Für meine Weiterbildung zur Fachärztin wechsle ich mindestens einmal im Jahr die Stelle und hatte entsprechend viele Vorstellungsgespräche (16 in den letzten drei Jahren, um genau zu sein). Dabei höre ich oft, dass mein Lebenslauf so interessant sei.
Das ist eine Sichtweise – zutreffend wäre auch: vollgestopft. Mit Nebenjobs, Auslandsaufenthalten, einer für meine Karriere als Hausärztin nahezu irrelevanten Doktorarbeit und einer anderen wissenschaftlichen Veröffentlichung zu gesundheitlichen Problemen von Musiker*innen, journalistischen Tätigkeiten, politischem Engagement und mehr.
Dieser Lebenslauf ist voller als er sein müsste, um eine Weiterbildungsstelle für Allgemeinmedizin zu bekommen, denn das ist ein Fachbereich, in dem jährlich mehr Personal in Rente geht oder stirbt als nachkommt.
Warum also?
Ich wusste nicht immer, dass ich mich für so eine gefragte Fachrichtung entscheiden würde, und bin wie ihr in einer Gesellschaft groß geworden, in der viel Erfolg viel hilft. Aber es gab in meinem Leben eine Zeit, die mich überdurchschnittlich stark auf Exzellenz getrimmt hat.
Nach dem Abitur wollte ich unbedingt studieren, aber wusste nicht was. Das war jedoch kein Problem, denn ich hatte einen Platz an einem kleinen internationalen College in den Niederlanden bekommen. Dort könnte ich mir aus den angebotenen Kursen meinen eigenen Bachelor basteln: Ich musste mich nicht entscheiden, ob ich Literatur, Philosophie, kognitive Neurowissenschaften oder molekulare Zellbiologie studieren wollte. All das war möglich.
Dieses College war das höchstgerankte Bachelorprogramm der Niederlande. Das mehr oder weniger explizite Ziel war die Ausbildung der Elite von morgen. Die Kurse waren anspruchsvoll und sollten uns auf einen Master an einer mindestens genauso elitären Universität vorbereiten. Wir waren die Besten der Besten und sollten hier zu den Allerbesten der Allerbesten werden. Trotzdem entschied ich nach drei Semestern, dass ich lieber Ärztin werden wollte als Neurowissenschaftlerin und brach das Programm ab. Ich will gar nicht wissen, welche Gehirnareale mein darauffolgendes Medizinstudium verkümmert hätte, wenn ich es nicht vorher in Soziologie, Philosophie, Literatur, Psychologie und politischer Theorie gebadet hätte.
Aber leider wurde mein Gehirn dort auch in toxischer Exzellenz und einer verqueren Definition von Erfolg mariniert. Gut war nie gut genug, das Ziel war immer besser oder am besten. Exzellenz wurde toxisch, weil sie um ihrer selbst willen erbracht werden musste: nicht zu schreiben, weil ich passendere Worte finden und interessantere Geschichten erzählen will, sondern um auf der Bestsellerliste zu landen. Nicht besser in meinem Job werden, weil ich Zufriedenheit in guter Arbeit finde, sondern um befördert werden. Keine Fremdsprache zu lernen, weil ich mich für Land und Leute interessiere, sondern weil sie eine gute Ergänzung meines Lebenslaufs wäre. Gut in etwas sein wollen ist nicht das Problem – es wird erst zu einem, wenn wir die besten in allem sein müssen.
An dieser Uni schien es zusätzlich zu den anspruchsvollen Kursen normal, sich in Clubs, der Studierendenvertretung und Sportgruppen zu engagieren, einen riesigen Freund*innenkreis zu haben und es zweimal die Woche in der Campusbar so richtig krachen zu lassen, um nur vierundzwanzig Stunden später die Nacht in der Bibliothek durchzuarbeiten. Meine Noten waren sehr gut, ich schrieb für die Campuszeitung, leitete den Buchclub und war Teil des Laufclubs. Doch das erschien mir nicht genug, denn mein Freund*innenkreis war klein bis mittelgroß und mir graute es vor den Partynächten.
