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Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizin, Feminismus, und Politik mit einer gelegentlichen Prise Literatur. Zurzeit erscheint er ein- bis zweimal im Monat. Viel Spaß beim Lesen und teilt diesen Text gern mit euren Freund*innen.
Ich habe Instagram von meinem Handy gelöscht.
Und Twitter.
Vor neun Monaten.
Seitdem schickt Instagram mir weinerliche E-Mails, ob ich nicht mal wieder gucken möchte, mir seien zwei neue Accounts gefolgt.
Seitdem ist meine Bildschirmzeit um ein Drittel gesunken, mein Datenvolumen reicht aus und ich schreibe zehnmal mehr Tagebuch.
Seitdem habe ich seltener das Gefühl, mein Leben sei nicht ästhetisch genug. Es ist einfach ein Leben und ich bestimme, wie es aussieht.
Die Apps habe ich nicht wieder runtergeladen – nicht einmal, als ich mit Covid im Schlafzimmer eingesperrt war. Ohne sie ist mein Gehirn weniger zerfranst: Ich unterbreche meine eigenen Gedanken nicht mit Feeds, in denen mich alle drei Sekunden ein neues Thema überfällt. Stattdessen lese ich Texte, die mich für Minuten bei einer Idee verweilen lassen. Ich komme zur Ruhe.
Social-Media-Apps nutzen das Belohnungssystem unseres Gehirns aus. Jedes Like, jedes Follow aktiviert dieses System, das dann Dopamin ausschüttet. Dieser Botenstoff erhöht die Motivation für bestimmtes Verhalten, bei Wiederholung wird mehr davon ausgeschüttet und es kommt zu Lerneffekten. Normalerweise sieht das so aus: Hunger —> Essen —> Dopaminausschüttung zur Belohnung. Deswegen macht die Social-Media-Nutzung uns so viel Spaß, insbesondere am Anfang.
Doch dieses System spielt bei der Entstehung von Abhängigkeit eine Rolle, denn auch schädliches oder süchtig-machendes Verhalten wird durch diese Dopaminausschüttung gelernt und gefestigt. Deshalb verlieren wir mehr Zeit in den Apps, als geplant, oder checken ständig unser Handy nach neuen Likes.
Es gibt viele Wege, sich dagegen zu wehren: Das Handy in einem anderen Raum lagern. Push-Nachrichten ausschalten. Armbanduhr, Wecker und Terminkalender reaktivieren, um weniger Gründe haben, aufs Handy zu schauen. App-Limits. Ich habe all das getan und mich sogar (meistens) an die Limits gehalten. Vor dem Löschen erlaubte ich mir nur 15 bis 20 Minuten pro App.
Trotzdem blieb ich eine Gefangene der Apps. Ich brauchte sie doch, um für Fast jeden Sonntag Werbung zu machen. Als Kurznarkose für mein Gehirn, für Pausen und um unangenehme Gedanken zu verdrängen. Um losen Kontakt zum entfernten Bekanntenkreis zu halten – ehemalige Freund*innen aus dem Auslandsjahr oder der Mittelstufe, Urlaubsbekanntschaften, Freund*innen von Freund*innen – und für Stalking light, damit ich als Erste erfahre, wer sich verlobt hat, wessen Baby süß ist und wessen vor dem Foto noch hätte entknautscht werden sollen. Schließlich sind (fast) alle bei Social Media und nur Fremde im Internet löschen ihre Accounts und schreiben dann nervige Artikel darüber.
Über all dem schwebte die große Frage: Geht es überhaupt ohne Social Media? Wenn weniger schon so schwierig ist, wie soll ich es ganz ohne schaffen?
Auf der anderen Seite war das schlechte Gewissen. Über die Zeit, die in den Apps versank – auch 35 Minuten pro Tag sind vier Stunden pro Woche. Vier Stunden, in denen ich ein ganzes Buch lesen, dreimal Sport machen, einen halben Newsletter schreiben oder zweimal die Wohnung putzen könnte.
Gleichzeitig das schlechte Gewissen über solch unproduktive Nutzung: Ich ließ mich berieseln. Dabei sollte ich mit diesen vier Stunden doch Werbung für diesen Newsletter machen und mich vernetzen! Doch wenn ich mehr oder weniger interessiert Posts likte, kommentierte, teilte, um meinen Newsletter sichtbarer zu machen, leerte diese mechanische Instagram-Nutzung meine Energiereserven. Sie saugte mir die Seele aus. Das klingt drastisch, doch anders kann ich das Gefühl nach dem Networking nicht beschreiben: Ich war nicht mehr ich selbst, wusste nicht einmal mehr, wer das sein soll.
