Je reicher ihr seid, desto „besser“ ist Kranksein. Das ist bei chronischen Erkrankungen der Fall: Betroffene nutzen Geld, um ihre Selbstständigkeit zu erhalten. Die gesetzliche Krankenkasse zahlt zwar das Nötigste, doch für Kranksein in Würde empfiehlt sich ein volles Konto.
Ein Extrembeispiel dafür ist das Buch Das Leben ist ein vorübergehender Zustand der Journalistin und Schriftstellerin Gabriele von Arnim. Darin beschreibt sie, wie sie ihren Ehemann nach dessen Schlaganfall pflegte.
Nachdem sie aufgrund der Überlastung eine Panikattacke bekommt, ist die Lösung „mehr Luxus“ und zwar in Form einer „Privatkrankenschwester, [...] die sich richtig und intensiv um ihn kümmert.“ Diese verbringt in den zehn Jahren bis zu seinem Tod täglich mehrere Stunden mit dem Kranken. Dadurch kann von Arnim wieder arbeiten und das Paar in der gemeinsamen Wohnung bleiben.Diese Wohnung wird zum Zeitpunkt des Schlaganfalls gerade renoviert. Weil die finanziellen Mittel vorhanden sind, wird der Umbau an die veränderte Situation angepasst. Von Arnim erwähnt nicht, wie sie die täglichen Spaziergänge mit dem Rollstuhl realisieren – es muss also einen Aufzug geben, sonst hätten die Treppen ein eigenes Kapitel bekommen. Andere Betroffene sind darauf angewiesen, dass Fahrdienste, deren Zuständigkeiten zu entwirren eine spezielle Ausbildung erfordert, sie hoch- und runtertragen. Das passiert für Arzttermine, aber nicht für Spaziergänge. So sitzen unzählige Betroffene in ihren Wohnungen fest und kommen kaum an die frische Luft.
Von Arnims Ehemann dagegen erhält nicht nur Logopädie, Physio- und Ergotherapie, was nach Schlaganfällen übliche Kassenleistungen sind, sondern auch Atem- und Musiktherapie. Für einen verstopften Blasenkatheter macht ein „eleganter Urologe“ einen Hausbesuch. Zusätzliche Pfleger*innen sorgen für Entlastung am Abend. Handwerker verbreitern das Pflegebett, damit es bequemer ist. Ärzte „mit Reputation [...], die eigentlich keine Hausbesuche machen“, kommen trotzdem vorbei. Trotz der stark eingeschränkten Mobilität machen sie einmal im Jahr Urlaub „im Süden“; dort kommt eine Pflegerin zum Blutabnehmen und im Labor im Dorf werden Gerinnungswerte kontrolliert.
Ob das Geld für diese Premium-Versorgung aus eigenem Ersparten oder von privaten Versicherungen stammt, ist irrelevant. Fakt ist, dass Reichtum und Armut die Versorgungsqualität so stark beeinflussen, dass wir von unterschiedlichen Versorgungsklassen sprechen müssen: von der immer sparsameren Grundversorgung bis zur durch privates Kapital ermöglichten menschenwürdigen Versorgung.
Auch meine eigene Erfahrung als Patientin liefert Beispiel für dieses Phänomen, wenn auch weniger extrem: Wenn ich neue Bandagen für meine Hand- und Fußgelenke brauche, muss ich im Sanitätshaus zwischen einer „normalen“ und einer hochwertigeren Bandage wählen. Für die hochwertige beträgt die Zuzahlung plus Eigenanteil für drei Bandagen (beide Handgelenke, ein Fuß) 67,29 €.
Für die normalen läge sie bei 17,29 €, also nur einem knappen Viertel.Eine Befreiung von Zuzahlungen ist zwar möglich, aber bürokratisch. Theoretisch können Einrichtungen wie Pflegestützpunkte dabei helfen, doch für Manche ist selbst die Suche nach dieser Unterstützung eine Herausforderung. Die Befreiung deckt außerdem nur verordnungsfähige Leistungen ab, der Eigenanteil für hochwertigere Hilfsmittel müsste trotzdem aufgebracht werden.
