Dieser Text ist Teil meiner Serie über Körper. Hier findet ihr alle Teile. Ihr könnt sie unabhängig voneinander lesen.
An einem Dienstag im Februar verlor ich meine Stimme.
Ich hatte in der Kinderarztpraxis mal wieder eine Erkältung aufgesammelt, aber diese war so schwach, dass ich trotzdem arbeiten konnte. Nur leichte Halsschmerzen zu haben, statt eine ganze Woche zu Hause bleiben zu müssen, fühlte sich an wie ein Erfolg: Endlich war ich stärker als das Virus.
Doch die Sprechstunde heißt nicht von ungefähr so. Ich rede den ganzen Tag (durch eine FFP2-Maske!) und in der Kinderarztpraxis gelegentlich laut genug, um schreiende Patient*innen zu übertönen. Das kann selbst virenfreie Stimmbänder überfordern. Meine traten in den Erzwingungsstreik – nach zwei Tagen konnte ich nur noch flüstern. Wenn ich nicht sofort aufhörte zu reden, würde ich auch diese Ausdrucksmöglichkeit verlieren, das spürte ich mit jedem Wort.
Wenn ihr mich gefragt hättet, ob ich eine Pause brauche, hätte ich geschrien: „Natürlich, aber ich muss jetzt noch zwei Monate durchhalten, bis mein Vertrag endet!“ Das Wort „ausgebrannt“ war in meinen Gedanken und Gesprächen immer wieder gefallen, auch vor meinem Stimmverlust. Aber Körper sind gerissene Biester – wenn wir ihre immer lauter werdenden Hinweise ignorieren, ziehen sie irgendwann die Notbremse. Und was für eine: Stimmverlust ist perfekt für eine überarbeitete Ärztin. Schmerzen lassen sich wegmedizieren oder aushalten, Müdigkeit kann mit Koffeinüberdosen bekämpft werden, gegen ansteckende Erreger helfen Masken und Desinfektionsmittel. Ein gebrochener Arm würde zwar auch zu einer Zwangspause führen – einhändig Babys untersuchen ist nur teilweise möglich, einhändig tippen führt sicher zur Sehnenscheidenentzündung. Doch so ein Gipsarm müsste nicht zum Nachdenken und Hinterfragen der Lebensgeschwindigkeit anregen. Ein Unfall oder Sturz sind schließlich Pech, das kann allen passieren. Die verlorene Stimme, insbesondere wenn die Betroffene sich schon länger ausgebrannt fühlt, mit Halsschmerzen arbeitet und stundenlang redet, ist jedoch ein eindeutiges psychosomatisches Signal. Die Halsschmerzen waren allein nicht stark genug, um die Stimmbänder so zu reizen; in einer weniger stressigen Phase wäre das nicht passiert.
Also bleibe ich fast zwei Wochen zu Hause, trinke Tee und schweige. Ich schlafe, lese und sage Dinge ab: drei Kongresse, zwei Seminare (eins davon hätte ich selbst entwickeln und halten sollen), ein Schreibtreffen, die Demo zum feministischen Kampftag, eine Geburtstagsfeier, einen Schreibwettbewerb, Sport, Kajakfahren, Newslettertexte, …
Burnout im Frühling fühlt sich unangemessen an. In den Blumenkästen auf dem Balkon kämpfen sich Tulpenknospen jeden Tag ein Stückchen weiter himmelwärts und in unserem Wohnzimmer verstaubt die Weihnachtsdekoration. Die Sonne scheint nicht nur, sondern wärmt auch schon, und ich bin selbst von einem Ausflug in meinen Stammbuchladen überfordert. Aus der Hecke im Hof sprießen zarte Blätter und ich kann nicht zur Psychotherapie, weil meine Stimme nicht funktioniert.
