Dieser Text ist Teil meiner Serie über Körper. Hier findet ihr alle Teile. Ihr könnt sie unabhängig voneinander lesen.
Ich schlendere durch die Altstadt von Aix-en-Provence und will shoppen. Ein einziges neues Kleidungsstück darf ich mir dieses Jahr noch kaufen; ich habe mir ein Budget von 200 € angespart. Hier reiht sich eine internationale Marke an die nächste und dazwischen immer wieder mir unbekannte, sehr französisch-chic klingende.
Ich genieße die Sonne und das Peoplewatching, fahre mit meinen Händen über Stoffe und schnuppere an Parfüms. Doch die Geschäfte langweilen mich bis auf wenige Ausnahmen. Plötzlich brauche ich nichts mehr, die Stoffe sind mir zu plastikartig, zu fest. Nach zwei Stunden will ich schlagartig Kaffee und nach Hause aufs Sofa. Gekauft habe ich bloß 10 ml Parfüm, beginnende Kopfschmerzen und die Erkenntnis, dass ich diesen Shopppingausflug eine Stunde früher hätte beenden sollen – bevor die leisen Signale meines Körpers zu einem schreienden: „Gleich fahre ich hier alles runter!“, wurden.
Unsere Körper müssen konsumieren, um zu überleben. Wir brauchen Nahrung und Wasser; je nach Klima und gesellschaftlicher Einstellung zur Nacktheit benötigen wir Kleidung. Über unsere Körper erfahren wir die Welt, sie sind unsere Tore nach außen. Unser Geschmacks- und Geruchssinn ermöglichen uns Konsum im vielleicht ursprünglichsten Sinne. Unser Körper erlaubt uns Genuss: Unsere Hände können weiche Stoffe ertasten, unsere Augen und Ohren Geschichten und Erfahrungen aufnehmen, unsere Nasen duftende Cremes und Lotionen erschnuppern.
Konsum an sich ist nichts Schlimmes. Außer, wenn unsere Bankkonten, unser Planet oder unsere Mitmenschen, die in der Herstellung der Konsumgüter ausgebeutet werden, darunter leiden. Wenn wir glauben, konsumieren zu müssen, weil wir sonst nicht dazugehören. Wenn wir Dinge konsumieren, die uns nicht gut tun, zum Beispiel Diätpillen. Wenn Konsum schmerzt, wie beim Microneedling. Wenn Konsum uns stresst, weil wir trotz aller Ausgaben das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein. Wenn Werbung uns „lehrt“, uns für unsere Körper zu schämen und uns so zum Konsum drängt.
Der Kapitalismus verwischt „echte“ Bedürfnisse und „unnötige“ Wünsche. Plötzlich glaube ich, einen Kaschmirpulli zu brauchen, obwohl kein Mensch Kaschmirpullis braucht. Wir brauchen ausreichend warme Kleidung; ich will noch einen Kaschmirpulli, weil dieses Material so kuschelig ist (was ich nur weiß, weil ich schon mehrere besitze – noch ein Gegenargument).
Wir, im globalen Norden, in einem reichen Land wie Deutschland, die Zeit haben, sonntags Texte wie diesen zu lesen, sind es – bis auf wenige Ausnahmen – gewöhnt, dass unsere Grundbedürfnisse erfüllt werden. Deshalb verwechseln wir Wünsche mit Bedürfnissen.
Doch die Frage nach dem guten Leben verkompliziert die Wunsch-Bedürfnis-Gemengelage: Wir wollen nicht nur überleben, sondern das Leben genießen. Die Maslowsche Bedürfnispyramide endet eben nicht bei Sicherheitsbedürfnissen, sondern bei Selbstverwirklichung (oder Transzendenz, je nach Quelle). In der Erweiterung der Bedürfnishierarchie von 1970 stehen ästhetische Bedürfnisse über Individualbedürfnissen wie Erfolg oder Anerkennung.
Also doch Kaschmirpullis für alle? Aber geht es bei Kaschmir wirklich nur um Ästhetik und Kuscheligkeit? Denn gleich an dritter Stelle der Bedürfnisse stehen die sozialen – wir wollen dazugehören. Ist Kaschmir nicht auch – oder sogar vor allem – eine Mischung aus sozialen und Individiualbedürfnissen? Wollen wir zeigen, dass wir erfolgreich genug für Kaschmir sind, damit wir in die Gruppe der Erfolgreichen aufgenommen werden?
