Wie leben wir in unseren Körpern und wie gehen wir mit ihnen um? Welche Rolle spielen Körper in der Gesellschaft? Dies ist Teil 2 einer Serie über Körper. Teil 1 findet ihr hier und alle weiteren Teile hier.
Ihr wisst wahrscheinlich gar nicht mehr, wann ihr zum ersten Mal gehört habt, dass so genanntes Übergewicht furchtbar ungesund sei. Dass das Fett die Blutgefäße in Herz und Hirn verstopfe, die Gelenke in rasendem Tempo verschleiße, der apfelförmige Körper zum Herzstillstand führe etc. Deswegen müssten alle, die gesund bleiben oder werden wollen, eine Gewichtszunahme mit allen Mitteln verhindern oder so schnell wie möglich umkehren. Deswegen müssten Ärzt*innen dicken Patient*innen zu Diäten und Sport raten.
Diese Annahmen verstopfen unsere Gehirnwindungen, seit wir auf Waagen stehen und uns vor der Zahl auf der Anzeige fürchten können. Aber ist Mehrgewicht1 wirklich das Todesurteil, als das die Gesellschaft es stilisiert?
Die Antwort lautet eindeutig nein. Höheres Gewicht ist nicht so ungesund wie landläufig angenommen. Trotz intensiver Forschung fehlt der sichere Nachweis, dass Mehrgewicht an sich ungesund ist und Erkrankungen verursacht.2 Dabei ist es egal, ob die Betroffenen schon immer dick waren oder es erst im Laufe ihres Lebens geworden sind und ob sie selbst sagen würden, dass sie dick sind, weil sie sich wenig bewegen oder sich ungesund ernähren.
Auch Schlanke bewegen sich wenig und ernähren sich ungesund – es ist nur nicht so offensichtlich. Auch Schlanke bekommen Arthrose, Diabetes oder Herzinfarkte. Es muss also andere Einflussfaktoren als das Körpergewicht geben. Studien, die vermeintlich gesundheitliche Verbesserungen durch Gewichtsverlust zeigen, sind häufig trügerisch:3 In der Analyse wird oft die gesunde Verhaltensänderung (z. B. Sport) nicht von der Gewichtsreduktion getrennt. Der Erfolg – also die gesundheitliche Verbesserung – wird jedoch letzterer zugeschrieben, obwohl die Verhaltensänderung, nicht der Gewichtverlust, die Ursache dafür ist. Ein weiterer Test dafür, ob die Verbesserung durch Gewichtsverlust zustande kam, ist die Frage, ob das gleiche Ergebnis durch ungeplanten Gewichtsverlust oder andere Wege als Diäten erzielt wird. So verbessert Fettabsaugen – also Gewichtsverlust durch eine Operation – beispielsweise nicht die mehrgewichtsassoziierten Stoffwechselstörungen wie Probleme der Blutzuckerregulation.
Deshalb frage ich meine Patient*innen nur sehr selten nach ihrem Gewicht. Gelegentlich brauche ich diese Information, um mich für die passende Dosis eines Medikaments zu entscheiden. Bei Wassereinlagerungen hilft regelmäßiges Wiegen dabei, zu überprüfen, ob die entwässernde Therapie anschlägt. Kleine Kinder werden häufiger gewogen, weil ein Stopp der Gewichtszunahme ein Zeichen für eine Entwicklungsstörung sein kann. Ungeplanter Gewichtsverlust bei Erwachsenen kann auf eine Krebserkrankung oder eine Depression hindeuten. In den meisten Fällen muss ich euer Gewicht jedoch nicht wissen, um euch zu behandeln.
Aus dem gleichen Grund empfehle ich keine Diäten, denn sie funktionieren nicht. Viele Ernährungsumstellungen, Bewegungsinterventionen oder Diäten führen anfangs zu einer Gewichtsreduktion. Diese wird jedoch mit der Zeit immer langsamer, stagniert und verkehrt sich schließlich ins Gegenteil, also eine Gewichtszunahme zurück zum ursprünglichen Gewicht oder darüber hinaus. Menschen, die sich kaum bewegen und ungesund ernähren und dann auf gesunde Ernährung plus Bewegung umstellen, nehmen in der Regel ab, doch dieser Gewichtsverlust stagniert nach einigen Jahren und kann trotz gleichbleibender Ernährung und Bewegung zur Gewichtszunahme werden.
