Heute wird dieser Newsletter fünf (!!!!!) Jahre alt. Ohne euch wäre dieses Projekt nach wenigen Monaten versiegt – vielen Dank für eure Aufmerksamkeit und eure Unterstützung! Wenn ihr mir zum Jubiläum eine Freude machen wollt: Teilt diesen und andere Texte mit euren Freund*innen. Und wenn ihr noch Weihnachtsgeld übrig habt, könnt ihr dieses Projekt mit einem solidarischen Abo nachhaltiger und besser machen. Mit diesen Abos kann ich bisher 4,5 Lektorate im Jahr finanzieren – hier erkläre ich, warum das so wichtig ist. Meine alten Texte verschwinden nach einem Jahr hinter einer Paywall – ein Kompromiss, um mehr zahlende Abonnent*innen zu gewinnen, aber den Newsletter trotzdem für alle zugänglich zu machen.
Oder ihr spendiert mir einen Kaffee. Ihr könnt die Arbeit am Newsletter auch via Paypal unterstützen. Und: Ich wage mich mal wieder an Social media, ihr findet mich auf Bluesky!
#88: Entoptimiert euch!
Ein Aufruf inklusive Anleitung
Heute Abend werde ich den Montagmorgen vorbereiten: meine Wasserflasche füllen, mein Mittagessen einpacken, ein Schraubglas mit Jogurt, Müsli und Nüssen über Nacht im Kühlschrank lagern, meine Kleidung zurechtlegen, den Wasserkocher befüllen, die Kaffeekanne und den Thermobecher auf die Anrichte stellen, daneben die Kaffeedose und den Kaffeefilteraufsatz, in dem ich einen Papierfilter platziere. Dann werde ich zu einer Uhrzeit ins Bett gehen, die mir etwa acht Stunden Schlaf erlaubt, bevor mein Wecker um 06:08 Uhr klingelt.
Morgen um 6:09 stelle ich den Wasserkocher an. Bis ich angezogen bin, kocht das Wasser und ich mache Kaffee. Dann habe ich ein paar Minuten, um am Küchentisch zu sitzen und durchzuatmen. Zwischen 6:36 und 6:38 verlasse ich das Haus, um mit zwei S-Bahnen und einem klapprigen Hollandrad zur Arbeit zu fahren. In der S-Bahn werde ich 29 Minuten lang an meinem Roman schreiben, aber sobald ich die Klinik um 07:28 betrete, schalte ich in den Ärztinnen-Modus.
Dieser Prozess ist extrem durchoptimiert. Kein Wunder – das Selbstoptimierungsmonster kenne ich seit, ich weiß nicht, zwanzig Jahren? Im ersten Entwurf dieses Textes, verfasst vor über fünf Jahren, versuchte ich, Selbstoptimierung und Selbstfürsorge zu entwirren: Wenn ich mich besser fühle, bin ich produktiver. Aber davon profitieren auch meine Arbeitgeber*innen, was zu einer großen Überlappung von Selbstfürsorge und Selbstoptimierung führt. Gleichzeitig will ich die Welt verbessern und wie soll das gehen, wenn ich nicht dank Selbstfürsorge die Energie und Kraft dafür habe?
Mittlerweile interessiert mich eine andere Facette der Selbstoptimierung. Ich denke nicht mehr darüber nach, wie ich mich weiter optimieren kann oder wie ich diesen Optimierungsdrang vor meinem antikapitalistischen Über-Ich rechtfertigen soll. Jetzt sehe ich Selbstoptimierung als Sackgasse: Wir können nicht gewinnen. Es wird immer eine Steigerung geben; optimal bedeutet schließlich „bestmöglich.“ Wann können wir schon sicher sagen, dass es wirklich nicht noch besser gegangen wäre?
