Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich mehr oder weniger regelmäßig von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Dieser Text ist Teil der Edition Zwischenraum. Dazu schreiben auch Vivian Sper, Kea von Garnier, Antoni Dylan, Oliwia Hälterlein und Franziska König.
Letztes Silvester verbrachte ich mit fünf anderen Ärzt*innen. Drei von uns waren in der medizinischen Versorgung tätig. Die drei anderen arbeiteten in Forschung oder Politik und wollten nie wieder einen Fuß in ein Krankenhaus setzen. Mich überrascht das nach mehr als zwei Jahren Weiterbildung zur Fachärztin nicht.
Weiterbildungsstellen, ob im Krankenhaus oder in der Praxis, sind oft so organisiert, dass wir unsere Arbeit nur unter den günstigsten Umständen in der dafür vorgesehenen Zeit schaffen. Doch das ist in der Medizin selten; Notfälle und Komplikationen sind unser Alltag. Also bleiben wir länger, weil wir gute Arbeit machen, herausragende Ärzt*innen sein und unsere Patient*innen exzellent versorgen wollen.
Gleichzeitig ist unsere Arbeit extrem komplex. Sechs Jahre Studium haben uns zwar darauf vorbereitet, aber es fühlt sich so an als müssten wir nach der ersten Fahrstunde im VW Polo plötzlich allein einen überlangen LKW von Garmisch-Partenkirchen nach Flensburg fahren und zwar bitte in acht Stunden. Unsere Freizeit und Gesundheit wird oft nicht respektiert. Überstunden werden erwartet, aber nicht unbedingt vergütet oder abgebummelt. Ich wurde schon von Chefs angerufen, die mir die Krankmeldung wieder ausreden oder die Krankheitstage gegen Urlaubstage tauschen wollten. „Die Ärztin ist krank“ klingt in vielen Ohren wie ein Widerspruch in sich.
In der Weiterbildung wird uns beigebracht und von uns erwartet, unsere Grenzen zu ignorieren und zu übertreten. Viele Krankenhäuser lassen sich sogar mit dem Arbeitsvertrag eine Erklärung unterschreiben, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Maximalarbeitszeiten und Ruhezeiten nicht für uns gelten. Mittagspausen lassen wir ausfallen – Essen und Trinken wird überbewertet und wer nichts trinkt, muss praktischerweise nicht aufs Klo. Anderen helfen ist immer wichtiger als Selbstfürsorge. Patient*innen sind verletzliche Körper, aber wir, wir müssen unzerstörbare bedürfnislose Maschinen sein.
Wir haben sehr lange Dienste, teilweise bis zu 24 Stunden. Ein großer Teil davon soll theoretisch Bereitschaftszeit sein, praktisch schlafen wir kaum und hetzen von Patientin zu Patientin. Nachts ist oft eine einzige Ärzt*in für bis zu dreistellige Patient*innenzahlen und alle Notfälle in der Rettungsstelle zuständig. Weil viele Patient*innen so krank sind, versterben immer wieder welche und wir müssen im Dienst den Totenschein ausfüllen. Dass 24-Stunden-Dienste mittlerweile selten sind, wird uns als Innovation verkauft, obwohl es eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Diejenigen, die uns weiterbilden und unterstützen sollen, tun es nicht immer: Oberärzt*innen, die während der Dienste immer erreichbar sein sollten – auch nachts – warnen uns: „Ruf nicht an, ich will schlafen!“ Also überlegen wir dreimal, treffen im Zweifelsfall eine übermüdete Entscheidung und hoffen, dass es gut geht. Sie setzen uns unter Druck, keine Überstunden aufzuschreiben, aber strukturieren den Tag so, dass es nicht ohne geht. Wenn wir es wagen, Fragen zu haben, raunzen sie: „Lies es selbst nach!“ (Wann? Nach der dritten Überstunde?)
Unsere Chef*innen und Oberärzt*innen vertreten die Philosophie „Wer viel arbeitet, lernt viel.“ Das tun sie, weil wir in der Weiterbildung klinische Erfahrung sammeln. Im Studium lernen wir aus Büchern und Vorlesungen, doch im Realitätscheck der Weiterbildung zeigt sich, dass die Welt komplexer ist. Erkrankungen sind diffuser, wenn sie von Patient*innen statt Papier präsentiert werden, äußern sich auf untypische Weise, treten gesammelt auf oder sprechen nicht auf Therapien an. In den ersten Wochen meiner Weiterbildung wusste ich bei keiner einzigen Patient*in, was sie haben könnte. Mit der Zeit integrieren unsere Gehirne das theoretische Wissen mit der gelebten Erfahrung, sodass wir seltener ratlos vor unseren Patient*innen sitzen. Aber viel Input führt nicht zwangsläufig zu viel Erfahrung und unsere Chef*innen vergessen, dass es auch in ihrer Generation schlechte Ärzt*innen gibt.