Der Kapitalismus macht unsere Bedürfnisse zu seinem Spielball. Er pflanzt uns durch Werbung neue ein. Diese vermittelt uns außerdem, wir seien nicht gut genug, dass wir uns für unsere Körper schämen sollten, und triggert so unsere sozialen und Individualbedürfnisse – wir müssen konsumieren, um zu zeigen, dass wir und unsere Körper dazugehören. Wir müssen sie verändern, verbessern, um zu zeigen, dass wir jemand sind. Gleichzeitig wird behauptet, dass sogar Selbstverwirklichung und Transzendenz durch Konsum möglich seien – es brauche nur die neuste Yogamatte, ein Abo der Meditationsapp, ein wöchentliches Lifecoaching, eine Schönheitsoperation und – zack! – seien wir unser best self.
Doch was bedeutet Selbstverwirklichung, was bedeutet Transzendenz wirklich? Wie können wir das mit nicht-kapitalistischen Methoden erreichen? Wann ist immer mehr wollen noch menschlich, wann ist es kapitalistische Gehirnwäsche?
Unsere Körper melden uns, wenn es reicht: Aus Hunger wird Sättigungsgefühl, Durst verschwindet, wir erwachen erholt aus dem Schlaf, Kälte verwandelt sich in Wärme. Doch ab einem gewissen Punkt funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr. Vielleicht, wenn es sich nicht mehr um körperliche Grundbedürfnisse handelt und wir zur Befriedigungsbemessung auch auf unseren Kopf hören müssen, der jedoch aufgrund kapitalistischer Mehr-ist-mehr-Prägung eine sehr ungenaue Vorstellung von Genug hat. Deshalb bersten unsere Kleiderschränke, deshalb stehen in meinem Regal 52 ungelesene Bücher, deshalb wachen wir verkatert auf, obwohl wir nur ein Glas Wein genießen wollten.
Es ist nicht alles unsere Schuld. Täglich versuchen hunderte Menschen und Unternehmen, uns so zu beeinflussen: im Internet, auf Werbeplakaten, durch Werbespots oder Mundpropaganda.
Jessica Elefante, eine ehemalige Markenstrategin, zeigt in ihrem Buch Raising Hell, Living Well – Freedom from Influence in a World Where Everyone Wants Something from You (Including Me), wie dieser Einfluss funktioniert und wie wir uns dagegen wehren können. Der erste und vielleicht wichtigste Schritt ist das Wissen um die ständige Einflussnahme. Wie der Titel schon sagt: Alle wollen etwas von uns. Wenn wir uns fragen, was sie wollen und wie sie davon profitieren, unsere Entscheidungen in eine gewisse Richtung zu lenken, können wir unsere persönlichen Vorlieben besser von diesem Einfluss trennen. So treffen wir Entscheidungen, die unseren Bedürfnissen besser entsprechen – und zwar unseren echten Bedürfnissen, nicht den von Werbeagenturen erfundenen. Entscheidungen, die auf unseren Werten basieren und nicht auf dem Einfluss von außen. So können wir wieder mehr auf unsere Körper hören statt auf Werbung.
Dieser Einfluss soll laut Elefante vor allem den „vier C“ (im Deutschen vier K) nutzen: Kapitalismus, Kommerzialisierung (mit dem Ziel, so viel Profit wie möglich zu machen), Konsumismus (die Tendenz zu einem materialistischen Lebensstil) und Kommodifizierung (Dinge werden zu Handelswaren, die gegen möglichst viel Geld eingetauscht werden). Der beste Weg, uns zu überzeugen, im Sinne der vier K zu handeln, ist es, eine Lösung für ein (ausgedachtes) Problem zu liefern und dabei unsere Emotionen zu nutzen, um (Kauf)Verhalten zu triggern. Durch Marktforschung erfahren Marken so viel wie möglich über uns, um sich so zu präsentieren, dass wir sie besonders positiv wahrnehmen und nicht merken, dass wir beeinflusst werden. Hinter ihren Mission Statements voller schwammiger Werte verstecken sie, dass sie in erster Linie profitorientierte Unternehmen sind. Dann überfluten sie uns mit Werbung und folgen dabei der „Rule of 7“ des Marketings: Die Zielgruppe muss die Botschaft siebenmal sehen, bevor sie handelt bzw. kauft.
