, denn zum Schreiben brauche ich schließlich auch Ruhe. In Paris wollte ich in einem Café schreiben und so tun, als sei ich Simone de Beauvoir, aber hatte vor lauter Sightseeing und Peoplewatching keine Zeit dafür. Im TGV von Paris nach Marseille habe ich den Anhang meiner Doktorarbeit überarbeitet, um nach dem Urlaub mehr Zeit zum Schreiben zu haben.
Vor einem Jahr habe ich beschlossen, mein Leben zu verlangsamen. Zwei Therapeut*innen sagten mir in Probesitzungen: „Sie rennen durchs Leben.“ Die Schmerzen meiner Achillessehne, für die es trotz jahrelanger Suche keine organische Erklärung gab, seien ein Hinweis darauf, dass ich mich bremsen müsse.
Auf diese Idee war ich in sieben Jahren Schmerzen nicht gekommen. Und dann wurde sie von gleich zwei unabhängigen Quellen innerhalb von Minuten diagnostiziert.
Stehen bleiben.
Nicht mehr rennen.
Langsamer leben.
Klang toll. Aber die Therapeutin wollte mir nicht sagen, wie ich das anstellen sollte, weil ich zu viel im Außen nach Lösungen suchte anstatt in mir selbst. Also füllte ich in den folgenden Monaten mehr Tagebuchseiten als in den drei Jahren zuvor. Dort suchte ich nach den „inneren Räumen,“ von denen die Therapeutin gesprochen hatte. Dabei kamen mehr Fragen als Antworten zusammen: Wie langsamer werden, wie weniger machen? Wie geht ein Leben ohne Pläne und To-Do-Listen? Ist das überhaupt ein Leben? Wo finde ich Zeit zum Nichtstun? Wie tue ich nichts? Wie kann ich auf meinen Körper hören, statt wegzurennen?
Ich fand einen Namen für das Projekt, für meine – hoffentlich – neue Lebensweise: Slowing Down. Das klang irgendwie schön, modern und achtsam; es ließ sich gut mantraartig wiederholen. Es war ein spezifischer Name, denn mein neues bewusstes Leben sollte sich auch linguistisch von langsamem Radfahren oder ähnlichem unterscheiden. Zumal das deutsche Langsam für mich einen leicht negativen Beigeschmack hat, vielleicht weil ich bei den Bundesjugendspielen immer eine der letzten war. Das englische Slow hingegen klingt intentional, minimalistisch und instagrammable.
Und tatsächlich wurde ich langsamer: Ich gab mir die Erlaubnis, weniger zu schaffen. Löschte Instagram und Twitter. Strich Dinge ersatzlos von der To-Do-Liste, statt sie auf die nächste Liste zu verschieben. Ich trank Kaffee ohne Buch oder Handy, frühstückte ohne Ablenkungen. Sah aus dem Fenster, atmete und ließ mich mit meinen Gedanken treiben. Ich kam endlich zur Ruhe. Plötzlich war alles angenehmer, selbst die Arbeit an der Dissertation, obwohl die mir offiziell zum Hals raushing. Über allem schwebte die Frage: Warum brauchte ich die Erlaubnis von außen, von einer Therapeutin, um mein Leben langsamer anzugehen?
Dann begann mein nächster Job: neue Praxis, neues Fachgebiet, neue Krankheitsbilder, neues Computerprogramm, neue Kolleg*innen, neue Patient*innen. Ich weiß nicht, wie viel Balance und Entschleunigung ich mitnehmen konnte. Nach einem halben Jahr war ich gut eingearbeitet – das hätte der Moment zum Durchatmen sein sollen. Doch meine Arbeit verdichtete sich durch ein neues Terminplanungssystem stark; an manchen Tagen behandelte ich fast 40 Patient*innen. Dann hieß es neun Stunden lang go-go-go. Ich wurde immer schneller, erkannte das Problem schon nach wenigen Sätzen und meine orthopädische Untersuchung verlief immer geschmierter. Ein neues Fachgebiet zu meistern und meine klinische Erfahrung weiterzuentwickeln war sehr befriedigend und ich bekam viel positives Feedback. Aber wie sollte ich bei so einem Arbeitstempo nach Feierabend bremsen?
