Dies ist Teil III meiner Serie über Körper. In Teil I schreibe ich über die Emanzipation vom Idealgewicht und Teil II über meinen Umgang mit dem Gewicht meiner Patient*innen. Hier findet ihr alle Teile. Ihr könnt sie unabhängig voneinander lesen.
Stellt euch eine schöne Frau vor.
Wahrscheinlich entsteht dabei in euren Köpfen ein sehr ähnliches Bild: Eine sehr dünne Frau mit großen Brüsten, schmaler Taille und langen schlanken Beinen. Ihr Gesicht ist symmetrisch mit vollen Lippen, dunklen langen Wimpern und rosigen Wangen. Wahrscheinlich ist sie weiß und mittelgroß mit langen Haaren. Sie hat natürlich keine sichtbare Behinderung oder chronische Erkrankung.
Schönheitsideale sind überall – deshalb kann ich eure mentalen Bilder beschreiben, ohne euch zu fragen oder zu kennen. Denn unsere Gehirne marinieren seit unserer Kindheit in diesen Ideen. Ich kann gar nicht sagen, wann das anfing, aber ich weiß, dass ich die Mutter meiner besten Freundin mit ihren langen blonden Haaren schöner fand als meine eigene mit kurzen dunklen Haaren (mittlerweile habe ich selbst kurze dunkle Haare).
Ideale und Normen leben von Vergleichen: Entspreche ich ihnen? Oder wenigstens besser als mein*e Nachbar*in? Jeder Vergleich stärkt das Ideal, denn er akzeptiert es als Maß des Richtigen, des Gewünschten, statt es zu hinterfragen oder zu verbrennen wie einen unbequemen BH.
Schönheitsideale sind so wirkmächtig wie unentrinnbar. Weil in medialen Darstellungen fast alle ihnen entsprechen, werden sie in unserer Vorstellung zu Normen. Das ist ein feiner, aber wichtiger Unterschied: Ein Ideal ist Perfektion und hat damit einen gewissen Abstand von der Realität. Normen hingegen müssen erfüllt werden, damit etwas überhaupt zu gebrauchen ist: Fast alles, was wir online bestellen können, ist DIN-genormt und auch unsere Körper werden in dieser Vorstellung zu Produkten, die gewisse Anforderungen zu erfüllen haben. (Allerdings ist der Umtausch in diesem Fall ausgeschlossen.) Deshalb lassen Vergleiche mit Schönheitsnormen uns noch inadäquater zurück als Vergleiche mit unerreichbaren Idealen, denn Normen sollten schließlich erfüllbar sein.
Dabei wissen wir, dass das bei Schönheitsnormen, die eigentlich Ideale sind, nicht der Fall ist. Dass es Photoshop und Filter gibt. Dass nichts ist, wie es scheint. Dass selbst Models diese Ideale nur auf Bildern erfüllen. Diese Unerreichbarkeit ist ein wichtiger Aspekt der Ideale: Dadurch müssen wir ständig an uns arbeiten, um ihnen wenigstens ein klitzekleines Bisschen besser zu entsprechen. Wir sind nie fertig, nie schön genug.
Trotzdem wird uns Erreichbarkeit vorgegaukelt: Wenn wir uns nur genug anstrengen, wenn wir nur genug Geld ausgeben, können auch wir schön – oder wenigstens schöner – sein. Mit ausreichend Ressourcen und Schmerzbereitschaft ist das Ideal mit den heutigen technischen Möglichkeiten eventuell sogar erreichbar: Botox, Hyaluron, Operationen, Haartransplantationen etc. können zumindest reiche Durchschnittsmenschen in strahlende Schönheiten verwanden. Für alle anderen muss ein digitaler Filter reichen. So funktioniert der Kapitalismus: Wer hat, dem wird gegeben. Die Reichen und Schönen werden noch schöner und schieben damit das Schönheitsbarometer weiter nach oben. So zementieren sie ihren Status und ihre Privilegien.
