Dieser Text ist Teil meiner Serie über Körper. Hier findet ihr alle Teile. Ihr könnt sie unabhängig voneinander lesen.

Habt ihr Narben?
Ich habe eine am Kopf, von einem unkontrollierten Sandkastenspiel mit etwa sieben Jahren (es war eine Harke involviert), eine am Schienbein von einem Zero-Waste-Rasierhobel, der nicht nur Haare entfernte, und eine am Daumen vom Kajakfahren, die jedoch fast verschwunden ist. Diese Spiel-, Spaß- und Schönheitsnarben sind Ausdruck einer privilegierten Position – es sind keine Arbeitsnarben, keine Ich-hatte-keine-andere-Wahl-Narben. Diese diskutiert Olivier David in seinem Essay Der arme Körper im Essayband Von der namenlosen Menge. Er beschreibt eine Narbe an seinem Handrücken, die er mit sieben Jahren beim Abbau des Gemüsestands seines Vaters bekam – als ich im Sandkasten spielte und nicht darüber nachdachte, was abends mit Gemüseständen passierte, denn meine Eltern sind Ärzt*innen. Er nennt sie zu Recht eine „Klassennarbe“, denn unsere Klassenposition beeinflusst unsere Körper. Nicht nur unsere Haut oder noch oberflächlicher, wie wir uns kleiden, frisieren oder unsere Nägel schmücken. Dieser Einfluss reicht bis in die letzte Zelle.
Das zeigt sich in der härtesten aller Messgrößen: der Lebenserwartung. Die reichsten Frauen in Deutschland leben in Deutschland 4,4 Jahre länger als die ärmsten, die reichsten Männer sogar 8,6 Jahre. In diesen Zahlen kumulieren Faktoren wie eine erhöhte Exposition gegenüber Schadstoffen, überbelegte Wohnungen, finanzielle Sorgen, mehr Stress, ein unsicherer Arbeitsplatz oder Arbeitslosigkeit, körperlich anstrengende Berufe mit hoher Verletzungsgefahr, Migrationserfahrungen, Rassismus, eine erhöhte Anfälligkeit für Erkrankungen bei schlechterer Gesundheitsversorgung und viele weitere.
Armut macht krank, aber Krankheit macht auch arm: durch verlorene Jobs, vorzeitige Berentung, ausbleibende Zusatzqualifikationen oder Beförderungen. Dieser Teufelskreis nutzt unsere Körper, um die Klassenverhältnisse zu stabilisieren: Wer unten geboren ist, bleibt dort, und die Angst der Mitte vor dem Abstieg wächst. Die soziale Ungleichheit in Deutschland steigt, während Merz und Co. von Chancengleichheit schwafeln.
Als Ärztin sehe ich die Effekte von Klasse auf Körper täglich (weil ich das will – viele Kolleg*innen interpretieren die strukturellen Effekte von Klasse lieber als Faulheit oder mangelnde Eigenverantwortung, denn dann müssen sie das System nicht hinterfragen).
In der orthopädischen Praxis sah ich viele Arbeits- und Wegeunfälle. Letztere können alle treffen, arm und reich, die einen Arbeitsweg haben (was diejenigen, die für ihr Geld nicht arbeiten müssen, ausnimmt). Arbeitsunfälle dagegen sah ich vermehrt in schlechter bezahlten Branchen: Verbrennungen und Schnittwunden in der Gastronomie, Prellungen und Knochenbrüche bei Autoherstellern und anderen Fabrikarbeiter*innen, Wirbelsäulenverletzungen bei Baumpfleger*innen. Schreibtischtäter*innen waren selten dabei.
Wenn eine Verletzung als Resultat eines Arbeits- oder Wegeunfalls gilt, kommen die Berufsgenossenschaften für die Behandlung auf. Das ist für Patient*innen insofern relevant, dass sie z. B. bei längerer Arbeitsunfähigkeit ihren vollen Lohn statt Krankengeld erhalten und nicht um Physiotherapie feilschen müssen. Aber Verschleiß zählt nicht als Arbeitsunfall und auch die Anerkennung von Berufskrankheiten ist kompliziert und langwierig. So schreiben sich unsere Berufe in unsere Körper ein. Diejenigen mit weniger gefährlichen Berufen sind sich dieses Privilegs kaum bewusst – auch weil ihre Körper sie nicht täglich mit Knieschmerzen oder gerade verheilenden Schnittwunden daran erinnern.
