#58: Influencerinnen, Diättipps und KitKats
Über Emanzipation in kleinen Schritten (Körper I)
Wie leben wir in unseren Körpern und wie gehen wir mit ihnen um? Welche Rolle spielen Körper in der Gesellschaft? Dies ist Teil 1 einer Serie über Körper. Hier findet ihr alle Teile der Serie.
Triggerwarnung: gestörtes Essverhalten, Nennung von Kleidergrößen
Wir schreiben das Jahr 2012. Ich sitze im Studiwohnheim, übermüdet von Grey’s-Anatomy-Marathons, neben mir leere KitKat-Verpackungen, obwohl ich mir die Riegel für den nächsten Tag aufheben wollte. Ich bin frustriert, weil mir das Abikleid aus dem Vorjahr zu eng geworden ist und ich nicht weiß, was ich stattdessen bei der Hochzeit meiner Cousine tragen soll.
Dieses Gefühl kenne ich gut. Schon in der Schule waren (fast) alle schlanker als ich mit ca. Größe 40. Ich träumte davon, wie anders mein Leben in Kleidergroße 34 wäre, doch darauf folgten keine strukturierten Diäten. Trotzdem wies eine Stimme in meinem Kopf mich ständig darauf hin, dass ich nur essen dürfe, wenn ich Hunger hätte, und Schokolade verboten sei – was dazu führte, dass ich möglichst viel Schokolade futterte, ständig über Essen nachdachte und so oft ohne Hunger aß, dass ich kaum noch wusste, wie dieser sich anfühlte. Ich wollte endlich schlank genug sein, denn dann würde alles besser: Dann würde ich „spontan zum See fahren,“ wäre in einer Beziehung, „in der ich mich sicher fühle, weil er auch in einem Monat1 noch mein Freund wäre“ und ich würde „in Cafés gehen, ohne Kuchen bestellen zu wollen“ (Originalzitate aus meinem Tagebuch).
Irgendwann, ich weiß nicht mehr wie, stolperte ich über eine Website namens Live more, weigh less. Die Autorin, Sarah Jenks, versprach mit diesem Programm Gewichtsabnahme durch ein erfülltes Leben: Jetzt schon die Dinge tun, von denen wir glauben, sie erst mit xx Kilo weniger tun zu dürfen, und durch die neu gewonnene Freiheit automatisch abnehmen. Wir sollten so viel Spaß haben, dass wir nicht auf die Idee kämen, aus Frust, Langeweile oder ähnlich ungenügenden Gründen zu essen.
Ich witterte die Lösung meiner Probleme. Ich füllte Seiten meines Tagebuchs mit Dingen, die ich als schlanke Schönheit tun würde und markierte diejenigen, mit denen ich sofort beginnen konnte, mit einem Pfeil: stylische Outfits zusammenstellen, einen Bikini tragen, flirten, tanzen gehen, beim Sitzen nicht auf die Form meiner Oberschenkel achten etc. Das meiste davon setzte ich um.
Mein Selbstbewusstsein wuchs, ich nutzte den Umzug nach Berlin, um mich neu zu erfinden und ich gestaltete mein Leben so, dass es besser zu mir passte und mehr Spaß machte. Ich meldete mich im Fitnessstudio an und bei einem Salsakurs, war viel unterwegs und hatte keine Zeit mehr für Grey’s Anatomy und KitKats. Gleichzeitig – ich scheue mich vor der Kausalität, die das Wort „dadurch“ implizieren würde – nahm ich ab.
Heute können wir Jenks als Proto-Body-Positivity-Influencerin bezeichnen. „Proto“ vor allem aufgrund des weiterhin vorhandenen Fokus auf das Gewicht. Ja, sie wollte uns Selbstliebe beibringen, doch diese blieb ein Mittel zum Zweck: Schlankheit. In den Jahren darauf veränderte diese Bewegung sich und das Ziel wurde, unsere Körper unabhängig von ihrem Gewicht und ihrem Aussehen zu akzeptieren, zu lieben oder ihnen wenigstens neutral gegenüberzustehen. Jenks‘ Coaching konzentriert sich heute auf Spiritualität; Live more, weigh less hat ausgedient.