Dann ist da unsere Arbeit an sich: Wir sind täglich mit Krankheit und Tod konfrontiert. Wir sehen unglaublich viel Leid. Zu sehen, was der Krebs, der Schlaganfall, die langjährige Schizophrenie oder Depression, Long-Covid, Rheuma und all die anderen Lehrbuchkapitel mit unseren Gegenübern machen, zehrt auch an uns.
Dazu kommt die klitzekleine Tatsache, dass wir mit unseren Fehlern einen Menschen umbringen könnten: Das falsche Medikament, die falsche Dosis, die falsche Diagnose, die den Notfall mit einer Banalität verwechselt. Fehler sind nicht komplett vermeidbar, oft harmlos und leicht wieder gut zu machen – Überweisung hinterherschicken, das Medikament ein paar Stunden später ansetzen, die Diagnose korrigieren. Doch jedes „Das hätte schief gehen können!“ nährt die Angst, dass es irgendwann knallt. Dass wir überarbeitet und übermüdet sind, trägt nicht zur Fehlervermeidung bei.
Insgesamt arbeiten wir zu viel, in einer sehr dichten, intensiven und komplexen Tätigkeit und haben nicht genug Zeit, die Erlebnisse und Eindrücke sacken zu lassen. Die nicht zu leugnende Relevanz unserer Arbeit (wir retten Menschenleben, während andere Werbekampagnen entwerfen!) heizt unseren Selbstaufopferungstrieb an und verschlimmert unser Helfer*innen-Syndrom. Wir helfen dabei, uns zu brechen, und von der anderen Seite drückt ein übermächtiges System, bis wir zermalmt werden. Aber warum müssen Ärzt*innen während ihrer Weiterbildung gebrochen werden? Und warum fühlt das sich nicht zufällig an, sondern systemimmanent?
Der Rollenwechsel von der schweigenden, beobachtenden Studentin zur Ärztin, die Entscheidungen treffen, auf jede Frage eine Antwort wissen und Verantwortung tragen soll, ist eine Achterbahnfahrt voller Loopings, die uns regelmäßig über unsere Belastungsgrenzen hinauskatapulitert. Manchmal frage ich mich, ob unsere Seelen von dieser Arbeit einen Knacks bekommen: Was macht der Umgang mit leidenden, kranken und sterbenden Menschen mit uns? Wir brauchen Zeit, um in dieser neuen Rolle anzukommen und das passiert nicht in einer gehetzten Visite oder zwischen zwei Überstunden. Doch die Häufigkeit von Burnout unter Ärzt*innen liegt, je nach Studie, bei 25 bis 75 %. Ankommen sieht anders aus.
Wir leben in einer Zeit des Ärzt*innenmangels, aber unsere Vorgesetzten und Weiterbilder*innen sind in einer anderen Welt groß geworden. Vor dreißig Jahren waren sie dankbar für ihre Stellen, verdienten weniger als wir, machten 48- Stunden-Dienste, hätten sich niemals über Überstunden beklagt und schon gar nicht hätten sie ihre Arbeitszeit auf skandalöse 75 % reduziert (Christian Linder liebt unsere Chef*innen und Oberärzt*innen).
Jetzt sind sie in Machtpositionen und glauben, dass es uns genauso schlecht gehen muss, dass wir nichts Besseres fordern dürfen, dass diese Art zu arbeiten einfach zum Ärzt*innensein dazugehört. Irgendetwas muss ihren und unseren hohen gesellschaftlichen Status schließlich rechtfertigen – ein langes Studium und „Verantwortung!“ tragen das nur so weit. Sie merken nicht, wie absurd es ist, uns hohe Ansprüche wie Work-Life-Balance vorzuwerfen, während sie von uns fordern, unsere Arbeitsverträge freiwillig übererfüllen zu wollen. Sie sehen nicht, dass wir in einer anderen Welt Ärzt*innen werden als sie, dass unsere Arbeit sich verdichtet hat, wir für mehr Patient*innen verantwortlich sind, dass Menschen mit Beschwerden in Praxen kommen, bei denen sie früher ihre Oma gefragt hätten, dass nicht nur sie mehr dokumentieren müssen als damals, sondern auch wir, dass wir keine Ehefrauen haben, die den Haushalt schmeißen. Oder sie wollen es nicht sehen, denn wenn es eine Alternative gäbe, müssten sie sich fragen, ob ihr Opfer nötig gewesen wäre.
Macht spielt hier eine zentrale Rolle: Die Macht unserer Chef*innen und Oberärzt*innen, die unsere Arbeitsverträge und Zeugnisse unterschreiben, uns weiterbilden, die Verantwortung für unsere Entscheidungen tragen, auf deren medizinische Expertise wir uns verlassen müssen. Sie können uns kurzfristig das Leben zur Hölle machen, denn wir sind komplett von ihnen abhängig. Wir Ärzt*innen in Weiterbildung erscheinen ihnen dabei austauschbar, weil wir regelmäßig in andere Fachrichtungen rotieren, um Einblicke in ein möglichst breites Spektrum der Versorgung zu erhalten.
