Ich bin seit zwanzig Jahren hungrig: nach mehr Lob, mehr abgehakten To-Dos, mehr Zeilen im Lebenslauf, mehr dankbaren Patient*innen, mehr Likes, mehr politischem Engagement, mehr Newsletter-Abonnent*innen, mehr Mehr.
Dadurch habe ich viel geschafft: ein gutes Abi. Medizinstudium. Ich habe zwei Romanentwürfe geschrieben und drei Kurzgeschichten sowie 59 Newsletter veröffentlicht. Meine Steuererklärung ist meistens im April fertig, ich gehe jährlich zum Zahnarzt und schreibe morgens um 6 Uhr vor meinem Vollzeitjob an meiner Doktorarbeit. Es läuft also.
Allerdings stehe ich schon genauso lange kurz vor dem Ausbrennen. Wenn ich Patient*innen für vier Wochen krankschreibe, denke ich manchmal, dass ein gebrochener Arm und die dadurch erzwungene Freizeit1 gar nicht so schlecht wären. Oder vielleicht eine kleine Schnittwunde, die genäht werden muss und mich deshalb zwei Wochen von der Arbeit fernhält? Ich mache zwar Sport, schlafe jede Nacht fast acht Stunden und meditiere beinahe täglich. Doch das reicht nicht, um mich nachhaltig zu erholen. Stattdessen bin ich dauererschöpft.
Trotzdem schaffe ich alles: Ich arbeite 30 Patient*innen am Tag ab, sehe meine Freund*innen regelmäßig, schreibe diesen Newsletter und die Wohnung ist meistens ordentlich genug für spontanen Besuch. Deshalb nenne ich es Präburnout – weil ich dieses hohe Funktionsniveau halten kann.2
Durch einen Urlaub oder ein verlängertes Wochenende ohne Pläne verhindere ich, dass das Präburnout sein Präfix verliert. Durch zweimal Ausschlafen rückt es in den Hintergrund. Der Rush, eine weitere To-Do-Liste abgehakt zu haben, übertüncht es. Die verlängerte Erholung nach einer Erkältung, zu der es bei einem sanfteren Lebensstil gar nicht gekommen wäre, lässt alles wieder machbar erscheinen. Der Gedanke „Nächsten Monat/nächstes Semester/nächstes Jahr wird es weniger“ ist das Lockmittel, das mich weiter durchs Leben rennen lässt.
Dieser Wettlauf dauert nun schon 15 bis 20 Jahre. Nur die regelmäßigen Nervenzusammenbrüche zwingen mich dazu, mein Tempo zu drosseln – doch stehen bleibe ich nie. Zum ersten Mal passierte das in der 5. Klasse: Eine neue, größere Schule, ein Pappkasten mit A8-Karteikarten voller Lateinvokabeln und diverse Musikinstrumente, die geübt werden wollten, führten zu einem Nachmittag voller Heulkrämpfe und mit den Fäusten auf Sofakissen hämmern. Danach durfte ich aus der englischsprachigen Kindergruppe austreten. Am nächsten Morgen sprang ich produktiv wie immer aus dem Bett – irgendwie hatte ich mich wieder gefangen.
Auf jeden Mini-Zusammenbruch folgen zaghafte Änderungsversuche: Hier und da mal Nein sagen. Einen Workshop absagen. Ein paar Monate nicht zum Plenum gehen. Zehn Mails ungelesen löschen.
Doch dann packt mich die Energie, die Inspiration, der Hunger und der Kreislauf beginnt von Neuem: Ich habe eine Idee – versuche, mit Freund*innen eine Community of Care zu gründen, melde mich für Fortbildungen an oder google Tanzkurse, um Datenights romantischer zu gestalten. Ich frage „Ist das wichtig?“ und die Antwort ist unweigerlich: Ja, Beziehungspflege, Klimaschutz, Carearbeit, gute Gesundheitsversorgung – alles superwichtig! Also mache ich weiter, statt zu fragen: „Was ist jetzt mein Bedürfnis?“ (Wenn ich es doch tue, ist die Antwort AUSRUHEN!!! Ich erkenne das selten als die Red Flag, die es ist). Meine Änderungsversuche sind nie nachhaltig, denn es ist nie soooo schlimm. Es hat bisher immer geklappt. Dass ich müder und müder werde, ignoriere ich.