Da ich das Studium dort für ein Medizinstudium abbrach, nahm ich es nicht als Scheitern wahr. Trotzdem war es eine Befreiung, diese Umgebung zu verlassen, und ich war nicht die einzige, die das Programm abbrach. Im Medizinstudium wurde uns zwar auch in den ersten Wochen zu Beginn jeder Vorlesung gratuliert, dass wir zu den Besten der Besten gehörten, 300 Studienplätze für 5000 Bewerber*innen, blablabla, doch das legte sich schnell. Nach dem niederländischen College war das Medizinstudium gar nicht so anstrengend – das beschreibt das Problem ganz gut. Erst Jahre nachdem ich den Campus verlassen hatte, realisierte ich, dass Eliteunis nicht nur denen schaden, die draußen bleiben müssen, sondern auch der Elite selbst.
Trotzdem konnte ich mich nicht aus den Fängen der toxischen Exzellenz befreien. Ich spreche vier Sprachen auf B2-Niveau oder höher, aber das kommt mir nicht besonders viel vor – mein bester Freund von damals spricht sechs auf C1 und höher und lernt gerade Mandarin. Ein Master in Cambridge oder Oxford ist auf meiner Facebook-Timeline beinahe Pflicht. Ich denke viel zu oft an meinen Lebenslauf, obwohl für Ärzt*innen quasi Jobgarantie herrscht.
Warum habe ich neben meinem Medizinstudium eine Journalismusausbildung gemacht, obwohl ich allenfalls sporadisch journalistisch tätig sein wollte, statt einfach für mich zu schreiben? Toxische Exzellenz. Warum mussten ein Erasmus und Praktika im Ausland sein, warum konnte ich mich nicht einmal fragen, ob ich das wirklich wollte? Toxische Exzellenz. Warum hielt ich es in den ersten Medizinsemestern für meine Pflicht, mich in der Fachschaft zu engagieren, bis ich es irgendwann aufgab, gegen die steilen Wände dieser geschlossenen sozialen Gruppe zu rennen? Warum ließ ich es nicht früher sein und tat stattdessen etwas Schönes? Warum meldete ich mich für einen Halbmarathon an, obwohl ich mit Zehn-Kilometer-Läufen zufrieden war? Warum schreibe ich diesen Newsletter? Warum will mein Gehirn automatisch mehr statt weniger?
Was macht diese Exzellenz so toxisch? Ist sie nicht einfach das, was ein Leben im Neoliberalismus von uns verlangt? Natürlich. Aber toxische Exzellenz führt uns in ein Hamsterrad des Teufels, in ein growth mindset, in dem wir immer besser werden müssen, um überhaupt etwas zu zählen. Das Hamsterrad dreht sich immer schneller, also müssen wir das Tempo noch mehr anziehen, um uns weiter zu verbessern – oder auch um das zuvor erreichte Niveau zu halten. Wie wahrscheinlich ist es, dass wir in X oder Y die Weltbesten sind? Wenn ihr nicht zufällig diesen Sommer eine Olympiamedaille gewonnen habt (herzlichen Glückwunsch!), ist die Wahrscheinlichkeit dafür relativ gering (und auch olympische Rekorde fallen, wie wir gesehen haben). Aber das ist keine Tragödie, sondern eine Befreiung: Durch dieses Wissen können wir das Hamsterrad verlassen und in unserem eigenen Tempo durchs Leben schlendern. Doch dank toxischer Exzellenz – wir können besser werden, schneller rennen und alle anderen überholen! – krallen wir uns nur noch energischer am Hamsterrad fest. Ob das Ziel überhaupt erreichbar ist, können wir uns nicht mehr fragen, denn jedes Quäntchen Energie fließt in den nächsten Schritt. Und welches Ziel nochmal – Erfolg, Anerkennung, die nächste Zeile im Lebenslauf, die Gehaltserhöhung, die Beförderung, the next big thing? Wer weiß das schon, aber wir rennen und hecheln und rennen und wer sich über Seitenstechen beschwert, ist ein Loser.