Ich beschäftige mich schon länger mit körperlichen Notbremsen. Sie haben mir in meinen zwei Jahren als Ärztin viele Patient*innen beschert und werden mich wohl bis zur Rente beschäftigen. Manche Menschen suchen meine Hilfe, weil sie dieses Signal verstanden haben. Andere sagen erst beim dritten Mal: „Vielleicht haben Sie recht, ich habe schon ziemlich viel Stress.“
Wieder andere wehren sich vehement dagegen, dass es etwas Psychosomatisches sein könnte. Sie befürchten, dass das sie in die „Verrückten“-Schublade stecken würde oder es bedeuten könnte, dass die Symptome, unter denen sie so leiden, eingebildet seien. Dann komme ich oft nicht dazu, zu erklären, dass diese Symptome sehr wohl real sind, wir sie jedoch anders behandeln müssen als beispielsweise eine Schnittverletzung oder ein gebrochenes Bein.
Und dann gibt es die, bei denen ich das Wort gar nicht benutzen kann, weil ich so damit beschäftigt bin, sie zur Krankschreibung zu überreden, damit sie sich einmal richtig auskurieren können. Aber sie wollen nicht glauben, dass ihr Körper eine Pause braucht, und bestehen auf die Überweisung in die Immundefekte-Ambulanz, denn da müsse doch eine mysteriöse Diagnose hinter stecken. So viele Erkältungen in einem Winter seien schließlich nicht normal.
Auch mein eigener Körper hat es, bevor er die perfekte Notbremse fand, mit anderen Varianten probiert: die schmerzende Achillessehne, wenn ich ohne Pausen durch die Gegend hetze. Spannungskopfschmerzen. Halsschmerzen nach der Akutsprechstunde, wenn ich laut meiner Therapeutin nach mehr als neun Stunden Arbeit einfach den Hals voll habe (sie hat recht).
Diesen Text will ich seit Weihnachten schreiben, aber schiebe ihn Woche um Woche, Monat um Monat, vor mir her. Warum? Will ich lieber weiter verdrängen, dass das Thema mich auch persönlich betrifft, nicht bloß beruflich?
In seinem Buch Wenn der Körper Nein sagt: Wie verborgener Stress krank macht - und was Sie dagegen tun können untersucht der Arzt und Autor Gabor Maté diese Notbremsen. Er beschreibt, wie Stress über ein postuliertes Psychoneuroendokrinoimmunsystem Krankheiten verursachen kann. Dieses Wortungetüm ist medizinisch für: Psyche, Nervensystem, Hormone und Immunsystem wirken bei chronischem Stress so zusammen, dass die Effekte krank machen können. Er erzählt Geschichten von Patient*innen, die Kindheitstraumata oder missbräuchliche Beziehungen erlebt haben, schon als Kinder für die familiäre Harmonie zuständig waren, lebenslang ihre Wut in sich hineingefressen haben, immer alles allein schaffen mussten, sich bis zur Selbstaufgabe um andere kümmerten etc. Patient*innen, die infolgedessen krank wurden, zum Beispiel mit Krebs aller Couleur, Suchterkrankungen, Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose oder Rheuma, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Herzinfarkten, Asthma oder Alzheimer.
Es ist kein perfektes Buch. Es müsste viel nuancierter sein, auf jeder zweiten Seite müsste Maté betonen, dass diese psychischen und stressbedingten Aspekte ein Grund bzw. Risikofaktor unter vielen waren, die letztendlich zu den Erkrankungen geführt haben – aber es ist ein populäres Sachbuch, kein wissenschaftliches Paper oder eine persönliche Konsultation bei der Ärztin. Das Buch ist erstmals 2003 erschienen, die Datenlage ist also nicht ganz aktuell und ich hatte nicht die Kraft, zu jedem Kapitel eine systematische Literaturrecherche und -auswertung durchzuführen. Die Geschichten sind fast zu perfekt, aber überzeugende Geschichten erzählen ist natürlich der Job von Autor*innen.
