#86: Warum Ärzt*innen nicht zuhören und Patient*innen nicht ausreden dürfen
Über Zeitarmut im Gesundheitssystem
Ich bin Ärztin. Deshalb habe ich immer Zeit für Überstunden, Notfälle, die Abrechnung und um einzuspringen, wenn ein Dienst nicht besetzt ist. Ich habe kaum Zeit für ausführliche Erklärungen, Prävention, Toilettengänge oder nicht-medizinische Gedanken. Keine Zeit habe ich für ausreichend Schlaf, Mittagspausen, Erholung oder um selbst krank zu sein.
Damit bin ich nicht allein. Nicht umsonst malen meine Kolleg*innen für Kundgebungen während Tarifverhandlungen Schilder mit Aufschriften wie: „Keine Frau, keine Kinder, nicht mal Zeit für Tinder.“
Wir haben zu wenig Zeit, weil wir in einem System arbeiten, in dem Krankenhäuser und Praxen profitabel sein sollen. Im Krankenhaus sind wir für mehr Patient*innen zuständig als wir in unserer regulären Arbeitszeit gut versorgen können. In der Praxis ist der Terminkalender über Wochen und Monaten ausgebucht; dringende Fälle können nur dazwischengeschoben werden, wenn sie die richtigen Leute kennen. In Notaufnahmen stauen sich Patient*innen, die von niedergelassenen Ärzt*innen behandelt werden könnten, worunter echte Notfälle und Personal gleichermaßen leiden. In Pflegeheimen liegen Bewohner*innen zu lange in ihren Exkrementen und können über die Körperpflege hinaus nicht adäquat betreut werden. Wer keine zugewandten Angehörigen hat, vereinsamt, denn Pfleger*innen haben keine Zeit für längere Gespräche. In der psychiatrischen Klinik, in der ich gerade arbeite, liegt seit Jahren (!) eine Patientin, die kein Pflegeheim aufnimmt, weil der Umgang mit ihrer komplexen Erkrankung mit dem aktuellen Personalschlüssel nicht gewährleistet werden kann. In allen Bereichen ächzen Gesundheitsarbeiter*innen unter der Dokumentation. Zu Hause verfolgt der Job uns weiter: Wir fragen uns, ob wir etwas vergessen oder übersehen haben und in welchem Zustand wir gerade noch stabile Patient*innen am nächsten Arbeitstag vorfinden werden.
Im deutschen Gesundheitssystem ist Zeit buchstäblich Geld. Niedergelassene Ärzt*innen können für längere Beratungen oder die Diagnostik und Behandlung psychischer Erkrankungen spezielle Gesprächsziffern abrechnen. Für mindestens zehn Minuten Gespräch bringt das 15,28 € bzw. 23,03 € zusätzlich zur Quartalspauschale von ca. 26 €. In der psychiatrischen Klinik muss ich mit allen Patient*innen zweimal die Woche ein 25-minütiges therapeutisches Gespräch führen, damit wir die Behandlung abrechnen können.
Obwohl Zeit Geld ist, wird sie abgewertet. Viele Ärzt*innen betrachten längere Gespräche oder Patient*innen ausreden lassen als Zeitverschwendung. Die Gebührenordnung befeuert das, denn mit invasiven Prozeduren oder aufwendiger Bildgebung lässt sich mehr verdienen als mit Gesprächen, die zeitintensiver sein können als ein MRT oder eine Gelenkspiegelung. Nicht umsonst verdienen niedergelassene Radiolog*innen, die fast nie mit Patient*innen sprechen, mehr als Praxen aller anderen Fachgebiete. Dabei können Gespräche manchen Patient*innen mehr helfen als das MRT oder die Herzkatheteruntersuchung. Oft finden wir das tatsächlich zugrunde liegende Problem erst durch sehr genaues Nachfragen und wenn wir Vertrauen aufgebaut haben.
Wenn wir stattdessen nach wenigen Minuten eine Überweisung zum MRT ausstellen, wundern wir uns, wenn der Befund die Beschwerden nicht erklärt und keine wegweisenden Therapieoptionen offenbart. Beispielsweise zeigen die Bilder nur moderaten Verschleiß der Wirbelsäule, der nicht zu den massiven Schmerzen passt. Weil eben nicht nur Anatomie und Mechanik die Schmerzwahrnehmung beeinflussen, sondern auch Stress im Job, Angst vor Schmerzen, Bewegungsmangel, der Schreibtischstuhl, die schulischen Probleme des Kindes etc. Um Schmerz zu verstehen und behandeln zu können, müssen wir diese Faktoren kennen. Ein MRT zeigt jedoch nur einen Teil davon.
