Falls ihr das vor Sonntag 18:00 Uhr lest: Geht wählen, wenn ihr dürft, und wählt demokratisch!
Bevor die amerikanische Ökologin und Mitglied der Citizen Potowatomi Nation Robin Wall Kimmerer Süßgras, Ackerknoblauch oder andere (Wild-)Pflanzen erntet, bittet sie um Erlaubnis. Bekommt sie diese, streut sie zum Dank etwas Tabak um die Pflanze und pflückt nur so viel, wie sie braucht. Diese Praxis nennt sie in ihrem Buch Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen „honorable harvest,“ also ehrenvolle Ernte.
Ich lebe in der Großstadt und ernte gar nichts. Vor meinem Fenster wachsen zwar Bäume, aber ich weiß nur ungefähr, um welche Arten es sich handelt. Vielleicht eine Platane, ein Ahorn. Doch was für eine der 110-200 Ahornarten1 werde ich erst klären können, wenn er wieder Blätter trägt. Auch meine Zimmerpflanzen kann ich nur teilweise benennen und wenn ich ihre Sprache verstünde, hörte ich wohl einige Beschwerden bezüglich ihres Zustands.
Aber Kimmerer hat einen Vorschlag für Stadtmenschen: Auch wir können uns mit Gedanken ans Leben – vor allem das nicht-menschliche – durch die Welt bewegen. Beim Essen ist das am einfachsten: Selbst wenn es aus einem Supermarkt kommt, können wir dem Kaffeebaum, der Milchkuh, den Weizenfeldern, den Nussbäumen oder Blaubeersträuchern danken (oder überhaupt an sie denken). So fügt das gehetzte Frühstück sich in ein großes Ganzes und wir kommen der Natur trotz unserer asphaltierten Umgebung näher.
Doch es endet nicht beim Essen: Vor der Lektüre von Geflochtenes Süßgras dachte ich nie daran, dass meine Jeans mal auf Baumwollfeldern standen, dass meine Lieblingssocken Bambuspflanzen waren. Dass ein bisschen Dankbarkeit angemessen sein könnte oder zumindest die Würdigung, dass Kleidung nicht vom Himmel fällt. Das erinnert mich daran, wie groß, komplex und beeindruckend die Natur ist.
Ich kann auch den Alpakas danken, wenn ich meine Stulpen anziehe, und den Schafen, die die Wolle gespendet haben, mit der ich die Mottenlöcher gestopft habe (den Motten danke ich nicht). Den Organismen, die vor Jahrmillionen gelebt haben und nun die Kohlenstoffgrundlage für die 2 % Nylon der Stulpen liefern, zu danken, fühlt sich hölzern an. Eine ähnliche Erfahrung macht auch Kimmerer, als sie sich an Dankbarkeit für ihre anderen Beisitztümer versucht. Beim Holztisch ist es intuitiv, aber die vielen Plastikgegenstände fühlen sich töter als tot an, obwohl des Erdöl, aus dem sie bestehen, aus Leben entstand.
Diese Dankbarkeit ist ungewohnt, mindestens. Auch das Wort „übertrieben“ streifte durch meine Gedanken. Aber sie ist eine Achtsamkeitsübung. Eine Pause. Und eine Konsumbremse. Sie zeigt mir, wie viel ich habe und dass meine Bedürfnisse befriedigt sind (oder das dafür Notwendige im Kühlschrank auf mich wartet). Dass der Wunsch – oder die Gier – nach etwas Neuem eben keine Notwendigkeit ist.
Mit dieser Dankbarkeit verschwindet die Gier nahezu automatisch. Dann leihe ich Bücher aus der Bibliothek und die darin verarbeiteten Bäume sind für viele gestorben, statt nur einmal gelesen zu werden. Dann stopfe ich meine Wollsocken auch ein zweites oder drittes Mal und ehre so das Geschenk das Schafs. Dann benutze ich mein Handy für zwei weitere Jahre, obwohl der schwache Akku nervt, und trage dazu bei, dass die Umweltzerstörung durch Litiumbergbau sich zumindest verlangsamt.
In der Stadt, in der wir mehr Werbung als Natur sehen, kann weniger konsumieren eine große Herausforderung sein (mehr dazu könnt ihr in Keas neuem Podcast hören). Doch mit diesem reduzierten Konsum kann ich die lebendige Welt honorieren, selbst wenn ich sie vor lauter Asphalt und Beton häufig vergesse. Und ich kann mich ohne die Abklenkungsmanöver des Konsums der Natur mehr zuwenden: Mit der S-Bahn in den Wald fahren und mich von seinen Bewohnern begeistern lassen. Endlich die Ahornbäume bestimmen. Die Zimmerpflanzen umsorgen. Durch diese Verbindung zur lebendigen Welt, die Erinnerung an die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, wird es leichter fallen, weniger zu konsumieren. Die Achtsamkeit, die Pause, die Stille wird sich immer häufiger einstellen.
Das ist nicht der eine Trick, der die Welt retten wird. Den gibt es nicht (dazu in zwei Wochen mehr). Es ist auch kein Ersatz für politisches oder gesellschaftliches Engagement. Aber es ist ein Anfang und eine angenehmere Art, durchs Leben zu gehen: dankbar statt gierig.
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#83: Lichtblicke an langen Wintertagen
Wenn ich eine Pause brauche, lese ich. Wenn ich mich ablenken will, entführen Bücher mich in Welten, in denen alles gut endet. Wenn ich eine neue Sprache lerne, erweitern sie mein Vokabular. Wenn meine Gedanken sich verknoten, entwirren sie sie. Wenn ich mi…
Laut Wikipedia variiert die Zahl je nach Autor*in.
Mag die Idee sehr! (Ich lese grad The Art of Frugal Hedonism, das wird vielleicht mein neues Life-Manual, da geht es auch viel um solche Konzepte.)