Trotzdem ist es ein unheimliches Buch; ich fühle mich ertappt. Ich bin den Menschen in Matés Geschichten nicht unähnlich: Auch ich unterdrücke negative Gefühle. Auch ich denke krampfhaft positiv. Auch ich will alles allein schaffen. Ich könnte eine dieser Geschichten sein – außer, dass ich nicht krank genug und in den letzten Jahren immer gesünder geworden bin (mit Rückschritten, siehe oben). Die Frage drängt sich auf: Welche Erkrankungen blühen mir noch? Kann ich sie verhindern oder habe ich mein Grab längst geschaufelt? Wird die Angst vor Erkrankungen mich zu Veränderungen bewegen oder im Gegenteil den Stress weiter verschlimmern?
Kann es helfen, sich mit den Effekten von chronischem Stress auf unsere Gesundheit zu beschäftigen, auch wenn die Gefahr wahrscheinlich nicht so groß und so linear ist wie in dem Buch beschrieben? Ich glaube ja.
Unsere Körper wissen, was sie brauchen, auch ich propagiere das ständig. Es gibt Menschen – mich eingeschlossen – die Stress erst richtig bemerken, wenn auch körperliche Symptome auftreten. Die erst dann gegensteuern (können), denn wenn sogar der Körper sich meldet, muss es wirklich stressig sein. Dieses Zuhören und Reagieren (wichtiger Schritt!) kann Selbstheilungskräfte aktivieren, Placeboeffekte verstärken, Stress reduzieren, uns Handlungsfähigkeit zurückgeben und letztendlich – im Idealfall – die Bedingungen, die zu unserer Erkrankung beigetragen haben, verändern.
Wir können uns selbst besser kennenlernen, wenn wir uns fragen: Wozu sagt mein Körper Nein? Warum? Was sagt mir das über meine Vergangenheit und meine Zukunft? Wie kann ich mit diesem Wissen meine Gegenwart (er)leben? Wie können wir lernen, Nein zu sagen, bevor unsere Körper es für uns schreien? Was passiert, wenn wir negative Gedanken und Gefühle zulassen, statt krampfhaft positiv zu denken und optimistisch zu sein?
Doch diese Sichtweise hat auch Nachteile. Sind wir selbst schuld, wenn wir krank werden, weil wir zu gestresst waren? Das ist als Umkehrschluss nicht unlogisch. Doch an der Entstehung von Krankheiten können hunderte Faktoren beteiligt sein, die sich weder alle aktiv beeinflussen noch im Nachhinein rekonstruieren lassen. Pech spielt immer eine Rolle. In der gleichen Logik folgt aus der Diagnose die Pflicht, unser Leben zu ändern. Damit wir nicht noch kränker werden, damit wir genesen. Mir hat es zwar geholfen, mit neuen Diagnosen mein Leben zu überdenken, aber daraus einen allgemeinen Umgang mit etwas so persönlichem wie Erkrankungen und der eigenen Biografie abzuleiten, erscheint mir zu viel verlangt.
Die Stress-macht-krank-Theorie baut eine Drohkulisse auf, insbesondere in Situationen, in denen wir den Stress nicht reduzieren können – wie sollen wir zum Beispiel unsere Kindheit ändern, wenn wir darin die Ursache für unsere Erkrankungen vermuten? Welche praktischen Konsequenzen hat dieses Wissen für eine alleinerziehende Person in prekären Arbeitsverhältnissen? Für Personen, die regelmäßig Diskriminierung erfahren? Wenn ich meinen Stress nicht reduzieren kann, kommt mit der Angst vor Krankheit ein weiterer Stressfaktor hinzu. So ignoriert diese Theorie strukturelle Aspekte größtenteils – Stress entsteht jedoch auch durch Armut, Diskriminierung, Überleben im Kapitalismus. Wir leben in einer stressinduzierenden Gesellschaft, die Stress und Überarbeitung belohnt – „Ich bin so busy!“ ist ein Ritter*innenschlag, kein Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmen könnte. Auch Lösungsvorschläge für Stress vereinzeln uns häufig weiter – geh allein zur Therapie, fühle deine Gefühle, meditiere bei geschlossener Tür – obwohl es nachhaltiger wäre, gesellschaftliche Strukturen zu verändern und damit Stress an seiner Quelle zu bekämpfen.