So könnten Gespräche dem Gesundheitssystem Geld sparen, zum Beispiel durch weniger unnötige Diagnostik, weniger gescheiterte Therapieversuche oder weniger Fehldiagnosen.
Wenn wir schnell arbeiten, weil wir so wenig Zeit haben, kann das noch mehr Zeit kosten. Einmal kam eine Patientin in meine Sprechstunde, die wegen ihrer Arthrose schon bei meinem Kollegen gewesen war. Dieser hatte die Diagnose innerhalb weniger Minuten gestellt und sie mit den Worten: „Da kann man nichts machen außer operieren“, nach Hause geschickt.
Sie wollte sich jedoch nicht operieren lassen, gab es wirklich keine andere Möglichkeit? Also machte sie einen neuen Termin aus. In einem 15-minütigen Gespräch konnte ich ihr vermitteln, dass Arthrose zwar nicht heilbar ist, wir jedoch vor der Operation einiges zur Schmerzlinderung ausprobieren konnten: Krankengymnastik, Schmerzmittel, Einlagen, eine Bandage, Spritzen ins Gelenk, Fahrradfahren. Die Liste der Optionen war lang. 15 Minuten mögen kurz klingen, in einer orthopädischen Praxis ist das jedoch eine Ewigkeit. Trotzdem kann es Zeit sparen, sich Zeit zu nehmen: Hätte mein Kollege das getan, wäre der zweite Termin nicht nötig gewesen und möglicherweise wäre nicht nur die Patientin zufriedener mit der Behandlung gewesen, sondern auch er.
Mit dieser Zeitarmut muss ich sowohl als Privatperson als auch als Ärztin umgehen. Als Ärzt*innen, Pfleger*innen, Therapeut*innen, medizinische Fachangestellte sind wir oft in unserer Rolle gefangen. Wenn wir uns jetzt nicht um das Problem dieser Patientin kümmern, können wir uns nicht darauf verlassen, dass unsere Kolleg*innen es in der nächsten Schicht oder am nächsten Tag tun werden. Nicht weil sie inkompetent oder unmotiviert wären, sondern weil sie die nächsten Feuer löschen müssen. Also verschieben wir den Toilettengang oder die Mittagspause auf unbestimmte Zeit, vielleicht lassen wir sie auch ganz ausfallen. Vielleicht bleiben wir nach Feierabend länger, nur heute, nur damit diese eine Patientin bekommt, was sie braucht. Natürlich wissen wir, dass es auch morgen und übermorgen solche Patient*innen geben wird, aber jetzt konzentrieren wir uns auf die heutige, statt über strukturelle Probleme nachzudenken.
Während meiner Weiterbildungszeit in einer psychiatrischen Klinik nahm ich an Kursen zu Deeskalation und dem Umgang mit aggressiven und gewalttätigen Patient*innen teil. Die wichtigste Regel, die der Kursleiter fast gebetsmühlenartig wiederholte, lautete: „Es gibt keine Selbstaufopferungspflicht!“
Aber ist es nicht zu kurz gegriffen, diese Maxime nur auf Bedrohungssituationen anzuwenden? Was ist krank zur Arbeit zu gehen, unbezahlte Überstunden zu machen, nicht zu essen und zu trinken, weil so viel zu tun ist, und auch das allerletzte Energie-Restchen Patient*innen zu geben statt unseren Familien und Freund*innen? Die Katze erstickt an ihrem Schwanz: Gibt es wirklich keine Selbstaufopferungspflicht, wenn wir genau wissen, dass allein das den Laden zusammenhält? Also opfern wir und hoffen, dass wir auch morgen noch opfern können.
Als Privatpersonen halten wir das nicht alle bis zur Rente durch. Bei mir ging es schon viel früher schief. Da half auch kein ausgeprägter Selbstaufopferungstrieb. Ich war ausgebrannt, ständig krank und wollte nicht darauf warten, dass ich einen schwerwiegenden Fehler machte. Ich wollte nicht so müde werden, dass ich nicht mehr Ärztin sein will. Deshalb entschied ich mich für die nächste Station meiner Weiterbildung für einen Teilzeitstelle. Im Vertrag standen 75 % und ich verhandelte eine Vier-Tage-Woche. Das ist ein Privileg, das ich mir als Ärztin leisten kann. Aber wie sieht es bei meinen Kolleg*innen aus der Pflege aus, deren Arbeit körperlich viel anstrengender ist als meine? Die von 25 % weniger Gehalt vielleicht nicht so gut leben können wie ich?
