Dieser Text ist Teil meiner Serie über Körper. Hier findet ihr alle Teile. Ihr könnt sie unabhängig voneinander lesen.
Triggerwarnung: Magen-Darm-Infektion
Wenn ich krank bin, sind meine Augen größer als sonst, ein bisschen glasig und auffallend schön. Deshalb war mein erster Gedanke beim Blick in den Spiegel an einem Freitag im Januar: Schöne Augen habe ich heute. Mein zweiter: Mist.
Eine Stunde später hing ich kotzend über dem Klo.

Eine Magen-Darm-Infektion lässt mein Gerede zum Thema „auf unsere Körper hören“ lächerlich erscheinen. Wenn der Magen sich zusammenzieht und alle Bauchmuskeln ihm dabei helfen, die letzte Mahlzeit nach oben zu katapultieren, stellen sich solche Fragen nicht. Wenn Magen und Darm sich simultan entleeren, sind wir unseren Körpern hilflos ausgeliefert. Da können wir uns noch so viel auf unsere Gehirne einbilden – an solchen Tagen kontrolliert der Körper alles.
Ich habe Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen. Normalerweise nehme ich für Kopf- und Rückenschmerzen Ibuprofen. Doch mein Ärztinnen-Gehirn sagt: Das geht auf den Magen. Auf den Magen, der durch die Kotzeritis sowieso schon schmerzt. Eine Alternative wäre Paracetamol, allerdings hat das bei mir in der Vergangenheit kaum gewirkt. Aber es kann sein, dass ich es zu niedrig dosiert hatte. Sonst ließen sich natürlich Magenschutztabletten mit dem Ibuprofen kombinieren, die die Magensäureproduktion hemmen. Allerdings brauche ich diese Säure gerade, um die Viren zu bekämpfen. Paracetamol hätte außerdem den Vorteil, dass es meine Temperatur stärker senken würde als Ibuprofen und mir dadurch beim Einschlafen helfen könnte. Und so landen wir über Umwege doch beim Aushalten, den Körper walten lassen, auf Selbstheilung warten, statt ständig nach Lösungen zu suchen.
Bisher war diese Serie sehr zerebral, sehr analytisch. Natürlich ging es um Körper, aber im Kontext von Gesellschaft und Politik. Meine Texte waren mit Gedanken vollgestopft.
Lesen ist jedoch keine körperliche Tätigkeit. Ihr lest mit dem Kopf, auch wenn Augen dabei hilfreich sind und ihr mehr aufnehmt, wenn ihr eure Hintern vorher auf einer bequemen Unterlage platziert habt. Wie kann ich euch also beim Lesen an eure Körper erinnern?
Mein medizinisches Wissen als Ärztin ist auch im Fall eigener Erkrankungen sehr hilfreich. Ich kann meine Beschwerden einordnen und erkennen, dass sie zwar unangenehm, aber nicht bedrohlich sind. Allerdings hat die Tatsache, dass ich dieses Wissen aktuell in einer Kinderarztpraxis anwende und erweitere, auch zu dieser Erkrankung geführt. Und manchmal wäre es besser, weniger zu wissen: Wenn ich nach der vierten Kotzattacke im Bett liege, aber nicht schlafen will, weil ich kaum etwas getrunken habe und Angst bekomme, zu sehr auszutrocknen, wenn ich jetzt mehrere Stunden schlafe. Wenn ich überlege, wen ich notfalls anrufen könnte, um mir eine Infusion zu legen (Hallo Jan!). Wenn ich wegen meiner Bauchschmerzen nicht auf dem Bauch liegen kann, aber nicht auf dem Rücken schlafen will, weil ich dann an meinem Erbrochenen ersticken könnte. Allerdings bin ich nicht unter Drogen oder betrunken, also sind meine Schutzreflexe wahrscheinlich intakt. Reicht mir „wahrscheinlich“ zum Einschlafen? Was macht Austrocknung mit den Schutzreflexen? Also bleibe ich wach und lese einen Liebesroman, bis ich schlückchenweise ein großes Glas Wasser getrunken und zwei Eiswürfel gelutscht habe, ohne die kostbare Flüssigkeit wieder zu verlieren. Erst dann traue ich mich, die Augen zu schließen. Ich wache zwar ständig auf, aber nutze jede dieser Pausen für das nächste Schlückchen.
Jetzt verstehe ich vollkommen, warum kranke Kinder so anhänglich sind. Auch ich würde gern mit Mama kuscheln, wenn sie nicht 500 km von mir entfernt wäre. Oder mit meinem Freund, bei dem es nur fünf Meter sind, aber ich will ihn nicht anstecken.
Wie ist es, einen Körper zu haben? Wie ist es, wenn er sich in den Vordergrund drängt? „Magen-Darm, kenne ich, klar,“ werden die meisten von euch beim Lesen gedacht haben. Auch ich denke das, wenn Patient*innen mir von ihren Erlebnissen mit diesen Erregern erzählen.
