Aus Angst vor einer rekordverdächtigen Corona-Frisur lieh ich mir Ostern 2020 einen Rasierapparat und ließ mir von meiner Mitbewohnerin eine 12-mm-Kurzhaarfrisur, also einen Buzz Cut, verpassen. Das war nicht Teil meiner langfristigen Haarplanung, aber ein Foto von vor drei Sommern, als meine Kurzhaarfrisur schlimm rausgewachsen war, verfolgte. Deshalb sah meine Eitelkeit im Lockdown keinen anderen Ausweg. Auch meine WG, meine beste Freundin und meine Schwester waren dafür (letztere schickte mir den Lorde-Ohrwurm It’s Buzz Cut Season), mein Partner hielt sich bedeckt, weitere Teilnehmer*innen brauchte ich für diese Umfrage nicht. Eine kurze Pinterest-Recherche bestätigte die Entscheidung nur. Außerdem würden die Haare nachwachsen; und von einer längeren auf eine ziemlich kurze Kurzhaarfrisur war sicher eine kleinere Veränderung als von langen halb blauen Haaren zur Kurzhaarfrisur. Den Schritt hatte ich auch nie bereut. Im Gegenteil, wenn ich gewusst hätte, wie praktisch Kurzhaarfrisuren sind, hätte ich mich Jahre früher getraut.
Wir begannen die Rasur quer durch die Mitte, damit es kein Zurück gab. Die Reaktionen waren gemischt, von „bisschen Sträfling“ (danke, Mama) zu heller Begeisterung (danke, lieber Praktikant). Ich fühlte mich wohl und der Rest war mir egal, schließlich brauchten meine Haare nur noch fünf Minuten zum Trocknen und mehr kann ein Mensch vom Leben wirklich nicht verlangen.
Mein Partner gewöhnte sich schnell daran und strich mir viel über den Kopf (ich selbst allerdings noch mehr, Stoppeln sind toll!). Zwar hätte ich mich über mehr Enthusiasmus gefreut, aber viel wichtiger war, dass er meine Entscheidung respektierte. Vor der Pandemie hatte ich von mehreren Frauen* gehört „Kurze Haare würden mich schon interessieren, aber mein Freund will das nicht…“ Meiner dagegen wusste, dass er kein Vetorecht über meine Haare hatte und lieh mir das nötige Werkzeug. Zu merken, dass er feministische Selbstbestimmung nicht nur verstanden hatte, sondern auch ausleben konnte, war besser als alle Komplimente der Welt.
Nach einer kurzen Gewöhnungsphase passierte etwas Interessantes: Ich schaute kaum noch in den Spiegel. Oft stellte ich mittags fest, dass ich gar nicht wusste, wie ich an dem Tag aussah. Ich! Die sich aus Eitelkeit die Haare hatte abrasieren lassen! Hatte ich die Spiegel in der Vergangenheit etwa nur konsultiert, um meine Frisur zu überprüfen? Jetzt saß die Frisur immer, meine Haare waren so kurz, dass sie nur in eine Richtung stehen konnten. Oder war ich weniger unterwegs und spiegelte mich seltener in Schaufensterscheiben? Allerdings sind in meiner Wohnung sieben Spiegel…
Ich ließ mir den Buzz Cut im Mai 2020 von meiner Friseurin nachrasieren. Die professionelle Variante „hielt“ deutlich länger – Friseur*in lohnt sich! Dann wuchs er raus und ich brachte das Deckhaar mithilfe einer Stylingpaste in die Form meiner alten Frisur. Immer häufiger schafften die Haare das auch allein.
Wenn ich die Paste benutzte, kontrollierte ich häufiger im Spiegel, ob alles saß (außer an den häufigen Tagen, an denen ich vergessen hatte, dass ich sie benutzt hatte…). Aber insgesamt war ich weiterhin relativ spiegelunabhängig. War das ein nachhaltiger Effekt? (Anmerkung Juli 2021: Nein). Doch ich habe gelernt, dass die Welt sich – Überraschung! – weiterdreht, auch wenn eine Frau* gerade nicht weiß, wie ihre Haare aussehen.
Jetzt habe ich seit fast einem Jahr wieder meine alte Kurzhaarfrisur, nur in etwas kürzer. Warum? Ich war neugierig auf die Zwischenlängen auf dem Weg dorthin und fand tatsächlich eine noch bessere Frisur. Ich wohne in einer sehr kalten Altbauwohnung, in der ich im Winter mit Buzz Cut eine Mütze tragen müsste. Damals arbeitete ich auf einer Palliativstation und fühlte ich mich manchmal unwohl, freiwillig eine Frisur zu tragen, zu der die Chemotherapie andere zwang. Ende des Jahres war die letzte mündliche Prüfung des Medizinstudiums und ich wollte den potentiell konservativen Prüfer*innen möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Ja, dass das ein gutes Argument war, verursacht mir heute noch Übelkeit, aber das verjagt es leider nicht.