In einer schönheitsbessenen Gesellschaft ist es also nur rational, Zeit, Geld und Schmerz zu investieren, um diesen Idealen besser zu entsprechen. Trotzdem bin ich jedes Mal schockiert, wenn eine Kollegin mir von einer geplanten oder erfolgten Schönheits-OP erzählt. Auf intellektueller Ebene kann ich den Drang in Ansätzen nachvollziehen, doch auf emotionaler Ebene erscheint mir der Preis zu hoch. Jahrelang die neuen Brüste abbezahlen? Nach der Bauch-Beine-Po-Fett-Absaug-OP sechs (!) Wochen (!) liegen(!)? Meterlange Narben? Vollnarkose für einen medizinisch nicht notwendigen Eingriff? Nein danke. Vielleicht weiß ich zu viel über die Risiken, auch wenn ich ebenfalls weiß, dass diese im niedrigen Prozentbereich liegen. Aber wie peinlich wäre es, an einer Schönheits-OP zu sterben? Vielleicht bin ich zufrieden genug mit meinem Körper, dass ich nicht mit Schmerzen und Risiken dafür bezahlen würde, ihn zu verändern (wäre schmerz- und risikofreie Magie eine Option, sähe meine Entscheidung möglicherweise anders aus).
Allerdings habe ich mir vor acht Jahren die Augen lasern lassen, was ebenfalls medizinisch nicht notwendig war (meine Brille hat ausgezeichnet funktioniert) und als Schönheits-OP klassifiziert werden könnte. Zwar standen bei meiner Entscheidung praktische Überlegungen im Vordergrund (meine ausgestreckte Hand scharf sehen! Im Sommer nicht ständig die Sonnenbrille mit Sehstärke mit der normalen Brille tauschen müssen! Morgens einfach die Augen öffnen und alles erkennen!), aber ohne Brille sah ich definitiv anders aus. Würden Menschen mich dann anders wahrnehmen, mir anders begegnen?
Diese OP war teuer (trotz 10% Studi-Rabatt), unangenehm und ein bisschen schmerzhaft – chirurgische Werkzeuge im Auge sind noch ekliger als diese Beschreibung klingt. Es dauerte eine Woche, bis ich wieder so gut sehen konnte wie vorher mit Brille. Ich hatte etwa ein halbes Jahr lang trockene Augen, sodass ich Expertin darin wurde, mir künstliche Hyaluron-Tränen in die Augen zu tropfen. Trotzdem war es das absolut wert. Soweit ich weiß, sind meine operierten Kolleginnen mit ihren Ergebnissen ähnlich zufrieden.
Ich tue im Namen der Schönheit weiterhin fragwürdige Dinge. Vor ein paar Monaten hatte ich mir in den Kopf gesetzt, eine Gesichtsbehandlung zu machen. Davon hatte ich keine konkrete Vorstellung, aber mir schwebten sanfte Peelings, Gesichtsmasken und im besten Fall eine kleine Massage vor. Also buchte ich über Treatwell, eine App zur Suche nach Schönheitsbehandlungen, einen Termin. Eine Stunde später lag ich auf einer Liege, über mir ein rundes Licht, das jede Unebenheit, jedes Pickelchen, jede beginnende Falte in Szene setzte.
Die Kosmetikerin sagte: „Oh,“ als ich sie darüber informierte, dass ich mein Gesicht nur wusch und eincremte, sonst nichts. Sie empfahl mir dringend ein Fruchtsäurepeeling und Radiofrequenz-Microneedling als Antiaging. Da mir das zu teuer war, einigten wir uns auf Fruchtsäure und normales Microneedling. Das fraß zwar auch das Spaßbudget eines gesamten Monats, doch ich wollte nicht unbehandelt wieder nach Hause gehen.