Der große Nachteil von Geld ist sein begrenztes Vorhandensein. Deshalb können viele diese Strategie nur im Kleinen anwenden: Sie können sich einen Handtrainer für 12,99 € leisten, aber keinen Urlaub im Süden. Eine hochwertige Bandage, aber keine Privatkrankenschwester. Eine Greifzange, die den Arm für 6,57 € verlängert, aber keine rollstuhlgerechte Wohnung. Sogar Zuzahlungen für verordnete Medikamente und Heilmittel können ein Loch ins Budget reißen, insbesondere wenn den Betroffenen die bürokratische Kompetenz oder Unterstützung fehlt, sich davon befreien zu lassen. Solche Unterschiede summieren sich, sodass Betroffene mit viel Geld letztendlich besser versorgt sind. Im Bürgergeld-Regelsatz sind übrigens 19,16 € im Monat
für Gesundheitsausgaben vorgesehen. Das reicht nicht einmal für eine hochwertige Bandage.Geld als Strategie für bessere Versorgung hat klare Vorteile: Was ich selbst bezahle, bekomme ich schneller. Eigenes Geld locker machen ist oft verlässlicher als eine Reise durch den Bürokratie-Dschungel, die trotz allem Aufwand mit einem abgelehnten Antrag enden kann.
Außerdem können Betroffene alternative Therapiemöglichkeiten ausprobieren („kann ja nicht schaden“). Deshalb schluckte ich Weihrauchkapseln, war bei einer Osteopathin und bei der Yogatherapie. Auch wenn es für diese Ansätze kaum oder gar keine wissenschaftlichen Belege gibt, profitieren viele subjektiv davon. Diejenigen, die sie sich nicht leisten können, werden dagegen nie erfahren, ob Osteopathie ihnen ein schmerzfreies Leben bescheren könnte.
Natürlich finanzieren Krankenkassen vor allem wissenschaftlich belegte Therapien. Aber gibt es Studien zum Effekt von Urlauben im Süden nach Schlaganfällen? Was sollen Wissenschaftler*innen dafür messen – Zufriedenheit, Lebensqualität, Sterblichkeit? Wie wird „mehr Luxus“ in wissenschaftliche Parameter übersetzt?
Auf Gesundheitssystemebene müssen wir nach Belegen fragen. Doch wenn wir selbst krank sind, wird es Dinge geben, von denen wir auch ohne randomisiert kontrollierte Studien wissen, dass sie uns guttun. Dann werden wir in einem System leben wollen, dass uns diese Erleichterungen zugesteht.
Der Einfluss von Geld auf die Versorgung bleibt oft unsichtbar. Ich musste ein gesamtes Medizinstudium, eine halbe Doktorarbeit und eine eigene Erkrankung erleben, um mir dessen bewusst zu werden. Jetzt begegnet dieses Phänomen mir überall. Auch diejenigen, die bestimmen, wie viel Geld ins Gesundheitssystem fließt, wissen möglicherweise nicht, wie sehr Geld die Krankheitserfahrung beeinflusst. Die Höhe der Beiträge für die gesetzlichen Krankenkassen legt der Bundestag fest. Abgeordnete verdienen etwa 10.000 € brutto im Monat; viele von ihnen sind wahrscheinlich privat versichert. Alle verdienen so viel, dass es im Krankheitsfall weiterhin um die Größe des Ferienhauses ginge und nicht darum, ob sie sich Therapiealternativen leisten könnten.