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In der Buzz Cut Phase stolperte ich über einen Instagram-Post (und speicherte ihn bescheuerterweise nicht), der eine Verbindung zwischen den Anti-Crossdressing-Gesetzen der 1960er in New York und unserem heutigen Umgang mit gender-nonkonformem Stil hergestellte. Dieser Gesetze bestraften Menschen, die weniger als drei Kleidungsstücken, die zu ihrem von der Polizei festgelegtem Geschlecht passten, trugen. Zwar gibt es sie seit den 1970ern nicht mehr, doch ihr Gespenst lebt fort: Zum Beispiel in Tipps wie „Oh, zu den kurzen Haaren werden große Ohrringe und roter Lippenstift toll aussehen!“ Wer mitzählt merkt, dass zwei eindeutig feminine Accessoires – große Ohrringe und roter Lippenstift – das nicht mehr eindeutig weibliche Haar ausgleichen sollen.
Der Post hat mich so bewegt, weil ich diese Regeln befolgte, ohne sie kennen: Mehr Schmuck zum Männerhemd. Ohrringe zur Unisex-Krankenhauskleidung. Enges Oberteil zur weiten Hose. Lippenstift habe ich zum Buzz Cut zwar nur einmal getragen, doch das lag nicht an plötzlicher Emanzipation von Gender-Stereotypen, sondern daran, dass Lippenstift sich unter einer Maske schnell auf die gesamte untere Gesichtshälfte verteilt, was an allen Geschlechtern gewöhnungsbedürftig aussieht. Es macht mich traurig, diese Stereotype so internalisiert zu haben.
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Ohne Corona hätte ich nicht den Mut zum Buzz Cut gehabt. Doch ich wusste, dass alles nachwächst, bevor die Pandemie endet, dass ich es auf den Lockdown schieben konnte. Ihr merkt: Das ist Code für „Je weniger ich in die Gesellschaft gehe, desto schlechter kann sie ihre (Gender-)Stereotype durchsetzen!“
Zwar ist die Luft um den Kopf im Sommer sehr angenehm, aber ich werde trotz Klimawandel bei meiner aktuellen Frisur bleiben. Kann es Zufall sein, dass das die gesellschaftlich akzeptierte Variante ist? Mein Geschmack ist in dieser Gesellschaft herangereift; ich kann nicht trennen, was aus mir kommt und was gesellschaftlich geprägt ist. Aber seit Mom Jeans im Trend sind, finde ich sie schön, während ich mich vor fünf Jahren niemals in einer weiten Jeans hätte blicken lassen. Geschmackliche Unabhängigkeit zu behaupten, ist also vergeblich.
Einerseits hat der Buzz Cut mich von der ständigen Spiegelbild-Kontrolle befreit. Andererseits hat er mir gezeigt, wie eng mein Gender-Korsett ist. Trotz Feminismus, trotz Linkssein, trotz 2020. Kleide ich mich jetzt androgyn, obwohl das nicht meinem Geschmack entspricht, um die Stereotype mit Expositionstherapie zu verscheuchen? Aber das Leben ist zu anstrengend, um absichtlich Kleidung zu tragen, in der ich mich nicht 100% wohl fühle.
Ändert das Bewusstsein über meine Genderkonformität irgendwas? Oder hoffe ich bloß, dass es radikal ist, Ohrringe zu tragen und trotzdem darauf zu bestehen, dass mein Partner mindestens so viel Elternzeit nimmt wie ich? Röcke tragend zu kritisieren, dass es immer noch zu viele männliche Oberärzte gibt, von Chefärzten ganz zu schweigen? Mit Lippenstift gegen Vergewaltigungskultur zu demonstrieren?
Wie soll ich Gender-Binarität kritisieren, wenn einer der Pole mich gut beschreibt? Doch nur weil der Status Quo mich nicht unterdrückt, darf ich ihn nicht gutheißen. Ich kämpfe auch gegen Rassismus, ohne davon betroffen zu sein. Um es genauer auszudrücken: Gerade weil ich in diesen Bereichen privilegiert bin, muss ich gegen Rassismus und für Gendervielfalt kämpfen. Idealerweise schaffen wir das Patriarchat ab, bevor meine Haare grau werden. Dann müsste ich nämlich nicht entscheiden, ob ich sie färben soll…
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