Vielleicht – wahrscheinlich – macht der Optimierungswahn uns besser. Aber er macht uns definitiv krank. Wann hilft Effizienz und wann schadet sie? Woran merkt ihr, dass euer Leben zu durchgeplant ist? Ich merke es, wenn ich das bisschen Flexibilität, das es in meine Gene geschafft hat, verliere. Wenn alte Freund*innen mir schreiben, dass sie in der Stadt sind, und ich keine Zeit habe. Wenn ich nicht mit den To-Dos aufhören kann, obwohl ich eine Pause brauche und die wichtigsten längst erledigt sind. Wenn ich beim Applaus im Theater gestresst bin, weil länger klatschen eine spätere Bahn und weniger Schlaf bedeutet, dabei werden es doch jetzt schon keine acht Stunden mehr. In solchen Momenten mag ich diese stocksteife Person, in die ich mich verwandle, nicht besonders.
Das Optimierungsmonster wird uns nicht von sich aus in Ruhe lassen, schließlich ist die neoliberale Gesellschaft sein natürlicher Lebensraum. Deshalb müssen wir es aktiv ignorieren, zum Schweigen bringen und wegschicken. Das ist ein langer Prozess voller Starts und Stopps. Aber ich bin dabei, mich zu entoptimieren, und möchte euch auf diese Reise einladen. Denn wenn wir das gemeinsam angehen, können wir den Prozess beschleunigen (optimieren? Lol).
Entoptimieren ist ein Risiko, denn Optimierung gibt uns – ok, mir – ein Gefühl von Kontrolle. Doch langsam erkenne ich, dass dieses Gefühl mehr Illusion als Wahrheit ist. Wenn wir lernen, Kontrolle abzugeben bzw. akzeptieren, dass wir sie nie hatten, werden wir feststellen, dass nur sehr, sehr, sehr selten etwas Schlimmes passiert, wenn wir loslassen.
Das Wichtigste ist die Entscheidung fürs Entoptimieren. Die müssen wir ständig treffen, täglich oder sogar mehrmals täglich – wann immer das Optimierungsmonster sich meldet. Wenn wir denken: „Ginge das nicht schneller?“, müssen wir fragen: "Muss das wirklich schneller gehen oder ist das nur mein Optimierungswahn?" Ist letzteres der Fall, können wir loslassen und uns Ineffizienz erlauben.
Loslassen ist ein tolles Wort; es klingt so einleuchtend. Doch wenn ich es umsetzen soll, erzähle ich meiner Therapeutin eine Woche später, dass ich nicht wusste, wo zur Hölle ich anfangen sollte. Aber ich habe ein paar Strategien gesammelt – für uns Optimierungssüchtige, die das Optimierungsmonster insgeheim ein bisschen liebhaben und deshalb auch die Entoptimierung in Listenform brauchen, um diese Idee überhaupt aushalten zu können:
• Macht eine Liste von unproduktiven Tätigkeiten. Das ist das Gegenteil einer To-Do-Liste – tief durchatmen, immerhin dürft ihr noch Listen schreiben. Zum Beispiel: vorhersehbare Liebesromane lesen, ziellos durchs Internet scrollen, Mittagsschlaf, an die Decke oder aus dem Fenster starren, seichte Serien gucken, puzzlen, … Diese Liste wird euch helfen, den guten Tag neu zu definieren – den entoptimierten Tag. Fragt euch abends nicht mehr, wie viele To-Dos ihr geschafft habt, sondern wie viel Zeit ihr verplempert habt. Je mehr, desto besser!
• Was macht euch Spaß? Was tut euch gut, unabhängig vom Ergebnis oder Angeberei-Potenzial? Womit wollt ihr wirklich eure Freizeit verbringen, wenn ihr nichts schaffen müsst, sondern einfach sein dürft?
• Nehmt euch weniger vor. Weniger Termine, weniger: „Das muss ich noch machen, bevor ich mich entspannen kann.“ Und jetzt noch weniger. Und noch weniger.
• Morgenstund hat Gold im Mund? Nicht mehr! Startet den Tag unproduktiv, oder zumindest eure freien Tage. Früher schrieb ich fast jeden Morgen und war stolz auf meine Prä-Frühstücks-Produktivität. Heute starte ich jeden freien Tag mit Buch und Kaffee im Bett.