Durch die Teilzeit fühle ich mich meinen Aufgaben gewachsen und kann gute Arbeit leisten, ohne mich zu hetzen. Ich habe Zeit, Gedanken zu Ende zu denken und Texte wie diesen zu schreiben. Teilzeit war eine Entscheidung gegen Selbstaufopferung.
Doch dadurch fehlen dem Gesundheitssystem jede Woche zehn oder mehr Arbeitsstunden (Überstunden sind schließlich häufig schon eingepreist). Kann das also eine Lösung für alle sein? Bei vollem Lohnausgleich, damit nicht nur Ärzt*innen sich das leisten können?
Natürlich bräuchten wir mehr Personal im Gesundheitswesen, wenn alle in Teilzeit gingen. Das ist das Schöne an großen Systemen: Durch mehr Personen im Getriebe kann Zeit beliebig vermehrt werden, während Einzelpersonen sich vergeblich ein paar Stunden mehr wünschen, um endlich mal alles erledigen zu können. Jede Neuanstellung schafft aus dem Nichts Zeit. Und wenn wir gesetzlich verbieten, dass Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen Profit machen, könnte dieses zusätzliche Personal mit Geld, das aktuell an Aktionär*innen von Gesundheitskonzernen ausgeschüttet wird (das sind übrigens auch unsere Krankenkassenbeiträge), finanziert werden.
Aber es wäre nicht die einzige Lösung, 25 % mehr Personal aus dem Hut zu zaubern. Vielleicht entstünde Chaos, wenn wir alle unsere Arbeitszeit reduzierten und auf diese Reduktion bestünden. Möglicherweise wäre es jedoch schneller gelöst als wir uns jetzt vorstellen können. Alle Gesundheitsarbeiter*innen verbringen relevante Teile ihrer Arbeitszeit mit Dingen, die vereinfacht oder gestrichen werden können. Ein klassisches Beispiel ist die Dokumentation: Warum muss ich zehnmal klicken, um die Entlassmedikation in einen Arztbrief zu transportieren und den Medikamentenplan auszudrucken? Warum nicht ein Klick, liebe IT? Wie viele Termine habe ich schon durchgeführt, bei denen Befunde besprochen werden sollten, die noch nicht vorlagen? Wie viele unnötige Untersuchungen und Operationen werden durchgeführt, statt mit Patient*innen zu sprechen? In diesen und vielen anderen Bereichen ließe sich Arbeitszeit „befreien,“ die einen signifikanten Anteil der Teilzeit ausgleichen könnte.
Wie sähe ein Gesundheitssystem reich an Zeit aus? Wir würden das Leben und die Erkrankungen unserer Patient*innen besser verstehen, würden sie als Menschen statt als Fälle kennen. Wir könnten die Expertise unserer Patient*innen dafür, wie es sich anfühlt, mit Erkrankung X oder Y zu leben, nutzen, statt aus Zeitmangel nie danach zu fragen. Wir könnten manche Probleme früher diagnostizieren, weil unsere Aufmerksamkeit für Details größer wäre und wir nicht ständig Feuer löschen würden. Es gäbe ein anderes Abrechnungssystem, in dem der Wert von Zeit und Gesprächen sich besser widerspiegelt. Das Gesundheitspersonal wäre seltener krank und durch Zeit für einen gesünderen Lebensstil ohne Überarbeitung ein plausibleres Vorbild für Patient*innen. Die besseren Arbeitsbedingungen würden mehr Personal anziehen und dadurch noch mehr Zeit schaffen. Die Frage nach Selbstaufopferung würde sich nicht mehr stellen – darüber würden wir genauso mit dem Kopf schütteln wie über die Aderlässe aus vergangenen Jahrhunderten. Wer weiß schon, was in so einem Gesundheitssystem noch alles möglich wäre? Die besten Ideen, das kennen wir alle aus dem Urlaub, kommen schließlich erst mit der Erholung.
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Lektorat: Katharina Stein
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PPS: Wie Ärzt*innen übers Reden mit Patient*innen reden: