Teil 0: Vorbereiten
Nach einen Jahr Arbeit als Ärztin war ich so erschöpft, dass ich Schweigekloster googelte, obwohl ich aus der Kirche ausgetreten war. Ich redete in der Praxis den ganzen Tag und musste so viele Entscheidungen treffen, dass sie mich wie eine Welle vor sich hertrieben, während ich mich mit wackeligen Knien auf dem Surfbrett meiner ärztlichen Rolle zu halten versuchte. Einfach sein statt sprechen und entscheiden klang nach der perfekten Pause.
Eine Website versprach, mich durch einen Test mit dem richtigen Koster zu matchen: Will ich allein sein? Egal. Beten? Nein. Exerzitien? Was ist das?
So landete ich im Mai auf einem alten Bauernhof, der mir mit einem ausgebauten Dachboden und viel Grün eine Woche Stille versprach.
Tag –1
Ich packe meinen Rucksack für eine Reise aus meiner Komfortzone, schließlich war ich noch nie eine ganze Woche allein – halte ich es überhaupt so lange mit mir und meinen Gedanken aus? Ist schmerzhafte Einsamkeit garantiert? Breche ich vielleicht sogar zusammen?
Also lade ich Liebesromane auf meinen eReader, kaufe meine Lieblingsschokoriegel und Gummibärchen, packe einen kuschligen Pulli, dicke Socken, eine Wärmflasche und ein weiches Tuch ein. Ich hebe genug Geld für ein Taxi zum nächsten Bahnhof ab.
Trotz aller Sorgen freue ich mich auf eine Woche Ruhe, Spaziergänge im Grünen, Lesen, Nachdenken und vor allem darauf, dass zwischen mir und meiner To-Do-Liste 85 Kilometer liegen werden.
Teil I: Ankommen
Tag 0
Der Zug in die Stille ist laut und nicht klimatisiert; durch das offene Fenster klappert jeder Gleismeter in meine Ohren. Am Bahnhof erkenne ich meine Gastgeberin sofort. Auf der Fahrt erzählt sie mir etwas über die Gegend und den Hof, die Erfüllung ihres Lebenstraums. Dort angekommen zeigt sie mir mein Refugium: einen ausgebauten, lichtdurchfluteten Dachboden, mehr als doppelt so groß wie unsere Wohnung, ganz für mich allein. Ein kleines Schlafzimmer, das Bett ist bereits bezogen – gelbe Bettwäsche mit weißen Punkten. Der Kühlschrank ist nach meinen Wünschen gefüllt und sie werden mir jeden Mittag Essen vor die Tür stellen. Eine Meditationsecke, drei Yogamatten, zwei Blumensträuße aus dem Garten, zwei Sofas, fünf Korbsessel, insgesamt zehn Fenster in alle Himmelsrichtungen. Draußen habe ich einen privaten kleinen Hof mit Blick auf einen Fischadlerhorst, dazu gibt es Schaukeln, Bänke, ein kleines Labyrinth und kilometerweise Feldwege.
Tag 1
Ich starte den Tag mit einem Kaffee und einem Buch, so wie immer, wenn ich nicht arbeiten muss.
Der gemütliche Lesemorgen wird jäh unterbrochen, als eine Schwalbe durchs geöffnete Dachfenster in mein Refugium fliegt – schon wieder. Ist es dieselbe, die ich gestern Abend rausjagen musste? Ich öffne alle Fenster an meinem Dachbodenende, dann gehe ich zum Balken, auf dem die Schwalbe thront und hoffe, dass das reicht, um sie hinauszumotivieren.
Das Spiel wiederholt sich noch zweimal. Nachdem die Schwalbe – ich habe beschlossen, dass es immer dieselbe ist und ich nenne sie Rosi – es sogar durch ein gekipptes (!) Fenster hineinschafft und bei jedem Besuch ein Souvenir hinterlässt, schließe ich alle Fenster bis auf die beiden mit Fliegengitter. Rosi fliegt den Rest des Tages höhnisch an den geschlossenen Fenstern hoch.
Die ungewohnte Stille macht mich innerlich rastlos. Ich kann nicht lange bei meinem Buch bleiben und meine Hand wandert immer wieder Richtung Handy, obwohl es im Nebenzimmer liegt. Meine Gedanken sind abgehakt, nicht erhaben oder erkenntnisreich wie geplant. Bin ich doch nicht für die Stille geeignet? Wird eine Woche allein zu viel, wenn es mir schon am ersten Tag so geht?
Ich will die Stille ernst nehmen: wirklich in mich gehen, Erkenntnisse und Veränderungen zulassen, mich dem Prozess öffnen. Aber nicht um jeden Preis. Diese Woche ist auch eine Machbarkeitsstudie: Kann ich das? Oder rufe ich nach zwei Tagen ein Taxi und haue ab, zurück in den rettenden Lärm des Alltags?Deswegen beschließe ich, dass ich nicht alles aushalten, nicht in die Untiefen meiner Gefühle (meiner Probleme? Meiner Persönlichkeit?) vordringen muss. Ich kann in einer Woche sowieso nicht alles verstehen. Viel wichtiger ist es, eine gute Erfahrung zu machen. Damit ich wiederkomme. Wenn die Machbarkeit erwiesen ist, kann ich immer noch tiefer gehen. Das Unangenehme betäube ich mit einem Liebesroman, der mich in eine von Hexen bewohnte amerikanische Kleinstadt entführt und gar nichts mit Stille zu tun hat.
Teil II: Stille
Am zweiten Tag wache ich auf und das komische Gefühl ist verschwunden. Ich bin über Nacht angekommen. Kenne das Zwitschern der Schwalben, das Surren der Fliegen, das Klopfen der Regentropfen an den Dachfenstern, das Krähen des Hahns, das Heulen des Windes über den Feldern. Denn die Stille, das stelle ich schnell fest, ist gar nicht so still – Leser*innen mit solidarischem Bezahlabo finden am Ende dieser Mail ein paar Audio-Kostproben: Stille am Morgen, bei Nacht und am Teich.
Ab hier ergibt die Erzählung einzelner Tage keinen Sinn mehr: Jeder Tag ist gleich, jeder Tag ist anders, jeder Tag ist still. Ich will diese Tage nicht planen, will keine strenge Struktur – das hatte ich in auf der Arbeit genug. Stattdessen habe ich mir Elemente ausgesucht, an denen ich mich festhalten kann: Ich lese, schreibe Tagebuch, gehe spazieren, sitze und lausche den Vögeln, meditiere, mache Sport. Wenn ich Lust darauf habe, schreibe ich Newslettertexte, aber nur dann, denn ich bin nicht zum Arbeiten hier. Die Reihenfolge dieser Elemente ist egal; manchmal kommen einige doppelt vor und andere nur kurz. Sie geben mir einen flexiblen Rahmen, in dem ich die Stille genießen und in mich gehen kann. Ich brauche kaum noch Liebesromane.
Was macht die Stille so besonders, so erholsam? Ich bin weit weg vom Lärm des Alltags, um mich herum gibt es nur Vögel, Felder und mich. Hier bin ich absolut ungestört. Das Mittagessen wird vor meine Tür gestellt; keine*r betritt mein Refugium, obwohl es dafür keinen Schlüssel gibt. Ich habe Raum für nur mich – die Postkarte auf meinem Schreibtisch, die mich seit einem Jahr fragt Does your soul need space? hat eine Antwort: Tausendmal ja. Ich werde nicht angesprochen, keine*r will etwas von mir, die Welt dreht sich ohne mich weiter. Ich muss mich um keine anderen Personen kümmern und auch Selbstfürsorge wird mir in relevanten Teilen abgenommen. Was den Haushalt angeht, muss ich nur ein bisschen abwaschen. Ich komme zur Ruhe und will nicht reden, nicht telefonieren, keine Podcasts hören (warum klicke ich sonst auf Play, sobald ich abwasche oder aufräume, statt meinen Gedanken zu lauschen? Meine Gedanken sind doch total interessant!). Selbst Musik stört mich. Die Schwalben, der Wind, der Regen auf dem Dachfenster sind der einzige Soundtrack, den die Stille verträgt.