Deshalb enden Studien zu diesen Interventionen spätestens im Stadium der Stagnation und wir haben kaum Untersuchungen mit Beobachtungszeiträumen von mehr als zwei bis fünf Jahren. Um zu beweisen, dass eine Intervention nachhaltig die Gesundheit verbessert, bräuchten wir hingegen Beobachtungszeiträume von mehreren Jahrzehnten, die idealerweise eine verlängerte Lebenszeit und geringere Erkrankungsrate nachweisen. Weil diese Intervention fehlt, bleibt die Debatte über die Gesundheitsschädlichkeit von Mehrgewicht ohne Konsequenz, da wir es sowieso nicht ändern können: Es gibt keine nachhaltigen, wissenschaftlich bewiesenen Wege der dauerhaften Gewichtsreduktion, die für eine große Zahl der Patient*innen funktionieren.4
Unsere Körper können nicht unterscheiden, ob wir weniger essen, weil Oma/Ärzt*in/Frenemy/Fremde im Internet schon wieder unser Gewicht kritisiert haben oder ob es sich um eine echte Hungersnot handelt. Deshalb wird der Stoffwechsel heruntergefahren und weniger des Sättigungshormons Leptin ausgeschüttet. So will der Körper dafür sorgen, dass wir mehr Hunger haben, bei jeder sich bietenden Gelegenheit essen und zwischen diesen Gelegenheiten möglichst wenige Reserven verbrauchen. Ein besonders beeindruckendes Beispiel für dieses Phänomen liefert eine Studie5 mit Teilnehmer*innen der US-amerikanischen Reality Show The Biggest Loser, einem Diätwettbewerb. Hierbei wurde die Anpassung des Stoffwechsels an extrem viel Bewegung und drastische Kalorienreduktion gemessen. Diese fiel stärker aus als erwartet: Die Teilnehmer*innen verbrauchten also weniger Kalorien als sie bei ihrem neuen Gewicht rechnerisch müssten. Diese Anpassung hielt sich auch nach sechs Jahren, als alle bis auf einen Teilnehmer wieder so viel zugenommen hatten, dass sie etwa bei oder sogar über ihrem Ausgangsgewicht waren.
Die Gewichtszunahme, nachdem sich der Körper an eine Ernährungsumstellung oder ähnliches gewöhnt hat, kennen wir alle als den Jo-Jo-Effekt. Dieser ist viel ungesünder als ein höheres Gewicht – deshalb ist der beste „Risikofaktor“ für eine Gewichtszunahme, dass eine Person abnehmen will. Risiken des Jo-Jo-Effekts (englisch weight cycling) sind unter anderem erhöhte Sterblichkeit, vermehrte Herzinfarkte, Diabetes und Schlaganfälle, erhöhte chronische Entzündungsreaktion, erhöhter Blutdruck, mehr Gallensteine, verringerte Knochendichte, ein erhöhtes Krebsrisiko und mehr emotionaler Stress.6 Kommt euch diese Liste bekannt vor? Vielleicht weil sie so viele Erkrankungen enthält, die Mehrgewicht angeblich verursacht? Das ist kein Zufall. Tatsächlich können Gewichtsschwankungen in großen Kohortenstudien7 die erhöhte Sterblichkeit erklären, die mit Mehrgewicht in Verbindung gebracht wird.
Dazu kommt, dass auch Gewichtsdiskriminierung gesundheitsschädlich ist.8 Sie verursacht chronischen Stress, der zu Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes führen kann (die landläufig oft aufs Gewicht geschoben werden – wieder dieses Phänomen). Außerdem erhöhen sie das Risiko für psychiatrische Erkrankungen inklusive erhöhter Suizidgefährdung sowie die Gesamtsterblichkeit.
Dicke Patient*innen werden häufig schlechter behandelt – sie erhalten weniger evidenzbasierte und diskriminierungsfreie Versorgung, Ärzt*innen verbringen weniger Zeit mit ihnen und führen weniger präventive und diagnostische Tests durch. Negative Einstellungen zu dicken Menschen sind unter Gesundheitspersonal weit verbreitet, beginnend mit Studierenden und Auszubildenden bis hin zu Chef*innen. Ihr wollt gar nicht wissen, wie oft ich schon in Besprechungen saß, in denen lebenslang schlanke Ärzt*innen medizinische Probleme mit: „Der*die soll einfach mal abnehmen und weniger Schokolade essen!“ abtaten, garniert mit einem angeekelten Gesichtsausdruck. Diesen versuchen sie im Sprechzimmer oder bei der Visite (meistens) zu unterdrücken, doch diese Einstellung schlägt sich trotzdem in der Behandlung nieder. Deshalb versuchen viele Betroffene, so wenig Kontakt wie möglich mit dem Gesundheitssystem zu haben.9 Häufig werden sie erst vorstellig, wenn die Erkrankung weiter fortgeschritten und die Therapie entsprechend komplizierter ist. Oft wird jedes gesundheitliche Problem aufs Mehrgewicht geschoben und mit dem Rat, dieses zu reduzieren, „behandelt“. So ist nicht verwunderlich, dass viele sich gegen einen Arztbesuch entscheiden oder nur kommen, wenn es wirklich nicht anders geht. Mehrgewicht an sich ist also nicht ungesund, sondern unser Umgang damit.
