Als Donald Trump zum ersten Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, war das der Arschtritt, den ich brauchte, um mich endlich einer linken Studigruppe anzuschließen. Ich fand politisch aktive Menschen schon immer unglaublich cool, aber brauchte Jahre, um zu verstehen, dass meine Coolness keine kritische Schwelle überschreiten musste, bevor ich politisch aktiv werden durfte. Dass ich einfach anfangen konnte. Also ging ich zum Plenum, zu Demos, zu Lesekreisen, hielt Vorträge, unterstützte Pflege-Streiks und diskutierte danach in der Kneipe über eine bessere Welt.
Dann kam die Pandemie, mein Studium endete und die Arbeit als Ärztin war ganz schön anstrengend. Zwar hatte ich eine linke Mediziner*innengruppe gefunden, aber schon nach einem Jahr ging ich fast nie hin. Stattdessen fühlte ich mich jeden zweiten Dienstag schuldig, weil ich keine Energie dafür hatte.
Dabei ist politisches Engagement für mich ein hohes moralisches Gut. Die Welt ist veränderbar und könnte viel besser sein – und wenn wir sie nicht verändern, tun es Trumpist*innen und AfD-Anhänger*innen. Doch wenn wir uns zusammentun, können wir den Rechtsruck und Rassismus bekämpfen, bessere Sozialsysteme für alle erreichen, die Transformation zur klimaneutralen Gesellschaft beschleunigen, und, und, und – auch wenn unsere Möglichkeiten als Einzelpersonen sich oft mikroskopisch anfühlen. Und zuletzt das beliebte Totschlagargument: Wenn unsere Enkel*innen uns fragen, was wir gegen die Klimakrise oder die AfD getan habt, was sagen wir dann? Ich war müde?
Das könnte kaum überzeugender klingen, doch in der Praxis komme ich nach der Arbeit schlecht vom Sofa. Dort versuche ich meine Trägheit zu rechtfertigen: Reicht dieser Newsletter nicht als politische Aktivität? Mein Bauchgefühl sagt nein. Reicht es, über die politische Lage informiert zu sein? (Die ungeborenen Enkel*innen schreien: „Nein!“) Reicht es, zu spenden, damit andere politisch aktiv sein können? (Das Geschrei wird minimal leiser.)
Wie viel verdammte Energie stecke ich in diese Fragen? Kann ich die auch in tatsächliche politische Aktivität umleiten?
Möglicherweise ist es ungünstiges Timing, dass ich ausgerechnet in Zeiten der Polykrise feststelle, dass mein Ruhebedürfnis höher ist als vom Neoliberalismus eingetrichtert. Das hohe moralische Gut des politischen Engagements, gepaart mit meinem Perfektionismus, vervollständigt mein Dilemma. Also liege ich auf dem Sofa und ärgere mich grün und blau, dass ich es nicht zum Plenum der linken Mediziner*innen geschafft habe. Und das verhindert die Erholung mindestens so zuverlässig wie Trotzdem-zum-Plenum-gehen.
Aus dieser Zwickmühle befreit mich die feministische Autorin Mona Chollet mit ihrem neusten Buch Résister à la culpabilisation: Sur quelques empêchements d’exister (etwa: Den Schuldgefühlen widerstehen: Über einige Hinderungen des Existierens. Ich hoffe auf eine schnelle Übersetzung ins Deutsche, da ihr dieses Buch unbedingt lesen müsst!). Darin schreibt sie eine Kulturgeschichte der Schuldgefühle aus feministischer Perspektive. In ihrer Analyse betont sie insbesondere internalisierte Schuldgefühle und die Art, wie wir uns in diesen Situationen selbst fertigmachen, weil wir (scheinbar) zu faul/schwach/bescheuert sind, um alles richtig zu machen. Harsche Worte, die wir zu unseren Freund*innen oder Fremden niemals sagen würden.