Ein Fruchtsäurepeeling brennt und zieht an der Haut. Es fühlt sich so an, als würde die oberste Hautschicht drei Zentimeter über dem Gesicht schweben. Ein Hustenanfall bringt Erleichterung, weil die Bewegung des Gesichts die Spannung des Peelings löst.
Beim Microneedling wird mit kleinen Nadeln Serum in die tiefen Hautschichten eingearbeitet, um größere Antiagingeffekte zu erzielen. Das ist noch schmerzhafter als es klingt.
Danach hatte mein Gesicht die Farbe einer mittelreifen Kirsche; die Kosmetikerin sprach von einem „ganz tollen Glow.“ Dann empfahl sie mir ein Serum und ein Peeling, die ich natürlich kaufte; mein Besuch sollte sich schließlich lohnen. Jetzt tropfe ich mir abends brav Serum ins Gesicht. Das Peeling habe ich auch schon dreimal benutzt.
Jünger sehe ich nicht aus. Das entspannendste an der Behandlung war die Hintergrundmusik. Ich sollte eigentlich sechs Wochen später wiederkommen, aber verzichtete auf die erneuten Schmerzen. Mir dämmerte erst später, dass Antiaging ein perfekter Marketingcoup ist: Angeblich dient es der Prävention, also kann man ausnahmslos allen diese Behandlungen und Produkte verkaufen.
Doch dann sagte meine Kollegin – nachdem ich ihr von dieser Aktion erzählt hatte – dass meine Haut wirklich besser aussehe als sonst. Schnell ein Blick in den Spiegel. Vielleicht weniger Pickelchen? Wurde durch die Fruchtsäure einfach alles weggeätzt? Oder funktionieren solch teure Behandlungen wirklich, denn wie sonst lässt sich ein Geschäftsmodell erklären, das auf Stammkund*innen beruht? Allerdings könnten die Preise ebenso gut einen starken Placeboeffekt auslösen (ich zahle doch kein Vermögen, um dann keine Effekte zu sehen!), vor allem bei etwas so subjektivem und tagesformabhängigem wie unserem Hautbild.
Ich würde gern schreiben, dass ich das nie wieder mache. Doch ein Teil von mir hofft bloß, dass Serum und Peeling so sensationell sind, dass es nicht mehr nötig wird. Ein weiterer zweifelt und wirft die Frage auf, ob vielleicht erst durch regelmäßiges Microneedling ein Effekt zu erwarten ist und noch klarere Haut wäre ja schon nice … Ein dritter herrscht die anderen an, sich zusammenzureißen und unsere feministischen Ideale zu leben, in diesem Fall also in Würde zu altern und unsere Pickelchen nonchalant durch die Welt zu tragen.
Ihr seht also, wie wirkmächtig neoliberale Schönheitsideale trotz teilweiser Emanzipation davon sind: Diese Behandlung war schmerzhaft, teuer und von dubioser Effektivität. Trotzdem bin ich nicht wie eine aufgeklärte Feministin von der Liege gesprungen, als die Kosmetikerin mir die Preise nannte, sondern dachte: „Einmal kann ich es ja ausprobieren.“
War es das wert, weil ich um eine Erfahrung reicher bin? Weil es Gesichtsbehandlungen entzaubert und mich von ähnlichen Aktionen abgeschreckt hat? Weil ich nun weiß, dass meine Emanzipation von Schönheitsidealen noch nicht abgeschlossen ist?
Mein Verhältnis zu diesen Idealen bleibt ambivalent. Ich bin froh, ihnen einigermaßen zu entsprechen. Sonst würde ich mich möglicherweise nicht trauen, ungeschminkt herumzulaufen (einzige Ausnahme: Hochzeiten). Gleichzeitig würde ich ihnen gern besser entsprechen, obwohl ich weiß, dass das vergeblich ist – sobald ein „Problem“ gelöst ist, wird der Spiegel mir ein neues präsentieren und der Kapitalismus mir Werbung für seine Lösung schicken. Außerdem weiß ich, dass ich nicht bereit bin, die nötigen Opfer für mehr Schönheit zu bringen: Ich will nicht noch mehr Zeit, Schmerz und Geld investieren, um den Idealen zu entsprechen, auch wenn ich gern so aussehen würde (hier wäre diese schmerz- und risikofreie Magie wieder praktisch).