Wir hingegen sind den ständigen Konsum so gewöhnt, dass wir nicht mehr zwischen Kaufen und Selbstdefinition trennen. Dadurch ist es normal geworden, Probleme so zu lösen. Bei einer Mottenplage mag es sinnvoll sein, in Fallen, Lavendelsäckchen und Schlupfwespenlarven zu investieren, doch der Kaschmirpulli oder das neue iPhone werden Einsamkeit oder allgemeine Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben nicht kurieren können.
Wie können wir aus dem Einfluss-Konsum-Kreislauf ausbrechen? Der erste Schritt ist laut Elefante zu erkennen, dass wir ständig beeinflusst werden und zu hinterfragen, wer mit diesem Einfluss welches Ziel warum erreichen will. Unsere Macht liegt in der Pause und der Skepsis: Will diese Marke ein echtes Problem lösen oder vor allem verkaufen, verkaufen, verkaufen? Habe ich dieses Problem und ist der Kauf überhaupt eine Lösung oder ist das Problem strukturell? Kann ich es auch anders lösen bzw. mein Bedürfnis ohne Kauf befriedigen? Werden Emotionen wie Angst geschürt, um mich zu manipulieren? Will ich etwas, weil Marketing diesen Wunsch in mir eingepflanzt hat und ich dieses Produkt täglich in meinem Feed sehe, oder stimmt dieser Wunsch mit meinen Werten überein? Wer profitiert von meinem Wunsch? Was macht mich aus mir heraus zufrieden (Hint: Wahrscheinlich nicht shoppen)? Wie beeinflussen meine Entscheidungen und mein Verhalten andere, zum Beispiel Kinder oder Freund*innen, und welche Botschaft sende ich damit?
Ich glaube, dass unsere Körper uns dabei helfen können, uns vom ewigen Konsumdruck zu emanzipieren. Denn das Grundproblem ist, dass wir und unsere Körper konsumieren müssen, uns jedoch beigebracht wurde, intuitive Grenzen zu ignorieren und zu überschreiten. Deshalb erscheint der zehnte Kaschmirpulli als legitimer Wunsch, statt uns in seiner Absurdität Kopfschmerzen zu bereiten. Dagegen können wir ankommen, indem wir uns auf uns, unsere Körper und unsere ureigenen Bedürfnisse zurückbesinnen: Wer sind wir und was wollen wir eigentlich? Was tut uns wirklich gut?
Dafür müssen wir in uns hineinhören: Brauchen wir Schlaf? Sozialen Kontakt? Bewegung? Frisches Gemüse? Einen Tag Nichtstun? Wenn wir den Kaschmirpulli nach all dem trotzdem noch wollen, lohnt es sich, darüber nachzudenken. Doch in den meisten Fällen werden unsere Körper uns an den Unterschied zwischen Brauchen und Wollen erinnert haben und die Konsumfrage wird sich nicht mehr stellen. Deshalb empfehle ich euch – wenn ihr nicht schon auf dem Sofa eingekuschelt seid – genau das schnellstmöglich zu tun. Ich sitze hoffentlich genau da, wenn ihr das lest, mit wunderbar-warmen Füßen, einem meiner 52 ungelesenen Bücher und ganz ohne Kopfschmerzen.•
Lektorat: Katharina Stein
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PPS: Hier noch ein Interview mit Jessica Elefante zum Weiterlesen:
Mag sehr, dass du dieses Gefühl des Brauchens thematisierst. Seit etwa einem halben Jahres gelingt es mir sehr gut, außer Dingen des täglichen Bedarfs nur Bücher zu kaufen und die dann auch zu lesen. Gleichzeitig merke ich, dass diese individuelle Lösung halt außer mir niemandem was bringt. Und manchmal nicht mal das, manchmal ist es krass entfremdend; als lebe ich in einer leicht verschobenen Realität. Deshalb frage ich mich: Wie können wir Kollektive Strukturen, gemeinsame Räume schaffen, in den Nischen und Ritzen der kapitalistischen Konsumgesellschaft?
Total! Vielleicht gibt der individuelle Ausbruch aus dem Konsumkarussell uns die Energie, an kollektiven Alternativen zu arbeiten?