Meine Lektüren begleiten und ergänzen diesen Prozess. In Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung beschreibt Hartmut Rosa wie das Leben in der Moderne unsere Beziehung zur Welt beeinflusst und verstummen lässt, weil wir sie vor allem als Instrument wahrnehmen. Dem stellt er ein resonantes Weltverhältnis gegenüber: Ein „vibrierender Draht“ verbindet uns und wir fühlen uns „in der Welt und im Leben aufgehoben und getragen.“
Stille ist ein Reset der Resonanzbeziehungen. Zur Natur, mit den Spaziergängen, dem ständigen Blick ins Grüne und dem Soundtrack der Vögel. Zu mir selbst, durchs Zeit haben, Lesen, Schreiben und Nachdenken. Zu etwas Größerem, vielleicht Spirituellem, durch Yoga und Meditation. Zu meinem Körper, durch ausreichend Schlaf, Bewegung und die Abwesenheit von Hetze und Stress. Ich kann loslassen und mit der Welt mitschwingen. Ohne To-Do-Liste oder Zwang zur Effizienz kann ich die Welt auf mich zukommen lassen und unsere Resonanz neu spüren.
Ein anderes Buch hilft mir, den inneren Druck der Stille zu verstehen. Im Essayband Sorry not sorry: Über weibliche Scham analysiert Anika Landsteiner wie Scham das Leben von Frauen* im Patriarchat prägt. Ich finde dieses Gefühl auch hier: Mache ich die Stille „richtig?“ Ich sorge mich, dass ich zu viel lese, zu wenig Schwalben beobachte. Dass meine Spaziergänge zu kurz sind, ich nicht genug draußen sitze, obwohl es dort windig ist und ich von Mücken aufgefressen werde. Ich nicht genug Yoga mache, zu kurz meditiere, zu oft auf mein Handy schaue. Mich zu sehr ablenke von dem, was die Stille in mir auslöst bzw. in mir auslösen könnte, wenn ich sie nur richtig anginge.
Dann denke ich: So ein Quatsch! Ich gestalte diese Stille zwar oberflächlicher als ich könnte, doch sie ist trotzdem ein Erfolg: Ich fühle mich wohl. Ich genieße den Raum, den das Refugium und die weite Landschaft mir geben. Ich meditiere zweimal täglich, ohne Musik, ohne Stimme, die mir Atemübungen vorschreibt. Ich schreibe Tagebuch und spüre, wie die Erkenntnisse aus den letzten Monaten Therapie tiefer in mein Unterbewusstsein einsickern. Ich verbringe sehr wohl Zeit damit, nur den Vögeln und dem Wind zu lauschen. Ich denke darüber nach, wie ich Entschleunigung und Resonanz mit in den Alltag nehmen kann. Ich genieße es so sehr, dass ich wiederkommen will. Dann kann ich immer noch tiefer gehen. Und auch dann die Stille in meinem Sinne gestalten, für mich – denn nur weil ich etwas zum zweiten Mal tue, muss es nicht perfekt sein. Es muss mir guttun – sonst nichts. Denn es ist meine Stille.
Teil III: Abschied
Tag 6
Ich wende mich langsam wieder der Welt zu: überarbeite einen Text für diesen Newsletter. Packe meinen Rucksack. Räume auf und verwische meine Spuren im Refugium. Schreibe eine Liste der Lektionen, die ich aus der Stille mitnehmen möchte. Die wichtigste: Ich kann Stille. Und: sanft wieder in den Alltag starten. Stille Elemente mitnehmen, aber keine Selbstvorwürfe oder Scham, wenn der neoliberale Strudel mich mal wieder erfasst. Stattdessen durchatmen und wieder zur Ruhe kommen.
Bei meinem letzten Abendspaziergang in der Sonne beobachte ich vier Feldhasen beim Fangen spielen, rieche ein letztes Mal an den Heckenrosen und Holunderblüten und verabschiede mich von den Fröschen am Teich.
Tag 7
Der Wecker klingelt zum ersten Mal seit einer Woche. Ein letztes Frühstück; das Eigelb der hofeigenen Hühner ist so orange wie der Cheddar auf meinem Brot. Eine allerletzte Mediation, nur zehn Minuten, für mehr reicht es nicht.
Meine Gastgeberin setzt mich am Bahnhof ab. Auf dem Bahnsteig lausche ich den Vögeln, die hier in den alten Bäumen leben, und gewöhne mich wieder daran, Menschen zu sehen.
Im Zug schaue ich aus dem Fenster, ohne Podcast, ohne Musik, ohne Buch, und lasse mich wieder Richtung Alltag tragen.
Für die Audio-Kostproben bitte ganz, ganz runterscrollen!
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PPS: Warum die Stille so dringend nötig war:
Audio-Kostproben
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