Geld ist ein häufiges Thema in meiner Sprechstunde: Die Zuzahlung für die Einlagen ist zu hoch, deshalb werden sie „sparsam“ getragen und nicht ersetzt – und die Füße schmerzen weiter. Das Gleiche gilt für die Zuzahlung für Medikamente, deshalb soll ich gar keine Physiotherapie aufschreiben, das sei nur noch eine Rechnung (eine Befreiung von Zuzahlungen ist möglich, der Antrag erfordert jedoch Zeit und bürokratische Kompetenz). Die Gynäkologin hat eine Creme empfohlen, die die Krankenkasse nicht bezahlt, aber weil sie zu teuer ist, wird das ständige Unwohlsein weiter ausgehalten (mehr zum Thema Geld und Krankheit habe ich hier geschrieben).
Wer hingegen Geld hat, denkt nicht über Zuzahlungen nach, sondern möchte in die Gesundheit investieren. Bitte alle Blutwerte und Vitamine bestimmen, nur um sicher zu sein, dass alles in Ordnung ist. Eine Empfehlung, um die Narben im Gesicht der zweijährigen Tochter unsichtbar machen zu lassen. Ein Attest für den Bootsführerschein oder die Anmeldung zum Marathon.
Natürlich werden auch reiche Menschen krank – zu Krankheit gehört neben Risikofaktoren immer Pech – und leiden darunter. Aber es hilft, nicht zusätzlich noch Geldsorgen zu haben. Außerdem vereinfachen Geld, Bildung und das damit einhergehende Selbstbewusstsein den Kampf um die bestmögliche Versorgung für sich und die Familie. Und notfalls kaufen sie diese Versorgung eben, es ist ja nur Geld.
Auch das Gesundheitssystem trägt dazu bei, dass Gesundheit nicht klassenlos ist. Das Inverse Care Law1 wurde erstmals 1971 vom britischen Arzt Julian Tudor Hart beschrieben. Es besagt, dass „die meisten und besten Gesundheitsressourcen gerade da zur Verfügung stehen, wo privilegierte Menschen leben, die wissen, welche Leistungen ihnen zustehen und wo sie sie bekommen.“2 Deswegen wimmelt es in reichen Stadtteilen von Arztpraxen, während sie in ärmeren Vierteln spärlich gesät sind. Dieser Effekt ist stärker, je mehr das Gesundheitssystem marktwirtschaftlich gesteuert ist. Mehr Praxen führen zwar nicht zwangsläufig zu besserer Versorgung – Reiche-Leute-Praxen konzentrieren sich nicht unbedingt allein auf Gesundheit, sondern können zur Gewinnmaximierung auch Leistungen anbieten, für die es keine wissenschaftliche Evidenz gibt. So bekommt beispielsweise Homöopathie einen Anstrich von Seriosität. Trotzdem ist die Hürde zur Behandlung niedriger. So werden chronische Erkrankungen früher erkannt und behandelt und akute Probleme gelöst, bevor sie zum Notfall werden.
In Deutschland ist die kassenärztliche Vereinigung (KV) für die Organisation der ambulanten Versorgung zuständig. Sie vergibt Kassensitze, wodurch Ärzt*innen erst die Möglichkeit bekommen, mit gesetzlichen Krankenkassen abzurechnen (und über 90 % der Bevölkerung zu behandeln). Um die Verteilung zu beeinflussen, kann die KV einen Kassensitz in einem bereits gut oder überversorgten Gebiet verwehren. Sie kann jedoch niemanden zwingen, sich in einem unterversorgten Gebiet niederzulassen. Stattdessen setzt sie Anreize wie kostenlose Sitze, aber eine Praxis in einem reicheren, ergo gesünderen Viertel ist für viele attraktiver: mehr privat versicherte oder zuzahlungsfähige Patient*innen, die gesünder, also weniger komplex, sind und so zu einer höheren Patient*innenzahl und mehr Geld führen. Und jeder Euro, der nach Rechnungen und Gehalt der Mitarbeiter*innen übrig bleibt, fließt in die eigene Tasche.