Was hält mich davon ab, mit Microneedling, Botox und Makeup den Idealen hinterherzuhetzen? Nur Faulheit, Geiz und Angst vor Schmerzen? Oder ist da ein echtes Unbehagen mit den Normen, das über Ambivalenz hinausgeht? Ist es ein politisches Statement, eine widerständige Entscheidung, es nicht zu tun? Oder ruhe ich mich darauf aus, den Idealen genug zu entsprechen, um gut durchs Leben zu kommen?
Aktive Subversion kann dazu beitragen, Sehgewohnheiten zu ändern und die Macht der Ideale zu schmälern. Aber sind meine kurzen Haare, mein ungeschminktes Gesicht Subversion? Oder kann ich das machen, weil mein Gesicht relativ symmetrisch ist, meine Haut weitgehend rein, meine Augenbrauen und Wimpern fast schwarz? Bin ich also eher eine Variation des Ideals statt seine Subversion? Oder trage ich gar dazu bei, das Ideal zu verschieben, im Sinne von: „Ihr müsst ungeschminkt aussehen, aber trotzdem schön!“
Was machen wir also mit diesen Idealen, mit diesem Druck, den sie auf uns ausüben? Wie können wir uns von ihnen emanzipieren? Ich habe noch keine guten Antworten auf diese Fragen gefunden. Wahrscheinlich ist die Auseinandersetzung damit ein lebenslanger Prozess, der mit jeder Veränderung unserer Körper, mit der gesellschaftlichen Stimmung und unserer sich wandelnden Lebenssituation neue Impulse bekommt.
Hauptsache, wir denken über diese Ideale nach und hadern mit ihnen, statt sie fraglos zu akzeptieren und ihnen hinterherzuhetzen.
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Zurzeit erscheint er ein- bis zweimal im Monat.
PS: Im nächsten Teil dieser Serie über körperbasierte Diskriminierung, die unter anderem aus diesen Idealen entsteht.
PPS: Hier findet ihr meinen Text zu meinen im Lockdown auf neun Millimeter rasierten Haaren und wie das mein Nachdenken über Schönheit beeinflusst hat:
Finde diese Schönheitsideale bzw NORMEN als nicht-binäre afab Person extrem weird. Von vielen so-called weiblichen Schönheitsnormen habe ich mich nie angesprochen gefühlt - ich hatte nie eine Skincare-Routine, ich habe mir nie Sorgen gemacht, ob mein Haar seidig genug ist, meine Augenringe zu tief. Gleichzeitig gehört das Strugglen mit diesen Normen so sehr in einen feministischen Diskurs, dass ich mich bis zu meinem Coming-Out schlecht gefühlt habe, dass ich mich nicht schlecht fühle wegen meiner Poren/Stroh-Haare/Augenringe. Seit dem Coming-Out aber kann ich getrost sagen "betrifft mich nicht!.
Gleichzeitig bin ich überhaupt nicht frei von Schönheitsnormen und das hat sehr viel mit Gender zu tun. Ich habe zB ein übelstes Problemn mit meiner Cellulite - einfach weil Cellulite weiblich gegendert wird. Und dann habe ich ein Problem damit, dass ich ein Problem mit der Cellulite habe, weil nur cis Frauen Probleme mit ihrer Cellulite haben.
Fühl die Ambivalenzen sehr :) kennst du Jessica DeFino? Sie schreibt total viel über Skincare-Diskurse, find ich sehr spannend. Meist wird das ja nicht mehr als anti aging geframed und vermarktet sondern als WELLNESS. Und wir fühlen das wohl teilweise auch.