Noch schlimmer wird es, wenn Exzellenz nicht klar messbar ist. Richtig gesetzte Kreuze in einer Multiple-Choice-Prüfung oder eine immer schnellere Marathonzeit sind relativ eindeutig. Doch woher wissen wir, ob wir unsere Patient*innen exzellenter behandelt haben als vor einem Jahr, ob wir exzellentere Forschungsergebnisse erzielt haben, ob wir exzellentere Eltern waren, unseren Instagram-Feed exzellenter kuratiert, bei der Party lustigere Witze erzählt, bessere E-Mails geschrieben oder genialere Outfits zusammengestellt haben? Solche Bewertungen müssen subjektiv bleiben, also strengen wir uns vorsichtshalber noch mehr an, um nicht aus dem Hamsterrad katapultiert zu werden, auch wenn vergangene Erfolge es erschweren, uns selbst immer wieder zu übertreffen.
Toxische Exzellenz bleibt nicht brav an unserer Ausbildungsstätte oder unserem Arbeitsplatz, wo wir argumentieren könnten, dass sie hilfreich sei, weil sie die Qualität unserer Arbeit verbessere. Sie breitet sich über das gesamte Leben aus. Deswegen laufen ganze Freund*innenkreise Halbmarathon und wer schneller war als die anderen, ist extra stolz. Deswegen soll dieser Newsletter möglichst viele Likes, Abonnent*innen und Kommentare sammeln (und Geld abwerfen!). Deswegen müssen unsere Wohnungen, Hochzeiten, Familien, Urlaube perfekt sein, deswegen müssen wir etwas aus unseren Hobbys machen, statt sie einfach zu genießen. Deswegen müssen schon unsere Kinder zum Babyschwimmen, in die bilinguale Kita, zum Test auf Hochbegabung oder zu Dermatolog*innen, damit diese ihre Narben unsichtbar machen. Dadurch gibt es niemals Pausen, denn auch Pausentätigkeiten müssen zu unserer Persönlichkeitsoptimierung beitragen. Also greifen wir zur Biografie von Simone de Beauvoir statt dem Liebesroman, hören Podcasts statt unsere Lieblingslieder aus Teenagerzeiten und machen Intervalltraining statt durchs Wohnzimmer zu tanzen.
Wir verlieren uns in dieser toxischen Exzellenz und werden süchtig nach Anerkennung von außen. Zählt der Erfolg ohne das Lob der Chefin überhaupt? Ist der Urlaub ohne neuen Like-Rekord auf Insta wirklich passiert? Hat sich die Arbeit am Newsletter auch ohne neue Abonnent*innen gelohnt?
Wir verlieren uns in Exzellenz, statt uns zu fragen, was wir wollen, was Erfolg für uns bedeutet. Wie auch, wir sind schließlich viel zu beschäftigt damit, hinter der gesellschaftlich vorgegebenen (und vorbildlich internalisierten) Erfolgsdefinition herzuhecheln. Wir lernen, unsere Bedürfnisse zu ignorieren, denn die stören auf der Überholspur bloß. Dadurch entfernen wir uns immer weiter von uns selbst, aber das ist egal, denn wir wollen ja die Besten sein und nicht wir selbst.
Dabei setzten wir „Exzellenz“ mit „ein guter Mensch sein“ gleich, als ließe sich „gut“ nur in Erfolgen messen. Dabei kennen wir alle das Klischee, dass keine*r sich auf dem Sterbebett wünscht, mehr gearbeitet statt Zeit mit der Familie oder Freund*innen verbracht zu haben. Wir nicken, wenn wir das lesen oder hören, und ändern unser Verhalten trotzdem nicht. Woran denken wir, wenn wir uns fragen, was einen guten Menschen abseits der Exzellenz ausmacht? Warmherzigkeit, Offenheit, Interesse an der Welt, ohne diese nur als Instrument zum Erfolg zu sehen, ein ansteckendes Lachen?
Zufriedenheit ist in der toxischen Exzellenz unmöglich, obwohl das der Ausweg aus dem Hamsterrad wäre. Denn Zufriedenheit ist ein erreichbares Ziel – das ist nach der toxischen Gehirnwäsche zwar nicht einfach, aber im Gegensatz dazu, immer und überall die Beste zu sein, machbar.