Mein Rucksack riecht nach Lavendel, denn ich habe mich auf einem provenzalischen Markt mit Säckchen für den Kleiderschrank und Pflegeöl eingedeckt. Die Lavendelwolke folgte mir zum nächsten Gemüsestand und ich wünsche, ich könnte jede Woche auf so einen duftenden Markt gehen. Dann sitze ich endlich schreibend in einem französischen Café und tue so, als sei ich Simone de Beauvoir. Morgen um diese Zeit werde ich im TGV Richtung Deutschland sausen.
„Je vais très, très bien,“ sagt die junge Frau am Nebentisch in ihr iPhone. „Mir geht es sehr, sehr gut.“ Sie gestikuliert, hustet, schüttet sich zwischen den schnellen Sätzen, die ich kaum verstehen kann,1 einen Schluck Kaffee in den Mund. „Je suis fatiguée, je suis stressée, j’ai mal à la gorge. Ich bin müde, ich bin gestresst, ich habe Halsschmerzen.“ Sie trägt einen schwarzen Oversize-Blazer, hellblaue Momjeans und Vans. Steht auf, bestellt einen weiteren Kaffee, läuft hin und her, telefoniert. Ich erkenne sie wieder: Sie ist genauso gehetzt wie ich vor einem Jahr. Vielleicht sogar noch gehetzter.
Doch auch von meinem Slowing Down ist nur ein kleiner Teil übriggeblieben. Trotzdem bin ich weniger gestresst und das liegt nicht nur daran, dass ich gerade drei Wochen Urlaub gemacht habe. Ich stopfe weniger Termine in meine Wochenenden und freien Tage und mache stattdessen mehr Mittagsschläfe. Ich setze mich weniger unter Druck, Dinge machen zu „müssen,“ denn tatsächlich ist nur sehr, sehr wenig ein echtes Muss. Ich lerne, auf meine Bedürfnisse zu achten, auch mit Hilfe meiner Therapeutin: Will ich es jetzt machen oder will ich es irgendwann machen oder denke ich nur, dass ich es will, weil ich glaube, dass ich es müsste? Ich bemerke es schneller, wenn ich mir unnötigen Druck mache. Manchmal entscheide ich mich gegen die To-Do-Liste, aber manchmal saugt sie mich ein und ich erledige Punkte, die überhaupt nicht dringend sind, obwohl ich eine Pause brauche. Beim Frühstück mache ich Sudoku oder schreibe an meiner Doktorarbeit, statt die Morgenstille zu genießen. Ich meditiere seltener und auf meinem Tagebuch bildet sich langsam eine Staubschicht.
Es geht mir um Balance, um ein langsameres Durchschnittstempo für mein Leben. Das heißt nicht, dass es keine schnellen Stunden oder Tage geben darf. Doch ich will lernen, schneller zur Langsamkeit, zum Slowing Down, zurückzufinden. Denn das habe ich in den letzten Monaten ein bisschen vergessen. Es gab zwar nachhaltige Veränderungen, doch die waren viel zu klein. Sie konnten nur an der Oberfläche des Problems kratzen, beziehungsweise haben sie mir erlaubt, das Problem überhaupt als solches zu erkennen.
Zwei Personen haben mich unabhängig voneinander darauf hingewiesen, dass mein rechtes Auge zuckt, und das waren nur die, die mich gut genug kannten, um etwas zu sagen. Ich selbst bemerke dieses Zucken nicht. Ich habe hier bereits über mein Präburnout geschrieben. Die Kommentare zu diesem Text waren hilfreich und produktiv, aber der Widerwille, den sie in mir auslösten, zeigt nur, wie weit mein Weg noch ist: Doktorarbeit abbrechen? Wie bitte?!? Keine Option, obwohl ich den Titel als Hausärztin gar nicht brauche und ein Leben ohne dieses Projekt eine deutliche Entlastung wäre. Aber sie ist zu ca. 98 % fertig und auch wenn ich weiß, dass zwei Prozent eines Mammutprojekts noch sehr viel Arbeit sind, kann ich nicht aufhören. Egal wie sinnvoll das für meine Psyche wäre. Immerhin habe ich die Kommentare zum Anlass genommen, während der dritten Überarbeitung der Dissertation weniger perfektionistisch zu sein, denn zum Bestehen ist das Ding längst gut genug. Das ist doch schon mal was. Oder?