Gedanken an Social Media rissen mich immer wieder aus dem Alltag. Ich suchte den besten Bildausschnitt, statt die Sonne auf dem Balkon und die ersten Tulpen zu genießen. Dabei wurde der Kaffee kalt und das Bild postete ich meistens doch nicht. Meine Planungsenergie floss in Posts, die selten zustande kamen oder kaum Likes anhäuften, statt in meine Steuererklärung.
Dazu kam ein Phänomen, das in der Fachsprache Compare and despair heißt, also Vergleichen und Verzweifeln. Ihr kennt das: Auf Instagram sind Wohnungen aufgeräumt und mit geschmackvollen Designermöbeln eingerichtet, es gibt keine Staubflusen, jede Mahlzeit enthält fünf Portionen Obst und Gemüse, Hochzeiten verlaufen grundsätzlich ohne Stress und Pannen, jedes Outfit sitzt. Im Vergleich dazu das eigene Leben: drei Tage hintereinander das gleiche Outfit, Augenringe bis zum Kinn, alle Urlaubstage verbraucht und eine Wohnung voller altersschwacher Ikeamöbel, die vorgestern hätte geputzt werden sollen. Natürlich wissen wir, dass Instagram-Darstellungen mindestens hochkuratiert, wenn nicht gar fake sind, dass hinter den Fotos dreckige Wäsche und Ehekrach lauern. Aber der Teil unseres Gehirns, der vergleicht und verzweifelt, hat längst entschieden, dass alle anderen viel cooler sind als wir – daran ist nichts zu ändern, also können wir auch weiterscrollen, um noch coolere Leute zu finden und noch tiefer ins Verzweiflungsloch zu fallen.
Irgendwann hatte ich die Nase voll. Ich wollte meine Gedanken wiederhaben, meine Zeit, das Leben nicht mehr durch die Kann-ich-das-posten-Linse sehen. Also löschte ich nach langem Hadern die Apps, nachdem sie Jahre auf meinem Handy verbracht hatten. Ihre negativen Auswirkungen überwogen so eindeutig, dass mir das Fast jeden Sonntag Marketing um meines Seelenfriedens willen egal sein musste. Das Design der Apps soll uns süchtig machen; ein Entzug funktioniert am besten vollständig. Es kostet weniger Energie, weniger Mental Load, sich einmal endgültig dagegen zu entscheiden, statt täglich (stündlich!) wieder. Seitdem habe ich wieder Kontrolle über meine Aufmerksamkeit und meine Zeit. Ich nutze meine Gehirnkapazitäten im Einklang mit meinen Werten. Meine Kreativität erwacht aus der Winterstarre. So gesehen ist das Löschen politisch, da es meine Kapazitäten für gesellschaftliches Engagement, für echte Veränderung erhöht hat (insbesondere weil dieses Engagement in meinem Fall nicht über die Apps stattfindet, im Gegensatz zu aktivistischen Accounts).
Doch es ist ein Privileg, diese Apps löschen zu können: Mein Einkommen ist von Social Media unabhängig. Fast jeden Sonntag ist ein Hobby und trägt nicht zu meiner Miete bei. Auch mein Sozialleben spielt sich größtenteils offline ab; ich habe keine körperlichen Einschränkungen, die das Verlassen der Wohnung erschweren und so meine sozialen Kontakte in die Cloud verlagern.
Monate nach dem Löschen loggte ich mich über den Browser bei Twitter ein, um einen Link zu diesem Newsletter zu teilen. Nach nicht einmal fünf Minuten wusste ich: Die Welt ist fürchterlich. Krieg, Klimakrise, neue Virusvarianten – wir sind nicht mehr zu retten. Mein Körper aktivierte die Stressreaktion, mein Puls schnellte hoch, der Blutfluss in meinen Muskeln erhöhte sich, damit ich kämpfen oder fliehen konnte, meine Atmung beschleunigte sich, meine Nebennieren setzten Adrenalin und Cortisol frei, um all das zu koordinieren. Dabei hatte ich bloß, gemütlich auf dem Sofa sitzend, eine Website geöffnet. Mein Puls beruhigte sich erst, nachdem ich das Browserfenster geschlossen hatte. Mit wenigen Klicks hatte ich meine Konditionierung erneuert, das Doomscrolling hatte mich fest im Griff.
Ein paar Wochen später öffnete ich Instagram, ebenfalls im Browser, ebenfalls um für diesen Newsletter zu werben. Dabei ist die Funktionalität so schlecht, dass mein Nervensystem nicht reagieren konnte, denn grottige Websites aktiveren weder das Belohnungssystem, noch Stressreaktionen, noch konditionieren sie uns. Die Web-Version ist so wenig funktional, damit wir die App runterladen, die viel mehr Dopamin ausschüttet und uns so viel länger gefangen halten kann. Ich gab mein Werbevorhaben also auf, denn die App will ich nicht wieder runterladen, auch nicht einmal im Monat, und sie nach dem Post löschen. Ich traue mir selbst nicht: Lösche ich sie tatsächlich sofort, ohne „kurz“ zu gucken, was in meinem Feed los ist? Lösche ich sie auch beim dritten oder vierten Re-Download? Lade ich sie wirklich nicht runter, wenn mir langweilig ist oder ich frustriert bin, obwohl ich gar keinen Newsletter zu bewerben habe?