Verglichen mit Erfolg wirkt Zufriedenheit blass; damit können wir auf Partys oder in Vorstellungsgesprächen nicht punkten. Doch das Wort tauchte in meinem Internetkonsum, beginnend in meiner Minimalismusphase Anfang zwanzig, immer wieder auf. Irgendwann hatte das Hamsterrad mich so weit ermüdet, dass ich bereit für eine Alternative war. So begann ein langer (und andauernder) Prozess: Ich hinterfragte die Definition von Erfolg, nach der ich bisher unkritisch gelebt hatte. Stattdessen suchte ich nach Dingen, die mich unabhängig von meinem Lebenslauf glücklich machten, wie gute Bücher, ausreichend Schlaf oder einzelne enge Freund*innen statt einer großen Mädelsgruppe. Wenn wir lernen, Erfolg neu und persönlich zu definieren, nach Zufriedenheit statt Rekorden zu streben, können wir der toxischen Exzellenz den Rücken kehren. Langsam und mit Rückschritten, aber wenn wir Glück haben und nicht aufgeben, können wir uns befreien.
Dafür müssen wir zuerst langsamer werden. Viel, viel langsamer. Idealerweise bleiben wir ganz stehen. Das wird sich nach Jahren des Rennens am Rande der Erschöpfung unangenehm und beängstigend anfühlen. Wir werden immer wieder lossprinten wollen, noch schneller als zuvor, um unseren Rückstand durch diese bescheuerte Gehpause aufzuholen. Manchmal werden wir wieder rennen, ohne es zu bemerken. Erst das Seitenstechen wird uns daran erinnern, dass wir doch anders leben wollten. Und irgendwann wird das langsamere Tempo normaler werden. Plötzlich bemerken wir die Eidechse am Wegesrand, den Gesang der Vögel, die anderen schlendernden Menschen, denen wir begegnen, wenn sie nicht mehr Konkurrenz und Überhol-Objekt sind. So stellt sich, zunächst langsam, dann immer häufiger, die Zufriedenheit ein. Wir müssen sie festhalten, denn die Welt wird uns immer wieder ins Hamsterrad des Teufels schubsen wollen. Angesichts der Erfolge anderer wird toxische Exzellenz uns immer wieder verführerisch zuzwinkern – zumindest bis wir uns an ihren Preis erinnern.
Wir leben nicht, um exzellent zu sein, sondern um zu leben. Lasst uns das genießen, statt uns für unerreichbare Ziele kaputtzumachen. Lasst uns uns gegenseitig dabei unterstützen, dieses Gegenteil von toxisch zu leben. Dann können wir gemeinsam feiern, dass wir nein gesagt, uns gegen eine weitere Zeile im Lebenslauf, den prestigeträchtigen, aber stressigen Job, den Marathon entschieden haben. Stattdessen essen wir gemeinsam unser Lieblingsessen, stoßen mit kühlen Getränken an und genießen die Sonne im Gesicht.
Und jetzt ihr: Wie zeigt toxische Exzellenz sich in eurem Leben? Wie geht ihr dagegen vor?
Lektorat: Katharina Stein
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PPS: Wohin das Hamsterrad des Teufels führt:
Ich habe keinen Wünsch die beste zu sein und irgendwelche große Sachen zu leisten. Ich denke durchschnittlich zu sein verdient viel mehr Erkennung! Aber… immer wieder kommt dieser Druck in meinem Umgebung: Gymnasium für meine Große, sinnvolle Kurse für Kids, einzigartig Geburtstagsfeier, weil anderen haben es auch so cool gefeiert… und das ist nicht mehr so leicht! Wie kann ich meinen Kinder „Normalität“ als etwas positives zeigen, wenn die Welt immer nach etwas einzigartiges sucht?
Bei mir fing es mit 11 an - meine Schule war das beste Gymnasium in der Gegend und es war sehr sehr wichtig in Vereinen zu sein, Prefect zu sein - alles für den Lebenslauf. Ich verstand das Ganze einfach nicht - ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendwelche Freizeitaktivitäten aus der Teenagerzeit für meinen zukünftigen Arbeitgeber von Interesse sind würden. Ich habe die Schule gehasst. Mein erster Freund nach der Schule war ein Amerikaner aus Kalifornien, der nie für Prüfungen lernte und mir das Wort Chillaxing beibrachte!