Weil Diäten nicht verlässlich funktionieren, sondern eher zu Gewichtsschwankungen oder gar Zunahme führen, rate ich meinen Patient*innen nie dazu, egal welche Zahl der in die Praxissoftware integrierte BMI-Rechner ausspuckt. Die oben beschriebenen Studien zeigen, dass die Risiken höher und deutlich wahrscheinlicher sind als der fragliche Nutzen einer Gewichtsreduktion. Deshalb sind Diätempfehlungen unethisch.
Diäten können zu gestörtem Essverhalten führen – essen nach sehr strengen Regeln und psychologischer Stress, wenn diese nicht eingehalten werden, heimliches Essen, Essattacken etc. Im schlimmsten Fall wird daraus eine Essstörung mit Symptomen einer Mangelernährung.
Aufgrund der geringen Erfolgsaussichten würde sie außerdem das Ärzt*innen-Patient*innen-Verhältnis belasten, indem sie alle Beteiligten frustriert und sogar die Wahrscheinlichkeit senken kann, dass meine Ratschläge in Zukunft umgesetzt werden. Stattdessen konzentriere ich mich auf Dinge, die umsetzbar und erwiesenermaßen gesundheitsfördernd sind.
Was empfehle ich also? Eine Studie10 hat vier Säulen des gesunden Lebens identifiziert, die unabhängig vom Ausgangs-BMI mit einer verminderten Sterblichkeit assoziiert waren: nicht rauchen, maximal ein alkoholisches Getränk pro Tag für cis-Frauen und maximal zwei für cis-Männer, mehr als zwölfmal im Monat Sport machen und fünf oder mehr Portionen Obst und Gemüse pro Tag essen. Je mehr dieser Gewohnheiten Studienteilnehmer*innen hatten, desto weniger unterschied sich ihre Sterblichkeit von der der „normalgewichtigen“ Kontrollgruppe. Diese gesundheitsfördernden Verhaltensweisen sind weniger riskant als die Empfehlung einer Diät. Zusammengefasst können wir sagen: Gesunde Verhaltensweisen sind gesund, gesundheitsschädliche sind es nicht. Gewicht ist aber eine Zahl, keine Verhaltensweise. Und im Gegensatz zu z. B. dem Blutdruck oder dem Blutzucker konnte dieser Zahl trotz intensiver Versuche keine Gesundheitsschädigung nachgewiesen werden.
Ich frage also, was davon bereits umgesetzt wird und finde im Gespräch heraus, an welcher Schraube wir gemeinsam drehen können. Gerade beim Sport sage ich explizit, dass sie es nicht für ihr Gewicht tun sollen, sondern für ihre Knochen, ihre Stimmung, ihr Gehirn, ihr Herz, ihre Blutgefäße, ihre Muskeln, ihren Hormonhaushalt etc. Dass sie etwas finden sollen, das ihnen genug Spaß macht, um es mindestens zweimal die Woche zu machen, und nur weil ihre Nachbarin missionarische Triathletin ist, muss das nicht heißen, dass das auch für sie der richtige Sport ist. Dass es egal ist, ob ihr Gewicht sich ändert. Denn wer eine Gewichtsreduktion erwartet, könnte frustriert aufgeben, wenn diese nicht eintritt, und dadurch alle anderen Vorteile von Bewegung verlieren.
Dieselben Bausteine nutze ich in Gesprächen über Prävention und Gesundheitsförderung. Ich sage: „Hören Sie auf zu rauchen, trinken Sie wenig Alkohol, machen Sie Sport, essen Sie Obst und Gemüse.“ Niemals hingegen: „Achten Sie darauf, dass Sie nicht dicker werden.“ Denn die Übergänge zwischen ein bisschen aufpassen und einer waschechten Diät sind fließend. Wer regelmäßig auf Nachtisch verzichtet oder abends keine Kohlenhydrate zu sich nimmt, obwohl der Appetit auf beides vorhanden ist, macht eine Diät, auch wenn es nicht so genannt wird. Doch eine Zigarette „Kaugummi“ oder „Stressdämpfer“ zu nennen, reduziert ihr Gesundheitsrisiko nicht. Das gleiche gilt für Diäten, die sich hinter Ausdrücken wie „Ernährungsumstellung“ oder „neue Angewohnheit“ verstecken.