Der Neoliberalismus will uns genau so: ultra-fleißige Arbeitsbienchen, die von sich aus mehr schaffen wollen als von ihnen verlangt wird. In unserer Freizeit denken wir zwar an Erholung, erholen uns jedoch nicht ausreichend, um etwas anderes zu tun als zu konsumieren. Deshalb bleibt alles wie es ist, denn wir sind zu müde, um uns zu fragen, ob es mehr geben könnte als ein Leben kurz vor dem Zusammenbruch. Ob unsere Arbeit wirklich essenziell genug ist, um das ständig schwelende Präburnout zu rechtfertigen. Ob wir damit nicht vor allem Reiche reicher machen. Ob wir ein angenehmeres, nachhaltigeres Leben führen könnten, wenn wir uns zusammentun und etwas verändern.
Im Präburnout sind wir maximal produktiv und können nicht aus dem System ausbrechen – so stabilisieren wir den Neoliberalismus und die Leistungsgesellschaft. Deshalb ist der Weg ins Präburnout so leicht, so vorgezeichnet. Wenn wir auch nur ein Mini-Bisschen erreichen wollen, landen wir nahezu automatisch dort. Der Weg aus diesem Zustand heraus hingegen führt durch ein finsteres Dickicht. Wir wissen nicht, welche Säbelzahntiger oder Gespenster aus unserer Vergangenheit dort lauern könnten. Deshalb bleiben wir lieber im Präburnout, das keine Überraschungen bereithält, sondern nur das nächste superwichtige To-Do.
Könnte nur das echte Burnout mich aus dem Präburnout befreien? Bräuchte ich einen großen, nicht zu leugnenden Zusammenbruch, der mich über Monate lahmlegt und zu echter Erholung und Neustrukturierung meines Lebens zwingt? Der mir Zeit gibt, einen nachhaltigen Weg aus dem ewigen Präburnout zu finden? Aber dieser Gedanke lässt meinen Puls eskalieren: Meine Weiterbildung zur Fachärztin für MONATE unterbrechen? Keine Newsletter verschicken? Nicht von einem To-Do zum nächsten hetzen? Was soll ich bitte stattdessen tun??? Mich meinen Problemen stellen?!? Da ist das Präburnout fast eine angenehmere Vorstellung. Trotzdem weiß ich, dass es kein Dauerzustand sein kann oder sollte. Doch was die Alternative ist, weiß ich noch viel weniger.
Wie kann ich aus meinem Hunger nach Mehr einen Hunger nach Weniger machen? Weniger Stress, weniger To-Dos, weniger Mental Load, weniger Durchhalten? Stattdessen mehr Ruhe, mehr Zeit zum Nachdenken, mehr Sonne im Gesicht, mehr auf mich und meine Bedürfnisse achten.
Wenn ihr jetzt dachtet, dass ich euch in der Schlussfolgerung einen Weg aus dem Präburnout eröffnen kann (außer gar nicht erst reinkommen, aber diese Dampflok ist seit Jahrhunderten über alle Berge), muss ich euch enttäuschen. Wenn ihr diese Lösung allerdings habt oder auch nur die winzigste Idee dazu, antwortet bitte auf diese Mail oder teilt sie in den Kommentaren!
Ich bin weiterhin auf der Suche nach einem besseren Weg. Einer nachhaltigeren Balance. Ich will das Seil, auf dem mein Präburnout tanzt, in einen breiteren Pfad verwandeln, auf dem ich keine Angst mehr vor dem tiefen Fall haben muss. Ich will den Weg zu echter Selfcare für mich und nicht für meine Leistungsfähigkeit finden. Zu einem stillen, zufriedenen Leben.
In diesem Sinne: GaLiGrü aus dem Präburnout. Wir sehen uns auf der anderen Seite.
Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. In den nächsten Wochen könnt ihr euch auf Texte über HUNGER freuen:
Franziska König wird uns eine literarische und poetische Beschreibung des Gefühls “Lebenshunger” schenken.