Solange Ärzt*innen auch Unternehmer*innen sind, wird das Inverse Care Law gelten. Ein radikales Rezept dagegen wäre, alle Praxisinhaber*innen zu enteignen, sie bei der kassenärztlichen Vereinigung anzustellen und nach Bedarf in die Praxen zu verteilen. Dann bekämen sie ein festes Gehalt, egal, was sie abrechnen, und könnten ihrem Versorgungsauftrag frei von ökonomischem Kalkül nachkommen. (Als ich das bei einem Allgemeinmedizinkongress vorgeschlagen habe, fand das nur bei dem Teil des Publikums ohne eigene Praxis Anklang …)
Selbst eine so weitreichende (und aktuell utopische) Reform des Gesundheitswesens würde den Zusammenhang zwischen Körpern und Klasse nicht vollständig aufbrechen. Die meisten Menschen suchen erst medizinische Hilfe, wenn ihr Körper (oder Geist) bereits ein Problem hat. Deshalb braucht es Prävention, insbesondere auf gesellschaftlicher statt individueller Ebene, um Körper und Klasse voneinander zu entkoppeln. Denn diese Verbindung ist nicht naturgegeben, sondern politisch gemacht und deshalb veränderbar (Olivier David bezeichnet deshalb Körper in seinem Essay als gesellschaftliche Sollbruchstelle). Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen und mehr Arbeitsschutz. Das bedeutet: Schutzausrüstungen wo nötig, längere Pausen, längere Ruhezeiten, höhere Löhne und Gehälter, einen Mindestlohn, der nicht zur Altersarmut verdammt. Kürzere Arbeitszeiten, Teilzeit als neue Vollzeit bei vollem Lohnausgleich (ja, ich lande in gefühlt jedem Text bei diesem Punkt, doch das beweist nur, dass wir nicht für 40-Stunden-Wochen gemacht sind). Dann führen körperliche Jobs zu weniger Verschleiß und auch geistige Jobs pressen die Gehirne nicht mehr vollständig aus.
Neben gesünderer Arbeit brauchen wir gesündere Lebensbedingungen: Saubere Luft, weniger Lärm, mehr Grün, mehr kulturelle Angebote auch außerhalb von Großstädten, eine Grundsicherung, von der alle leben können, Bildung, deren Erfolgschancen nicht vom Elternhaus abhängen, Zeit und Geld für gesunde Ernährung, Bewegungsangebote, bei denen wir Spaß an unseren Körpern haben, statt auf Leistung gedrillt oder geshamet zu werden. Und nicht zuletzt eine Gesundheitsversorgung ohne Inverse Care Law, in der unser Kontostand wirklich irrelevant ist.
In so einer Welt wären unsere Körper kein Spiegel der Gesellschaft, sondern unsere Privatangelegenheiten. Keine*r müsste beten, dass der Rücken, die Knie, die Handgelenke es bis zur Rente schaffen, weil auch wenn das Pech zuschlägt für alle gesorgt wäre. Marathons wären kein Statussymbol mehr, sondern ein Hobby für Menschen, die gern übertreiben. Und unsere Narben? Sie wären das Ergebnis von zufälligen Unfällen statt von der Geburt in die falsche Klasse.
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Lektorat: Katharina Stein
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PPS: Teil 7 der Körper-Serie ist noch einen Monat vor der Paywall:
#70: Viren und Empathie
Dieser Text ist Teil meiner Serie über Körper. Hier findet ihr alle Teile. Ihr könnt sie unabhängig voneinander lesen.
Meine Übersetzung: Das Gesetz der umgekehrten Versorgung
Starker Text! Danke dafür!
Private Arztpraxen abschaffen habe ich noch nie gehört, aber mir gefällt die Idee sehr gut. Wenn die KV sich um die Praxen und deren Verteilung kümmert, nimmt das doch bestimmt auch Arbeit von den jetzigen Praxisinhabern ab und sie können sich mehr um die wirklich wichtigen Aufgaben kümmern 🤔