Jenks hat mich nicht vom Schlankheitsdiktat befreit, doch sie hat mir gezeigt, dass es einen anderen Weg als den „ich müsste eine Diät machen“ Kreislauf gibt. Ich entdeckte weitere Websites von Frauen, die sich als Life Coaches in diesem Feld spezialisiert hatten. Sie sagten mir, dass ich mich unabhängig von meiner Figur selbst lieben könne. Dass ich den Krieg gegen das Essen nicht gewinnen könne, da die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft Gewicht zu verlieren, extrem gering sei. Dass Diäten längst funktioniert hätten, wenn sie tatsächlich funktionieren würden. Dass ich meine Waage wegschmeißen solle. Dass Freiheit nicht bedeute, 15 kg weniger zu wiegen, sondern nicht mehr ständig über Essen und meine Figur nachzudenken.
Heute wünsche ich mir, dass ich diese Websites fünf Jahre früher gefunden hätte. Dass ich diese Lektionen in eine Pille verpacken und mit der Gießkanne an die Menschen, die regelmäßig zitternd auf ihre Waagen steigen, verteilen könnte.
Doch es gibt kein schnelles Mittel – diese Emanzipation dauerte Jahre. Jahre, in denen ich mal zufrieden, mal vollkommen frustriert war (hallo, Gewichtszunahme im Auslandssemester) und mir von einer guten Fee einen neuen Körper gewünscht hätte. Doch im Prinzip war es ein langer Entscheidungsprozess: zwischen dem vorgezeichneten Weg aus Selbstkontrolle, Außendruck und einem unerreichbaren Ideal und einer neuen Route zu einem Leben im Einklang mit meinem Körper und meinem Hunger, zur Selbstakzeptanz oder gar Selbstliebe. Beides erschienen in diesem Prozess valide Optionen. Die erste kannte ich seit Jahren und immerhin hatte sie den „Erfolg“ vorzuweisen, dass ich nicht noch dicker war. Die zweite hingegen barg größere Risiken (würde ich zunehmen, wenn ich nicht mehr aufpasste?), aber auch eine größere Rendite: Freiheit.
Ich musste akzeptieren, dass ich nicht in der Lage war, mein Gewicht zu manipulieren, genauso wenig wie ich das bei meiner Körpergröße konnte. Die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis besteht darin, sich möglichst wenig damit zu beschäftigen und sich keine Lebensmittel zu verbieten oder zu Foltersportsessions zu zwingen – können diese Methoden ihren Zweck doch nicht erfüllen. Dadurch wurde unglaublich viel Platz in meinem Kopf frei und ich hatte mehr Energie zum Leben.
Heute weiß ich nicht, ob ich schlanker oder dicker bin als 2012, und meistens ist es mir vollkommen egal. Ich besitze keine Waage. Ich mache Sport, weil ich mich gern bewege und um Rückenschmerzen vorzubeugen, doch ich erwarte nicht, dass ich davon abnehme. Wenn Fitnessstudios mit Versprechen eines Beach Bodys werben, denke ich: „Den hab ich längst, was wollt ihr!“
Trotzdem habe ich mich nicht komplett von Diäten emanzipiert. Kürzlich wollte eine medizinische Fachangestellte mein Gewicht wissen, um ein EKG zu schreiben. Statt mich raten zu lassen, zog sie eine Waage unter der Untersuchungsliege hervor. Ich wog weniger als gedacht. Und ja, ich freute mich darüber. Außerdem konnte ich nicht widerstehen, meinen BMI auszurechnen, obwohl dieses Maß Bullshit ist und an weißen Männern entwickelt wurde, also nur über diese Gruppe etwas aussagen kann, und nicht für die Anwendung an Einzelpersonen gedacht ist. Zum Aufatmen über das Prädikat „Normalgewicht“ gesellte sich sofort das schlechte Gewissen – es sollte mir doch egal sein! Trotzdem war die Erleichterung nicht zu leugnen.