In olivia’s notatka wird es um ein Interview gehen, welches Oliwia seit der Pubertät begleitet und um ihre polnische Zunge, die bestimmtes Essen in Emotionen und Identitäten verwandelt.
Vivan Sper schreibt über das Erlernen von Hunger in den 2000ern und Hunger als Teil der eigenen Familiengeschichte. Bei ihr dürft ihr (und ich!) euch auch für das Lektorat und die Lesbarkeit meines Textes bedanken, denn die erste Version bestand zu 50 % aus Aufzählungen …
Antoni Dylan wird sich auf Pöbeln und Popkultur mit Hunger auseinandersetzen.
In ihren Hinterhofgedanken wird Kea von Garnier uns in hungrige Welten mitnehmen.
Freut euch also auf viele tolle Texte und abonniert schnell-schnell die Newsletter der anderen!
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Zurzeit erscheint er ein- bis zweimal im Monat.
Freudscher Vertipper: Im ersten Entwurf stand hier Freiheit.
Außerdem schätzen die kostenlosen Burnout-Selbsttests des Internets mich als nicht besonders burnoutgefährdet ein, allerdings sind diese sehr jobbezogen. Mein Problem hingegen ist, dass ich zusätzlich zu meinem Job zu viel machen und schaffen möchte.
Ich kenne das. Immer sehr viel wollen, aber nicht genug Zeit haben. So viele Interessen und Pläne und Projekte, auf die man Lust hat. Meine Therapeutin sagte zu mir "Burnout ist auch nur ein Modewort für Depression".
Während des Abis veröffentlichte ich mein erstes Buch, trainierte drei Mal die Woche im Handball Verein und bereitete mich auf eine Sporteignungsprüfung an einer Uni vor. Als ich bei dieser dann wegen Versagensangst versagte, war es der erste Schritt ins Loch. Ein Umzug, fehlende Kontakte, eine ungesunde Beziehung mit darauffolgender Trennung lließen mich radikal reflektieren. Ich begann eine Verhaltenstherapie und verdanke dieser und meiner eigenen Neugier, mich selbst wirklich kennen und wissen zu wollen, woher all diese Ansprüche herkommen, sehr viel. Ich richtete meine inneren Werte mehr auf Gesundheit, statt auf Leistung aus und versuche so zu leben. Realitätschecks sind super gut! Wie wichtig ist es, dass ich diese To Do heute noch mache, obwohl ich spüre, dass ich Ruhe brauche? Ist es meine psychische Gesundheit wert? Nein! Immer nein!
Dort wo ich einmal war, möchte ich nicht mehr sein.
Trotzdem ist es ein lebenslanger Prozess und ein Abwägen. Ich glaube zentral ist es, die eigenen Werte, Grenzen und Bedürfnisse gut zu kennen und Frühwarnzeichnen, die uns sagen, dass wir einen Gang zurückschalten sollten.
Jetzt wo ich psychisch wieder gesünder bin, bin ich sogar leistungsfähiger als in meinen depressiven Phasen, eigentlich kein Wunder, oder? Es ist wie beim Sport - die Regeneration ist genauso wichtig wie der Trainingsreiz, wird aber immer noch unterschätzt.
Interessanterweise weiß ich erst jetzt wie viel besser es mir all die Jahre hätte gehen können... Doch ich kannte nichts anderes.
Mein jetziger Job in einer psychiatrischen Klinik unterstützt mich in meinen Werten, auch dort wird glücklicherweise mehr auf Psychohygiene geachtet, als vermutlich in anderen Krankenhäusern. Deine Beobachtung mit der besseren Einarbeitung in einer psychiatrischen Klinik deckt sich also mit meiner!
Mir gings ebenfalls jahrelang so. Kam da alleine auch nicht raus - zu viele Verhaltensmuster, die einfach drin waren, unsichtbar für mich selbst. Ist vielleicht auch ein bisschen eine Henne-Ei-Sache, aber die Veränderung steht auf jeden Fall in Wechselwirkung mit einem kompletten Lebenswandel: Intensive Therapie, Jobwechsel, Umzug. Mittlerweile hab ich auch einen sehr stimmungsfühligen Hund, der hochdreht und anstrengend wird, wenn ich selbst zu gestresst bin. Das ist mein Stressbarometer.