Es gibt unter Mediziner*innen einen komischen Spruch: „Wir schreiten zum Äußersten und reden mit unseren Patienten.“ (Ja, in der Regel im generischen Maskulinum, aber das ist ausnahmsweise nicht das Problem). Er fällt in Situationen, in denen Informationen nicht in der Akte oder im Computer stehen, sondern wahrscheinlich nur über den direkten Weg zu bekommen sind – also über das Gespräch mit Patient*innen.
Ich hasse diesen Spruch. Scheinbar wird damit ein Missstand kritisiert, aber tatsächlich wird er reproduziert und normalisiert. Denn auch in einen Witz verpackt wird gesagt, dass es eben nicht selbstverständlich ist, zuerst mit Patient*innen zu reden und dann in die Akte zu gucken.
Gleichzeitig wird uns von Beginn des Studiums an vermittelt, dass Patient*innen oft Scheiß erzählten: nicht wüssten, wann sie wo operiert wurden, relevante Krankheiten vergäßen, ihre Medikamente nicht kennen würden, und so weiter. Diese “Information” wird im Sinne einer Weisheit von Generation zu Generation weitergereicht. So offenbaren die Älteren sich und formen die Jüngeren. So ändert sich nie etwas. Dass das bevormundend ist und durch Sprüche wie „Wir schreiten jetzt zum Äußersten und reden mit denen“ nicht lösbar ist, sollte klar sein.
Dabei sind Ärzt*innen selten faul oder haben kein Interesse, mit Patient*innen zu reden. Nein, die meisten von uns arbeiten in einem System, das uns aktiv vom Reden wegdrückt (siehe obrige Weisheitsverteilung).
Das Problem fängt schon mit der Vergütung an: Für Gespräche gibt es am wenigsten Geld. Klingt erst mal logisch, schließlich werden dafür keine Medikamente, Maschinen, steriles Material oder besonders viel Personal benötigt. Aber es ist eben so wenig, dass es sich aus marktwirtschaftlicher Sicht nicht einmal für den Zeitaufwand der Ärzt*in „lohnt“. Sie verdient mehr, wenn sie Nadeln in ihre Patient*innen steckt, sie aufschneidet oder in irgendwelche Röhren schieben lässt. Dass diese Prozeduren durch Gespräche vermieden werden könnten, weil die Ärzt*in so merkt, was das tatsächliche Problem ist, ist egal. Schließlich ist jede Praxis, jedes Krankenhaus ein Unternehmen, das gefälligst Profit machen soll.
Dann gibt es Oberärzt*innen, die dir davon abraten, „zu viel“ mit Patient*innen zu reden. Bringt nichts, Zeitverschwendung, macht alles nur unnötig kompliziert. Unter anderem, weil wir ihre Geschichte eh besser kennen als sie selbst, siehe oben. Dass wir keine Hellseher*innen sind und nachhaltige Problemlösung ohne Gespräche gar nicht funktionieren kann, ist auch hier egal.
Vor allem im Krankenhaus können wir uns problemlos vom Reden ablenken: Kurvenvisite (die zuständige Pflegekraft berichtet, während wir in die Kurve gucken, wo alle Vitalparameter, Medikamente, etc. drinstehen und wir die Patient*innen deshalb nicht mehr fragen müssen, wie ihr Stuhlgang heute aussah), dann gucken wir noch schnell ins Labor, in die Akte, ist der Röntgenbefund schon da, und das HNO-Konsil? Natürlich ist es sinnvoll, sich vorzubereiten, bevor wir ins Zimmer stürmen, aber so können wir uns auch wunderbar von den Menschen hinter unseren „Fällen“ ablenken. Und wenn ihr denkt, dass das im ambulanten Bereich ganz anders sei, denn da müssen die Ärzt*innen doch mit uns reden, sobald wir das Sprechzimmer betreten, muss ich euch enttäuschen: Mein Augenarzt hat es geschafft, mir durch eine Untersuchung eine Frage zu beantworten, die ich ihm gar nicht stellen wollte, weil er mich nie gefragt hat, was mich zu ihm führt. Aber vielleicht war sein Gedankenleser an dem Tag auch einfach kaputt.
Das Best-Case-Scenario in meinem Praktikum in der Kinderklinik war der eine Tag (in vier Monaten), an dem eine Ärzt*in für nur neun Patient*innen zuständig war. Rechnerisch ist das bei einem achtstündigen Arbeitstag etwa eine Stunde pro Patient*in. Aber durch ausführliche Dokumentation, Rücksprachen mit Oberärzt*innen, Teambesprechungen, Übergaben, Sonographien, Blutentnahmen, Entlass-Briefe schreiben und das tägliche Corona-Briefing bleiben für Gespräche vielleicht zehn Minuten pro Patient*in. Und wie gesagt, das war ein Tag mit überdurchschnittlich guter Besetzung. An „normalen“ Tagen waren es bis zu 17 Patient*innen pro Ärzt*in. In der Chirurgie habe ich nie erlebt, dass eine Ärzt*in nur für eine einstellige Patient*innen-Zahl zuständig war.
Aber dieser Spruch ist noch perfider, als dass er „nur“ Systemrealitäten verschleiert. Nein, er schiebt dir auch noch die Schuld in die Schuhe. Als ich angefangen habe, darüber nachzudenken, dachte ich, dass ich diesen Spruch so bescheuert finde, weil ich mich ertappt fühle.
Dabei sind es doch gerade diese Gespräche, die diesen Beruf für mich interessant machen: Die alte Dame, die während sie in der Notaufnahme auf unsere Behandlung wartet, beschließt ihren Mann nach fünfzig Jahren Ehe rauszuschmeißen. Der Dachdecker, der sich fasziniert jeden Schritt erklären lässt, während ich ohne Betäubung seine Schnittwunde nähe. Die Adoptivmutter, die zwei Jahre auf ihren Sohn warten musste, und jetzt noch dessen leibliche Schwester adoptieren kann. Deswegen machen wir den Job – oder?
Gespräche sind für mich nicht das Äußerste, sondern das Beste an diesem Beruf, und ich denke beinahe täglich daran, wie viel besser unser Gesundheitssystem mit mehr Gesprächen funktionieren würde. Aber trotzdem war meine erste Reaktion, den Fehler bei mir zu suchen, statt Systemkritik zu üben. Durch den Spruch fühle ich mich schlecht, aber wenn ich bis zu 17 Patient*innen betreuen soll, werde ich – selbst wenn ich bis zum Burnout weitermache – täglich an meinen Idealen scheitern, was mich noch schneller ins Burnout bringt. Herzlich willkommen im Teufelskreis!
Das ist mein Hauptproblem mit diesem Spruch: Dass er uns als Einzelne kritisiert und nicht das System. Aber zum Glück hilft diese Kolumne mir, den Systemkritik-Muskel zu trainieren. Denn in diesem System ist es das Äußerste, mit Patient*innen sprechen zu wollen.
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