Ich nehme mir vor, mir in Zukunft weniger vorzunehmen (wenn die Doktorarbeit abgegeben ist …). Das ist ein erster Schritt, jedoch noch keine wirksame Veränderung. In drei Tagen beginnt der nächste Job und Winter in einer Kinderarztpraxis ist wahrscheinlich das Gegenteil von Slowing Down. Ich muss also dranbleiben, sonst wird mein Fuß automatisch aufs Gaspedal des Lebens treten, einfach durch die Schwerkraft.
Wie kann ich Slowing Down in meinen Alltag einbauen, ohne mir zu viele Regeln und Zwänge aufzuerlegen, die mich wieder stressen würden? Täglich Tagebuchschreiben ist zeitlich leider utopisch. Frühstück ohne Ablenkung kostet hingegen nur Überwindung, keine Zeit. Seit ich an diesem Text arbeite, wird mein Müsli von Kerzenlicht statt Bildschirmen erleuchtet und ich war schon zweimal beim Yoga.2 Ich versuche, öfter zu meditieren. Doch Introspektion ist wichtiger als Dinge tun oder nicht zu tun: Ich will es schneller merken, wenn der Tacho gen 180 ausschlägt. Und dann – wohl die größte Herausforderung, denn das ist mir nach der letzten Slowing Down Erfahrung am meisten abhandengekommen – die Bremse finden. So will ich jeden Tag ruhige Momente erleben wie den, als ich auf einem provenzalischen Sofa saß und durch die offene Balkontür einer Sinfonie aus dem ersten Herbstregen, Kirchenglocken und den Etüden einer Klarinettist*in im Nachbarhaus lauschte.
PS: Im Januar wird dieser Newsletter vier (!!!) und ihr könnt in diesem Chat mit mir das Jubiläum planen, ich freue mich auf eure Ideen! (Gestern habt ihr eine Mail mit der Einladung zum Chat bekommen.)
PPS: Vielen Dank für eure solidarischen Abos, damit kann ich bisher 3 Lektorate im Jahr finanzieren (hier versuche ich, euch davon zu überzeugen).
Oder ihr spendiert mir einen Kaffee. Ihr könnt die Arbeit am Newsletter auch via Paypal unterstützen.
PPPS: So habe ich meine Therapeutin gefunden:
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Zurzeit erscheint er ein- bis zweimal im Monat.
Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Dieser Text ist Teil der Edition GESCHWINDIGKEIT.
Bisher erschienen ist Kea von Garniers großartiger Text über die Geschwindigkeit des Lebens – quasi die Makroebene zu der in meinem Text diskutierten Mikroebene.
Antoni Dylan Partheil hat einen tollen Text über Geschwindigkeit in der Stadt geschrieben. Kennt ihr den Unterschied zwischen “street” und “road”?
Vivian Sper schenkt uns 3 Minuten Lesezeit über Aufmerksamkeit und das Lesen heutzutage.
In den nächsten Tagen werden weitere Texte folgen:
Franzi K.: Buchstaben belichten wird mit uns um einen See joggen. Sie hat auch meinen Text lektoriert, vielen Dank <3
Auf Oliwias Ideen bin ich extrem gespannt: oliwia: oliwias notatka
Ist öffentliche (!) Telefonate belauschen weniger verwerflich, wenn es dem Spracherwerb dient? Antworten bitte in den Kommentaren :)
Beim zweiten Mal habe ich zwar diesen Text im Kopf weitergeschrieben, statt alle Gedanken loszulassen, aber dieser Newsletter feiert auch die kleinsten Erfolge.
Den Frühstückskaffee mit diesem Newsletter genossen… war ok 😉 Danke!
PS: französische Märkte sind das, was man am meisten vermisst, wenn man in der Provence gelebt hat. Seufz….
Danke für diesen Text! Let‘s talk about Geschwindigkeit und Zeit more📆
Ich hab ja in diesem Sommer „Nichts Tun“ von Jenny Odell gelesen (und es seitdem in fast jedem meiner Substacktexte zitiert lol). Darin habe ich selbst sehr viele Gedanken zum Nutzbarmachen von Zeit gefunden, die mich selbst irgendwie sehr - ich will nicht sagen inspiriert, ich glaube „verändert“ ist richtiger - haben. UND: Sie hat jetzt ein neues Buch raus gebracht, das „Zeit finden“ heißt- die ersten beiden Kapitel sind schonmal richtig richtig toll (den Rest habe ich noch nicht gelesen)! Bisher kann ich es zu der Thematik nur empfehlen.