Ich empfehle also gesundheitsfördernde Verhaltensweisen und nicht, an einer Zahl herumzuschrauben. Natürlich will ich, dass meine Patient*innen sich gesund ernähren und sich viel bewegen. Aber ich will, dass sie das tun, um ihre Gesundheit zu verbessern, nicht, um ihr Gewicht zu reduzieren. Denn ersteres können sie alle erreichen, letzteres hingegen nur in Ausnahmefällen.
Um eine gute Gesundheitsversorgung unabhängig vom Körpergewicht zu gewährleisten, hat die Health at Every Size-Bewegung (HAES) sich formiert. Gesundheitspersonal mit diesem Credo unterstützt Patient*innen unabhängig von ihrem Gewicht bei einer gesunden Lebensführung und schafft einen diskriminierungs- und stigmatisierungsfreien Raum für eine qualitativ hochwertige Behandlung. Studien konnten zeigen, dass mit dieser Herangehensweise erfolgreicher als mit Versuchen der Gewichtsreduktion Parameter wie Blutdruck, Blutfette, ausgewogene Ernährung und Selbstbewusstsein verbessert werden können.11
Auch ich sehe mich im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten als angestellte Ärztin in Weiterbildung als Teil dieser Bewegung. In meinem Sprechzimmer bestimme ich, wie mit Gewicht umgegangen wird und ich sorge dafür, dass meine Patient*innen sich nicht wegen und während meiner Behandlung für ihr Gewicht schämen müssen. Wenn ich Therapieoptionen mit meinen Chef*innen bespreche und Diäten eine davon sind, verschweige ich die im Gespräch mit Patient*innen und konzentriere mich auf gewichtsneutrale Ansätze. Wenn unsere Türen zu schmal für spezielle Rollstühle sind, gebe ich nicht Patient*innen die Schuld oder behaupte, sie müssten abnehmen, damit wir sie behandeln können. Laut hippokratischem Eid und ärztlicher Berufsordnung sind wir verpflichtet, allen zu helfen, die unsere Expertise brauchen. Also ist es unsere Schuld, wenn die Türen zu schmal sind und wir deshalb nicht den gleichen Behandlungsstandard wie für schlanke Patient*innen gewährleisten können, zum Beispiel weil Gespräche auf dem Flur geführt werden oder keine Röntgenbilder gemacht werden können.12
Leider ist der HAES-Ansatz im deutschsprachigen Raum noch nicht sehr weit verbreitet – mir ist er in der freien Wildbahn des Gesundheitswesens noch nicht begegnet. Deswegen müssen diejenigen von uns, die ihn praktizieren, lauter werden und gewichtsneutrale Versorgung für alle einfordern und vorleben. Das gilt auch für Patient*innen und Angehörige: Ihr habt ein Recht auf gewichtsneutrale Versorgung und darauf, während medizinisch notwendiger Behandlungen keine Diskriminierung zu erfahren. Fordert das unabhängig von eurem Gewicht. Setzt euch für ein besseres Gesundheitssystem für alle ein.
Zur Terminologie: Ich spreche hier von Mehrgewicht statt Übergewicht, weil ersteres eine neutrale Beschreibung ist, während letzteres eine Wertung impliziert.
Eine Hilfestellung dazu findet ihr hier. Bemerkung zu Quellen: Ich verlinke hier v.a. den Substack Weight and Healthcare, der zwar für Gesundheitspersonal geschrieben ist, die Themen jedoch trotzdem in klarem Englisch erklärt und auf die entsprechenden Studien verweist. So bekommt ihr schneller einen Überblick und habt Zugang zur Evidenz.
Für die Wissenschaftler*innen unter euch: Framingham Heart Study und NHANES
Zusammenfassung auf Englisch und die Originalstudie (kostenloses PDF)
Danke Sofia, ich finde deine Perspektive der Ärztinnensicht so spannend! Das sind Räume, in die ich überhaupt keinen Einblick bekomme. Ich wünsche allen Menschen eine Ärzt*in, die so differenzierz mit dem Thema umgeht wie du. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung und der meiner Freund*innen, dass Shaming bzw. diese Fixierung auf Gewicht als Indikator fast immer an der Tagesordnung ist.
Und dadurch Diagnosen total erschwert werden.
Als ich nach einem Jahr USA mit MehrGewicht zurückkam, kommentierte ein Arzt das mit "tja, American Dream, ne?" Und mittlerweile wird nach meinem gesundheitsfördernden/schädlichen Verhalten gar nicht gefragt, denn ich bin ja ein - Zitat- "schlankes Mädel". (Mit 30 Jahren wohlgemerkt).