Aber mittendrin, ans Klo gefesselt, weiß ich: „Ich habe komplett vergessen, wie das ist.“ Meine Erinnerungen waren abstrakt – natürlich wusste ich, was bei einer Magen-Darm-Infektion passiert. Aber wie es sich anfühlt, hatte ich verdrängt. Wenn die Bauchmuskeln sich zusammenziehen, um auch die vorletzte Mahlzeit zu evakuieren. Wenn der Druck so hoch ist, dass Teile davon in der Nase landen. Wenn die einst theoretische Frage, ob Durchfall und Erbrechen zeitgleich möglich sind, auf spektakuläre Weise bejaht wird. Wenn ein Glas Wasser zur Herausforderung wird und wir uns tagelang nicht für Kaffee interessieren, obwohl er normalerweise Überlebenselixier ist. Wenn wir ganz neue Schmerzrezeptoren im Bauchraum kennenlernen. Wenn wir nur damit beschäftigt sind, auf unsere Körper zu hören und nirgendwo ohne Eimer hingehen.
In den darauffolgenden Wochen habe ich eine andere Empathie für Patient*innen mit diesen Symptomen. Eine körperlichere – ich fühle sie nicht nur diffus in Herz und Seele, sondern ganz konkret in Magen und Darm. Normalerweise wird diese von meiner Aufgabe als Ärztin mindestens teilweise unterdrückt: Ich muss klären, ob es wirklich nur Magen-Darm ist, ob die Person genug Flüssigkeit bekommt, ob Warnzeichen oder Risikofaktoren für schwere Verläufe vorliegen. Dazu kommen praktische Fragen wie die Krankschreibung oder Erklärungen, warum Medikamente gegen Übelkeit oder Durchfall nicht sinnvoll sind. Und dann ist es ja auch „nur“ Magen-Darm. Alle wissen, wie das ist, und Patient*innen kommen nicht zu mir, um sich eine Portion körperliche Empathie abzuholen.
Ich weiß nicht, ob sich meine Patient*innen nach meiner Infektion besser behandelt fühlen, ob sich mein Verhalten wirklich geändert hat. Vorher war meine Behandlung vollkommen angemessen und auch mit meiner reaktivierten Empathie muss ich klären, wie der Flüssigkeitshaushalt ist, ob andere Warnzeichen vorliegen etc. Bin ich wirklich eine bessere Ärztin oder fühle ich mich nur gut, weil ich so geil empathisch war?
Doch wenn es sogar bei banalen Infektionen einen Unterschied macht, wann Ärzt*innen das zuletzt selbst erleben mussten, was heißt das für Empathie bei selteneren Erkrankungen? Nur weil ich mal Magen-Darm hatte, weiß ich noch lange nicht, wie das Leben mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung ist. Meine Regelschmerzen geben mir allenfalls den winzigsten Einblick in ein Leben mit Endometriose. Ich habe mir noch nie einen Knochen gebrochen, aber ein Jahr lang täglich solche Brüche diagnostiziert und Gliedmaßen für vier bis sechs Wochen in Schienen oder Gipse legen lassen, ohne diese Einschränkung jemals erlebt zu haben.
Das soll nicht heißen, dass Ärzt*innen nur gut sein können, wenn sie die von ihnen diagnostizierten Erkrankungen auch erlebt haben. Doch es bedeutet, dass Empathie eine noch größere Herausforderung ist, als ich bisher angenommen hatte. Und das, obwohl ich laut Patient*innenfeedback schon eine überdurchschnittlich empathische Ärztin bin.
Möglicherweise ist Magen-Darm ein schlechtes Beispiel, weil wir es wirklich alle schon mal hatten. Auch wenn wir als Patient*innen Hilfe suchen, wissen wir doch im Prinzip, was uns erwartet. Bei neu diagnostizierten chronischen Erkrankungen ist das jedoch anders.
Ein guter Freund, bei dem vor einigen Jahren eine solche Erkrankung festgestellt wurde, bekam vor allem emotionslose Zahlen und Fakten.1 Er wurde nicht darauf vorbereitet, was es bedeutet, chronisch krank zu sein. Was es bedeutet, diese konkrete Erkrankung zu haben. Wie die Symptome sein Leben verändern würden und wie er am besten damit umgehen könnte.
Was es bedeutet, krank zu sein, ist eine philosophische Frage und vielleicht ist es zu viel verlangt, von Ärzt*innen auf eine befriedigende Antwort zu hoffen. Wir bewegen uns im Bereich der Phänomenologie, dem Spezialgebiet der Philosophie, das sich mit subjektiver Erfahrung befasst. Trotzdem sind Ärzt*innen die primären Ansprechpartner*innen für Krankheiten; wir können keine Termine bei Phänomenolog*innen buchen. Was es bedeutet, krank zu sein, ist im Fall einer Diagnose eben keine rein philosophische Frage, sondern von unmittelbarer praktischer Relevanz.
