Gestern lag schon wieder ein Spendenaufruf in meinem Briefkasten, im Internet lauern sie hinter jedem siebten Link und auf der Straße treffen wir alle elf Minuten eine Spendensammler*in. Anlässe gibt es genug: Hochwasser, Klimakrise, Afghanistan, überlastete Gesundheitssysteme in aller Welt, dringend nötige antifaschistische und antirassistische Bildungsarbeit, Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen, [hier Thema des Tages einfügen] … Doch so hilfreich Spenden kurzfristig sein mögen, langfristig werden sie keins dieser Probleme lösen.
Ich habe mal geglaubt, wir könnten eine bessere Welt herbeispenden. Diese Idee hatte ich aus Büchern über Menschen, die 90 % ihres Einkommens an Organisationen spenden, die pro Dollar möglichst viele Leben retten. Die abwägen, ob sie mehr Gutes tun, indem sie a) für so eine Organisation arbeiten, b) viel verdienen und fast alles spenden, oder c) hinaus in die Welt und ins Internet gehen und für diese Bewegung, den so genannten effektiven Altruismus, werben. Für ein oder zwei Jahre überzeugte diese Philosophie mich. Ich rechnete aus, wie viel Prozent meines zukünftigen Einkommens ich spenden könnte und sah die gerettete Welt schon vor mir (übrigens war das nicht das erste Mal, dass ich eine eher lifestyle-fokussierte Bewegung mit politischer Arbeit verwechselte, aber Politisierung ist eben ein Prozess).
Gerne würde ich euch jetzt schildern, wie ich durch scharfsinnige Analyse
erkannte, dass das der neoliberalste Shit ever ist: Karriere machen für einen guten Zweck. Der Versuch, Probleme mit Geld zu lösen (letztendlich sind Spenden nichts anderes), anstatt zu hinterfragen, warum dieses System Spenden braucht. Aber tatsächlich war ich auf einer Effektiver-Altruismus-Konferenz. Die Vorträge waren spannend, das Virtual-Reality-Video aus dem Schlachthof half mir, endlich wieder Vegetarierin zu werden, und ich führte interessante ethische Diskussionen. Trotzdem fühlte ich mich das ganze Wochenende unwohl. Mein Bauchgefühl hielt mich davon ab, Mitglied der Berliner Lokalgruppe zu werden, obwohl die Menschen am Infostand mindestens normal-nett waren.Wenige Wochen später wurde Donald Trump US-Präsident und ich begriff, dass ich politisch mehr tun musste. Ich fand eine Gruppe, die Systemkritik übte und hatte sofort ein gutes Gefühl. Nach unzähligen Lesekreisen und Diskussionen kann ich artikulieren, was mein Bauch auf der Konferenz spürte: Selbst wenn ich 90% meines Einkommens spendete, wären das verglichen mit den Problemen Kleckerbeträge; für echte Lösungen braucht es politische Ansätze, keine Spendenkonten. Ich will mich nicht innerhalb der Parameter des Neoliberalismus für andere einsetzen, sondern für mehr kämpfen: Für ein System, in dem alle haben, was sie brauchen.
Spenden sind Spielzeugeimer, mit denen wir ein leckes Boot vor dem Sinken bewahren wollen: Keine grundsätzlich falsche Idee, aber trotzdem gehen wir so unter. Stattdessen müssen wir gleichzeitig schaufeln und das Leck dauerhaft flicken. Das Leck in der Welt flicken wir, indem wir uns für bessere Bedingungen für alle einsetzen.
Spenden darf uns nicht von dieser Aufgabe ablenken; es ist eine Krücke, kein Ablasshandel, mit dem wir unser Gewissen reinkaufen können. Mit Spenden können wir ihre Notwendigkeit nicht abschaffen, sonst wäre das längst passiert.
Ich will euch nicht vom Spenden abhalten. Teilen – ich nenne es Umverteilung – sollte viel normaler werden. Wenn alle sich fragen würden „Wie kann ich teilen?“ statt „Wie werde ich reicher?“ wäre die Welt besser. Aber so lange Superreiche ihr Geld nicht wegspenden können, weil der Kurs ihrer Amazon-Aktien zu schnell steigt, wird unsere Weihnachtsspende wenig bewirken. Statt Kleinstbeträge umzuverteilen, sollten wir unsere zeitlichen und politischen Ressourcen kombinieren und uns für eine Welt der 99 % einsetzen. Spendet, wenn ihr könnt – aber die wahre Arbeit beginnt erst danach.
Ein Freund wollte diese Analyse mit diesem Artikel initiieren, aber meine Schlussfolgerung war: Na ja, effektiver Altruismus ist eben kein Marxismus. Heute empfehle ich euch diese Lektüre :)