Ich will meine Social-Media-freie Balance nicht stören. Woher kommt diese Ganz-oder-Gar-nicht-Mentalität? Ich habe lange versucht, mit Social Media im Gleichgewicht zu leben: Die App-Limits erstellte ich Jahre vor dem Löschen. Bin ich reifer geworden und habe erkannt, dass das für mich trotz aller Tricks nicht möglich ist?
Ich habe die Apps während einer Phase gelöscht, in der ich viel Zeit zum Nachdenken hatte und diese auch dringend benötigte. Ich war offener für die positiven Effekte der Löschaktion, da ich sie im Rahmen einer größeren Veränderung erlebte. Doch genau deshalb habe ich nun mehr Angst vor dem Rückfall: Die Apps stehen nicht nur für sich, sondern für ein unnötig stressiges Leben.
Ich habe lange gebraucht, um diesen Text zu schreiben. Der erste Entwurf war beherrscht von Zweifeln: Wer will schon den 137. Anti-Social-Media-Rant lesen? Kann ich wirklich etwas neues zu diesem Diskurs beitragen? Reicht als Anlass, dass ich mich mit dem Löschen gut fühle und diese Erfahrung gern teilen möchte?
Warum sperre ich mich so gegen die öffentliche Artikulation der Erkenntnis, dass Löschen der richtige Schritt war? Um euch Social-Media-Nutzenden nicht auf den Schlips zu treten? Um keine moralisierende Spaßbremse zu sein? Weil ich die Apps „brauche“, um Fast jeden Sonntag zu verbreiten?
Ich verfalle auch bei Newslettern ins Compare and Despair, weil andere hunderte oder tausende Leser*innen haben, und meine E-Mails nur in gut 150 Postfächern landen. Warum kann ich mit meinem Spaßprojekt nicht mehr Leistung bringen? Darf ich mich überhaupt noch Autorin nennen? Die neoliberale Platte in meinem Kopf dreht frei. Dabei habe ich tief in mir längst akzeptiert, dass ich diesen Newsletter im Moment nicht systematisch bewerben kann. Mein restliches Leben ist voll genug, ich bin froh, dass überhaupt Texte entstehen. Dieses Gleichgewicht werde ich nicht durch einen eitlen Insta-Download stören, um durch Likes, Follows und neue Newsletter-Abonnent*innen Bestätigung zu suchen. Trägt das App-Löschen also zu meiner Emanzipation vom Neoliberalismus bei? Denn ein Newsletter muss nicht wachsen, um zu existieren – er muss geschrieben werden. Wenn ihr ihn lest und teilt, ist das ein Bonus.
PS: Diese Emanzipationsgeschichte hat ein Timingproblem: Substack, die Platform, mit der ich euch Newsletter schicke, hat vor kurzem ein Twitter-ähnliches Feature debütiert – Notes. Bisher benutze ich es ohne die negativen Erfahrungen von Twitter und Instagram. Es gibt keine Werbung und meine Posts führen tatsächlich zu neuen Abonnent*innen (Herzlich willkommen!). Weil es vergleichsweise wenige Nutzer*innen gibt, hält der Zeitverlust sich in Grenzen und meine Seele bleibt, wo sie hingehört. Es fesselt meine Aufmerksamkeit nicht so, wie ich es von anderen Apps kenne. Ich bin besser darin, das Handy aus der Hand zu legen, schaue nur alle paar Tage ein paar Minuten rein. Die Lektionen aus neun Monaten ohne Social Media scheinen zu wirken.
Lektorat: Katharina Stein
Kea hat eine andere Lösung für das Social Media Problem gefunden:
#55: Ein Leben nach Instagram
Dieser Text ist SO wertvoll, danke dafür! Mit Twitter ging es mir exakt wie dir. Nur mit dauerhafter Instagram-Abbstinenz tu ich mich schwer. Das liegt an einigen Menschen dort. Und dabei wissen wir alle: Die wichtigen werden wir nie verlieren.
Danke, dass Du den 137. Anti-Social-Media-Rant geschrieben hast. Das Problem ist für mich selbst so brachial präsent, dass ich gar nicht oft genug hören kann, wie sehr es anderen auch so geht. Und wie sie Lösungen dagegen finden.