Insbesondere mit langer klinischer Erfahrung, wenn sie mit vielen Betroffenen gesprochen und ihnen wirklich zugehört haben, könnten Ärzt*innen mehr über diese Fragen wissen – wenn sie genug Interesse und Zeit haben, sich mit diesen „Details“, die nicht zwingend in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, zu beschäftigen. Das würde die Versorgung verbessern, weil Patient*innen sich gehört und gesehen fühlen würden. Sie wüssten, was sie erwartet, und könnten ihre alltägliche Selbstfürsorge an ihre neuen Bedürfnisse und Herausforderungen anpassen. Sie könnten die aktive Rolle in ihrer Versorgung spielen, die Gesundheitspolitiker*innen seit Jahren von ihnen fordern.
Doch das erfordert Zeit, insbesondere während und nach der Diagnosestellung. Zeit, die Ärzt*innen aktuell nicht einfach haben, sondern sich aktiv nehmen oder sogar erkämpfen müssen. Dass diese anfängliche Investition dazu führen kann, dass die Behandlung dieser Patient*innen im Verlauf weniger zeitintensiv wird, ist zwar ein gutes Argument, hat jedoch weniger Schlagkraft, wenn sich im Wartezimmer all die anderen Patient*innen, die ebenfalls Zeit brauchen, stauen.
Auch Empathie, die zweite essenzielle Zutat dieser Strategie, ist in der 35. Stunde Sprechstunde pro Woche am Ende eines langen Winters in der Kinderarztpraxis nicht mehr säckeweise vorhanden. Doch mehr Zeit und eine weniger dichte Arbeit, die uns nicht von Patient*in zu Patient*in hetzt, würden auch dabei helfen.
Jetzt sind wir, obwohl wir am Anfang dieses Texts noch über der Toilette hingen, in der Gesundheitspolitik gelandet. Mein Versuch, diese Serie körperlicher, spürbarer zu machen, ist also maximal ein Teilerfolg. (Aber euch war oben schon ein bisschen schlecht, oder?) Eine Alternative wäre gewesen, euch den im Halbfieber verfassten ersten Entwurf dieses Texts zu schicken, doch dessen mangelnde Kohärenz hätte euch auch vor ein Sonntagsrätsel gestellt: Was will sie uns bloß damit sagen?
Die Idee für diesen Text kam mir erst, als es mir besser ging. Als ich zwölf Stunden geschlafen hatte, Magen und Darm sich wieder benahmen, meine Körpertemperatur sich normalisiert hatte, ich einen Tag mehr im Bett sitzend als liegend verbracht und ein ganzes Brötchen und eine kleine Portion Nudeln gegessen hatte. Mein Schreiben wurde immer wieder von körperlichen Bedürfnissen unterbrochen, Magenknurren, Gähnen, Toilette. Ich verlor alle Fäden, machte mehr Tippfehler als sonst und meine Lektorin musste besonders viele Kommata korrigieren. Fertigschreiben sollte ich den Text erst, als ich längst wieder gesund war. Vorher hatte ich noch gar nicht gewusst, was genau ich damit sagen wollte, nur dass ich die Zerebralität dieser Serie durchbrechen und sie stärker verkörpern wollte. (Nach diesem Satz wärmte ich mir die zweite kleine Portion Nudeln des Tages auf.)
Vielleicht bleiben wir bei der Schlussfolgerung, dass ich mein Gehirn doch nicht ausschalten kann, oder zumindest nur, wenn ich die richtige Menge der richtigen Viren im Körper habe. Deswegen gibt es diesen Newsletter schließlich: Damit dieses Gehirn die Fäden seiner Ideen bis zu ihrem mehr oder weniger logischen Ende verfolgen kann. Damit es damit nicht allein bleibt, sondern die Ergebnisse mit euch teilen kann.
Wie immer: Vielen Dank fürs Lesen.•
Lektorat: Katharina Stein
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Er erscheint ein- bis zweimal im Monat.
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PPS: Falls ihr heute noch etwas Kopflastiges lesen wollt, empfehle ich euch diesen Teil der Körper-Serie:
Und auch die wurden ihm nicht so präsentiert, dass er sie im Schock der Diagnose verinnerlichen konnte. Anders lässt sich kaum erklären, dass ein intelligenter Mensch erst Jahre später verstand, was die wichtigsten Komplikationen seiner Erkrankung waren. Eigentlich ist das ein bekanntes Phänomen: Nach dem Empfang einer schlechten Nachricht wie solch einer Diagnose sind wir kaum in der Lage, Fakten aufzunehmen. Deswegen ist die langfristige Betreuung und wiederholte Aufklärung in der Versorgung chronischer Erkrankungen so wichtig.
Finde die Frage danach voll spannend, inwieweit Texte überhaupt körperlich sein können!