Wir glauben, wir könnten alles schaffen: Arbeit, Plenum, jedes Wochenende mindestens eine Demo, nebenher noch politische Bücher in drei Sprachen lesen und gute Texte darüber schreiben. Wir tragen die Last der Welt auf unseren Schultern; wir fühlen uns schuldig und verantwortlich, wenn etwas nicht klappt. Chollet sieht den Ursprung dieser Ruppigkeit uns selbst gegenüber in dieser Selbstüberschätzung. Zwar schützen uns diese Illusionen über unsere Fähigkeiten vor der Erkenntnis unserer beschränkten Macht, doch wenn Schuldgefühle uns handlungsunfähig machen, erreichen wir genauso wenig, wenn nicht weniger. Stattdessen empfiehlt Chollet eine realistische Sicht auf unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten und erinnert mich so an die Frage nach meinem echten Pensum, meinen tatsächlichen Energiereserven.
Wenn mein politisches Ziel ein gutes Leben und Glück für alle ist, bedeutet das auch ein gutes Leben und Glück für mich. Glücklichsein heißt für Chollet nicht, dass mir alles und alle anderen egal sind. Doch deprimiert sein bedeutet, keine Kraft für den Kampf um dieses Glück zu haben und stattdessen auf dem Sofa zu versacken. Wenn wir uns schuldig fühlen, weil es uns besser geht als anderen, gewinnt keine*r. Nicht unser Komfort ist abnormal, sondern die Situation in Kriegsgebieten, die überzogenen Konten der Bürgergeldempfänger*innen und die Zerstörung durch die Klimakrise. Wir müssen nicht leiden, um helfen zu können – im Gegenteil. Ich merke täglich, dass ich eine bessere Ärztin bin, wenn ich genug geschlafen und gegessen habe, wenn ich am Wochenende etwas Schönes erlebt habe. Auch auf politischer Ebene glaube ich mittlerweile, dass wir besser helfen können, wenn wir nicht unter unseren Schuldgefühlen leiden. Ich darf – beziehungsweise muss – auch in meinem politischen Aktivismus auf mich achten. Es ist nicht alles oder nichts. Ich darf kleine Schritte gehen.
Ich las Chollets Buch genau zum richtigen Zeitpunkt: im November 2024. Als Donald Trump zum zweiten Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, war das der Arschtritt, den ich brauchte, um mir eine neue politische Gruppe zu suchen. Ich vergab mir meine Inaktivität und ließ meine Schuldgefühle los. Das begann mit der Erkenntnis, dass meine Dienstagsgruppe mit 45 Minuten Anfahrt schlicht unrealistisch war. Aber ich wusste von einer Basisorganisation der LINKEN, die sich keine zehn Minuten entfernt traf. Seitdem war ich bei zwei Plena, habe zweimal beim Haustürwahlkampf mitgemacht (und dabei an ca. 70 Türen geklingelt) und bei einer Telefonaktion. Bei anderen Terminen war ich kränklich, hatte Nachtdienst, war schon verabredet oder hatte mein Knie verletzt (Haustürwahlkampf bedeutet Treppensteigen). Ich muss nicht perfekt sein und du musst es auch nicht.
Bis zur Bundestagswahl sind es noch vier Wochen und die Partei, die du wählen willst, nimmt nicht nur deine Stimme, sondern auch deine Hilfe (außer AfD und FDP, bitte. Und CDU wählst du ja auch nicht, oder?). Selbst wenn du nur zu einer Wahlkampfveranstaltung kommst, nur ein bisschen spendest, nur ein Haustürgespräch führst. Wenn Parteien nicht dein Ding sind, ist „deine“ politische Gruppe nur wenige Minuten des Googlens entfernt. Und auch nach der Wahl – unabhängig von ihrem Ergebnis – braucht die Welt nicht unsere Schuldgefühle, sondern unsere Aktivität, um eine bessere zu werden. Dabei zählt der kleinste Schritt. Auch deiner.
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Lektorat: Katharina Stein
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PPS: Ich habe einen Text für vliestext geschrieben – es geht um Muskeln aus Plastik von Selma Kay Matter und darum, wie es sich anfühlt, chronisch krank zu sein (und warum das für noch Gesunde so schwer zu verstehen ist):
Danke für diesen Beitrag, so gut! 👏🏻👏🏻 Und hoffe auch, dass das Buch bald übersetzt wird, es klingt super spannend.
Ein Beitrag, den ich diese Woche wirklich gebraucht habe!