Ich hatte gerade gelesen, dass in Südkorea 50 kg als das ideale Gewicht für Frauen gelten. Prompt fragte ich mich, wie ich wohl mit nur 50 kg aussähe. Der BMI-Rechner klassifizierte es als untergewichtig. Das überraschte mich, weil ich erwartet hätte, damit dem Schönheitsideal zu entsprechen. Doch dieses Ideal und das medizinische Normal (so problematisch beide sein mögen) sind nicht deckungsgleich. Sind unsere Sehgewohnheiten auf Untergewicht programmiert?
Nach ein paar Tagen war der Spuk vorbei. Ich war froh, nicht nur 50 kg zu wiegen, denn dann würde ich beim Kajakfahren sicher häufiger kentern. Ich vergaß die Zahlen zwar nicht, doch sie rückten in den Hintergrund. Vor zehn Jahren hätte diese Information mein Essverhalten verändert, heute blieb alles beim Alten: Manchmal esse ich ohne Hunger Schokokekse, manchmal fällt mir erst nach dem Zähneputzen ein, dass ich noch Nachtisch essen wollte, aber ich lasse es, weil ich für ein zweites Zähneputzen zu faul bin. Vielleicht ist das in einer Gesellschaft, die Schlankheit mit Schönheit gleichsetzt, die vollständigste Emanzipation, die ich mir erhoffen kann. Weil Äußerlichkeiten so wichtig sind, ist das Gewicht eine Information, die wir nicht immer ignorieren können. Doch wenn die Waage wieder unter der Untersuchungsliege verschwunden ist, wenn wir den Tab mit dem BMI-Rechner geschlossen haben, erinnern wir uns die Lektionen der letzten zehn Jahre: Wir können unser Gewicht nicht manipulieren und loslassen hat uns mehr Freiheit gegeben als jedes verlorene Gramm es je könnte.
Lektorat: Katharina Stein
Teil 2: Wie gehe ich als Ärztin, der ihr Gewicht egal ist, mit dem Gewicht meiner Patient*innen um?
Davor gibt es (wahrscheinlich) noch einen Text aus dem einwortKollektiv zum Thema Hunger – aber in einem anderen Sinne als heute.
Ressourcen für eure (weitere) Emanzipation:
Virginia Sole Smith - relevant insbesondere, wenn ihr mit Kindern zu tun habt.
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Zurzeit erscheint er ein- bis zweimal im Monat.
Wow, wie niedrig waren meine Standards?
Ich wollte eigentlich unter deinen Artikel schreiben "Als eine von Magersucht genese Person…" – aber der Satz blieb mir im Hals stecken. In der Gesellschaft, in der wir leben, fällt es mir schwer, zu behaupten, ich sei wirklich genesen. Manchmal bezweifle ich sogar, dass das wirklich zu 100% möglich ist. Die Themen Essen und Abnehmen bestimmt nicht mehr meinen Alltag und ich halte seit Jahren ein gesundes Gewicht - aber es vergeht kaum ein Tag, an dem diese Themen nicht irgendwann einmal in meinem Kopf auftauchen. Sei es beim Anziehen oder Ausziehen, bei der Konfrontation mit Insta-Fotos oder Werbeanzeigen, sei es im Supermarkt beim Einkaufen. Vieles ist wieder unbeschwert möglich, aber so unbeschwert wie vor meiner Essstörung war ich nie wieder (und die offizielle Therapie diesbezüglich ist bereits über 10 Jahre her). Manchmal imaginiere ich so ein Leben in einer Kommune auf dem Land, nur Frauen und alle im Kartoffelsack, und es ist uns egal, wie wir aussehen, sondern nur wichtig, wie wir uns fühlen. Aber das ist natürlich eine sehr eskapistische Fantasie. Irgendwie müssen wir mit der Realität, die uns umgibt, klarkommen und eine Haltung zu diesen Themen finden, mit der wir leben können.