Natürlich könnte es schlimmer sein: Die US-amerikanische Dichterin Anne Boyer beschreibt in ihrem Buch Die Unsterblichen: Krankheit, Körper, Kapitalismus wie sie nach einer Brust-Entfernung bei Brustkrebs mit mehreren liegenden Drainagen
entlassen wurde. Sie musste wenige Tage nach der Operation wieder arbeiten, obwohl sie kaum stehen, geschweige denn klar denken konnte, weil in den USA der Versicherungsstatus an den Arbeitsvertrag gekoppelt ist. Hierzulande wäre sie frühestens nach Entfernung der Drainagen entlassen worden, bei einer längeren Arbeitsunfähligkeit hätte sie Krankengeld bekommen und ihr Job wäre nicht in Gefahr gewesen. Verglichen damit sind Qualitätsunterschiede bei Bandagen natürlich ein Luxusproblem. Doch dass es schlimmere Varianten gibt, heißt nicht, dass es hier gut genug ist. Kein Naturgesetz verlangt, dass Kranksein teuer sein muss. Dieser Zustand ist menschengemacht und veränderbar.Die Vorstellung, dass alle unabhängig von ihrer finanziellen Situation behandelt werden sollten, ist mit dem Solidaritätsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung verankert: Alle zahlen den gleichen Anteil ihres Lohns/Gehalts ein, egal wie gesund oder krank sie sind. Doch dieser Grundsatz wird nicht auf die gesamte Gesundheitsversorgung angewendet: Reiche Menschen entziehen sich dem durch private Krankenversicherungen und durch die Beitragsbemessungsgrenze, die bei hohen Gehältern eine Obergrenze der Krankenkassenbeiträge festlegt.
Wir sollten das Solidaritätsprinzip konsequent zu Ende denken, zum Beispiel in Form einer Bürger*innenversicherung. In diesem Modell gibt es ein Versicherungssystem für alle, private Krankenversicherungen werden abgeschafft. Die Beiträge werden aus allen Einkommensarten erhoben, statt wie aktuell nur Lohn und Gehalt zu berücksichtigen. Damit flösse auch ein Teil von Mieteinnahmen oder Kapitalerträgen ins Gesundheitssystem. Damit könnte Versorgungsqualität für alle steigen. Das heißt nicht, dass alle Yogatherapie oder Osteopathie bekommen sollen. Aber die Grundversorgung wäre so gut, dass sie nicht aus eigener Tasche subventioniert werden muss, um einen menschenwürdigen Standard zu erreichen.
Zusätzlich zur Versicherungsreform müssen wir bürokratische Prozesse vereinfachen, damit Anträge für Leistungen außerhalb der Regelversorgung eine realistische Möglichkeit statt Schikane werden. Gerade wenn finanziell Privilegierte diese Dinge einfach kaufen können, würde das die Versorgungssitationen aneinander angleichen und das Gesundheitsssystem gerechter machen. Das wird eine Herausforderung, weil solidarische Gesundheitssysteme immer bürokratischer sind als Privatkliniken, in denen mit der Platinum Card alles zu haben ist. Trotzdem müssen wir die Versorgungsbarriere Bürokratie-Dschungel abholzen.
Die nachhaltigste Lösung für die unterschiedliche Gesundheitsversorgung von arm und reich ist jedoch ganz allgemein die Reduktion sozialer Ungleichheit. Wenn unsere Kontostände sich aneinander angleichen, können Versorgungsunterschiede nicht mehr so eklatant sein. Außerdem gibt es immer mehr Belege dafür, dass es in einer egalitäreren Gesellschaft allen besser geht, nicht bloß den Ärmeren
– und in so einer Gesellschaft werden alle seltener krank.Ehe oder Verwandtschaft mit einer gesünderen Person ist leider die beste Pflegeversicherung.
Der genaue Betrag ist abhängig von der Bandage, der Krankenkasse und dem Sanitätshaus; diese Zahlen beziehen sich auf eine Verordnung von 2022.
Schläuche, über die Wundflüssigkeit von innen nach außen geleitet wird.
Greater equality and better health doi: https://doi.org/10.1136/bmj.b4320
Perfekt zusammengefasst. Ich musste praktisch bei jedem Absatz nicken.
Wer als Kassenpatient mal versucht hat, bei Immobilität einen Fahrdienst zu organisieren, weil dringend irgendwelche Fäden gezogen werden müssen, versteht sofort den Satz
"Fahrdienste, deren Zuständigkeiten zu entwirren eine spezielle Ausbildung erforder".
Danke. Und der Newsletter sollte auch vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags abonniert und auch gelesen werden.