Trotzdem überwiegen für mich die Vorteile der Stress-macht-krank-Theorie, auch wenn wir es nicht so absolut betrachten dürfen wie Maté in seinem Buch. Eine nuancierte Sicht auf Stress, Körper und Krankheit ist nicht das ganze Puzzle, aber es sind Teile davon. Allerdings hat Krankheit immer ein Zufalls- und Pechelement, weshalb die Quintessenz dieses Textes nicht auf „Selbst schuld bei deinem ganzen Stress“ zusammenschrumpfen darf.
Weniger Stress wäre für uns alle gut – das ist keine neue Erkenntnis, aber in unserer Welt ist es eine, die wir nicht oft genug lesen können. Das gleiche gilt fürs auf unsere Körper hören. Unsere Lebensweise entfremdet uns vom Körper, macht ihn zum Werkzeug, das zu funktionieren hat, statt zu einem Teil von uns, mit dem wir nach Harmonie streben sollten/dürfen/können.
Wir müssen lernen, unseren Stress und die Signale bzw. Bremsversuche unserer Körper ernst zu nehmen. Eine körperbewusste und möglicherweise gesündere Nische in diese stressglorifizierende Gesellschaft zu meißeln. Für uns, aber auch für andere – denn wenn ich aufhöre zu rennen, merkst vielleicht auch du, dass du eine Gehpause machen darfst. Und dann schlendern wir durch die Welt, hören den Vögeln zu und unsere Körper atmen auf.
Lektorat: Katharina Stein
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PPS: Kranksein ist teuer – auch das trägt nicht zur Stressreduktion bei:
Danke für diesen nuancierten Text! Ich sitze seit Wochen an meiner Masterarbeit und merke, wie all meine Anti-Workalic-Fortschritte dadurch hart auf die Probe gestellt werden. Und wie viele Menschen mit gesagt haben: “da musst du einfach durch und dann halt auch mal in deiner Freizeit zurück stecken.”
Es stimmt, dass mein Aktivismus, meine Klettersessions, Treffen mit Freund*innen, meine Texte schreiben Zeit und Denkräume einnehmen, die dann nicht für die Masterarbeit da sind. Dabei sind das die Dinge, die mir Kraft und Lebenswille und Motivation und Spaß!!! geben. Sie neben der Masterarbeit fortzuführen bedeutet eine körperliche Erschöpfung zu fühlen, von der ich dachte, sie los zu sein.
Und dann werde ich richtig sauer, weil nicht beides geht: gesund sein und das machen, was von einem erwachsenen, arbeitenden Menschen verlangt wird.
So wie negativer Stess (unverständliche Bürokratie, die bewältigen wäre und rechtliche wie finanzielle Konsequenzen hat, fortschreitende Klimakrise, unaufhaltsam zunehmender fast fashion Wahnsinn) Kraft rauben kann, führt positiver Stress (sozialer Kontext - Widersprüchlichkeiten akzeptieren lernen, Toleranz erweitern,Lösungen finden und gemeinsam erarbeiten, Kuscheln- ja, durchaus wichtig: purer Hautkontakt, sensitive Reize sind Stress und solange es nicht um Verbrennungen u.ä.geht, durchaus ein Training, dass uns stabilisiert) zum Ausgleich, Ausbildung von Stärke.
Ich bin durch ein Ungleichgewicht während der Pandemie in ein burn out gekommen. Und da ich so gut kompensieren kann, hab ich es sehr lange nicht gemerkt.
Es war das erste Mal für mich.
Ich bin mittlerweile sehr viel mehr orientiert an dem was mir Freude macht,ohne die Freiheit anderer maßgeblich einzuschränken. Also möglichst nachhaltige Freuden. Und ich bin dankbar für diese Chance
🩷😊