• Weniger messen. Ihr habt das Buch gelesen, auch wenn ihr den Titel eine Woche später vergesst und am Ende des Jahres nicht sagen könnt, ob ihr die Lese-Challenge geschafft habt. Der Waldspaziergang ist passiert, egal ob euer Smartphone euch bestätigt, dass ihr eure Aktivitätsziele erreicht habt. Schmeißt eure Fitnesstracker in den Elektroschrott!
• Weniger müssen: Musst du diese Mail wirklich heute schreiben? Geht die Welt unter, wenn der Wäscheständer einen Tag länger im Wohnzimmer steht? Verschwindet der Urlaub, wenn du ihn heute nicht buchst?
• Hinterfragt produktive Vorbilder: Wie viel Schlaf bekommen sie? Sehen sie ihre Kinder, Partner*innen oder Freund*innen regelmäßig? Wann haben sie zum letzten Mal Urlaub gemacht, ohne heimlich zu arbeiten? Wann hatten sie zum letzten Mal Spaß?
• Lobt euch für Prokrastination statt Produktivität. Die wenigsten Dinge müssen wirklich heute erledigt werden (diese paar Ausnahmen dürft ihr abhaken, kein Problem). Solange ihr einigermaßen pünktlich auf der Arbeit erscheint und dort einigermaßen die Anforderungen erfüllt, wird nicht so viel schief gehen. Ihr habt doch Kolleg*innen, über deren Performance ihr euch seit Jahren beschwert – die haben ihren Job auch noch. Das sind eure neuen Vorbilder!
• Fühlt die Müdigkeit. Lasst sie zu und ruht euch darauf aus. Ihr müsst sie nicht verdient haben. Ihr dürft einfach müde sein.
• Feiert eure Entoptimierungs-Erfolge: Wenn ihr einen Tag oder auch nur eine Stunde losgelassen habt. Wenn ihr merkt, dass ihr auf dem Rückweg von der Arbeit nicht über die private To-Do-Liste nachdenkt, sondern euch auf den Serienmarathon freut. Wenn ihr einen Artikel über einen sogenannten „Sunday Reset“ lest, in dem die Autorin liest, spazieren geht und sich von einer langen Woche erholt und ihr denkt: Hä, was ist an einem normalen Sonntag bitte revolutionär? (Irgendwann werden wir hoffentlich diese Liste lesen und sie für genauso banal halten – dann stoßen wir gemeinsam an!)
Die Ironie einer Anleitung zur Entoptimierung ist mir bewusst. Doch je früher wir das Optimierungsmonster verbannen, desto früher können wir unsere neue Freiheit genießen und einander helfen, uns selbst und andere aus der Optimierungsspirale zu befreien.
Wenn ihr unten auf das Herz klickt, macht ihr mir eine große Freude und helft anderen, meine Texte zu finden. Danke!
Lektorat: Katharina Stein
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Er erscheint zwei- bis dreimal im Monat.
PS: So habe ich euch (und mir) vor zwei Jahren die Vorsätze ausgeredet:
Hallo Sofia!
Wieder einmal sprichst du mir aus der Seele.
Auch wenn ich nicht immer deine Worte nutzen würde (z.B. Optimierungsmonster), so habe ich gerade in den letzten zwei Wochen einfach mal nur das Nötigste erledigt und mich ansonsten mal treiben lassen. Tatsächlich hat sich die Welt weiter gedreht und es ist noch nicht einmal irgendwem aufgefallen (wir leben hier aktuell zu viert).
Eine wichtige Frage, die mir mein Leben seit vier Jahren erleichtert (habe ich in einer Reha gelernt) lautet: Wem gehört das Problem?
Früher habe ich viele Probleme anderer zu meinen gemacht und bin dadurch oft auf unendliche To-do-Listen gekommen, die nie abgearbeitet werden konnten. Die Variante eine gegenteilige Liste zu erstellen, gefällt mir daher richtig gut 👍🏼! Mein Vorsatz für das neue Jahr: Einfach glücklich sein.
Lieben Dank und Grüße Beate
Was mir noch zum Thema Entoptimierung beim Lesen Deines Textes eingefallen ist: Ich bin nicht auf der Welt, um die Ansprüche und Anforderungen anderer zu erfüllen. Vielleicht auch ein guter Vorsatz fürs neue Jahr!