Doch in Zeiten des Ärzt*innenmangels hat der Nachwuchs langfristige strukturelle Macht – wer versorgt unsere Chef*innen, wenn sie alt werden? Wer stemmt den Tsunami chronischer Erkrankungen des demografischen Wandels? Aber wir wissen nicht, wie wir diese Macht nutzen können. Wenn wir in Praxen arbeiten, gibt es nicht einmal eine Gewerkschaft, die für uns zuständig ist, und keinen Tarifvertrag. Viele von uns sind zum ersten Mal in einem Angestelltenverhältnis. Wir sind damit beschäftigt, nicht unterzugehen. Wir sind wütend, aber diese Wut ist kaum kollektivierbar, denn wer hat schon die Energie, alle Praxen der Stadt gewerkschaftlich zu organisieren?
Ärzt*innen sind nicht besonders rebellisch, weshalb unsere Chef*innen sich ihrer Macht recht sicher sein können. Diese kurzfristige Macht ermöglicht es ihnen erst, uns zu brechen. Gleichzeitig schieben sie alle Schuld aufs System („Wir müssen Patient*innen aufnehmen, wir müssen schneller behandeln, wir müssen mehr Scheine machen“) und verwässern so ihre Verantwortung. Und wir glauben ihnen, statt uns ein Beispiel an unseren Kolleg*innen aus der Pflege zu nehmen, die in den letzten Jahren an immer mehr Krankenhäusern mehr Personal erstreikt haben. Diese Bewegung hat unter anderem dazu geführt, dass der pflegerische Aufwand in Krankenhäusern mittlerweile anders vergütet wird. Wir Ärzt*innen sind zu müde, zu gebrochen, um zu erkennen, dass der Kampf der Pflegenden eine Blaupause für unsere Emanzipation sein könnte. Unsere Chef*innen sind heilfroh darüber, denn ein ärztlicher Streik für bessere Arbeitsbedingungen oder ein Streik aller Berufsgruppen könnte die Revolution des Gesundheitssystems bedeuten.
Die fachärztliche Weiterbildung ist ein Zwischenraum: Wir sind Ärzt*innen, aber wir müssen noch lernen, Ärzt*innen zu sein. Schwimmflügel und Schwimmring des Studiums werden jäh von Nadeln und Skalpellen zerfetzt und wir müssen schwimmen, egal wie hoch die Wellen sind. Wenn wir Glück haben, werfen Oberärzt*innen einen Rettungsring vom Steg, aber vielleicht hat die Strömung uns längst zu weit nach draußen gezogen.
Was bringen gebrochene Ärzt*innen? Es gibt ein ideales Niveau an Ausgebranntheit, bei dem die Betroffenen stur ihre Arbeit erledigen und (noch) relativ hohe Qualität liefern. Sie widersprechen nicht und sind fleißige Arbeitsbienchen. Diese Bienchen mit ihrer immer schwächer leuchtenden Flamme sichern kurzfristig die Patient*innenversorgung. Chef*innen, die vor allem an die schwarze Null denken, reicht das. Patient*innen sind froh, dass sich überhaupt jemand kümmert. Und wir Ausbrennenden? Bei all dem Stress fühlen wir uns krass wichtig: Ohne uns würde dieser Laden zusammenklappen. Daran geilen wir uns ein bisschen auf, denn wir sind Ärzt*innen und unsere Jobs verdammt systemrelevant (dass wichtige Jobs nicht zwangsläufig zermürben müssen, vergessen wir). Je erschöpfter wir sind, je mehr wir uns für unsere Patient*innen aufopfern, desto mehr haben wir unsere weißen Kittel verdient. Wir genießen die Anerkennung und werden zu Kompliz*innen unserer eigenen Ausbeutung.
Doch wenn wir heil bleiben wollen, müssen wir anders und vor allem weniger arbeiten. Wir brauchen mehr Zeit, was bedeutet, dass wir mehr Personal brauchen, denn weniger Patient*innen pro Ärzt*in entspricht mehr Zeit. Zeit ermöglicht gute Versorgung: Dann könnten wir intensiv über unsere Patient*innen und ihre Beschwerden nachdenken, ohne zu befürchten, etwas Wichtiges zu übersehen. Dann könnten wir langfristigere Lösungen finden, statt ein Pflaster draufzukleben und zu beten, dass es hält. Dann könnten wir die neuen Erfahrungen sacken lassen, in unserer Rolle als Ärzt*innen ankommen und ein bisschen leben. Wir könnten Menschen sein statt immer nur Ärzt*innen. Eure Ärzt*innen wären unversehrt und glücklich – das ist das Gesundheitssystem, in dem ihr Patient*innen sein wollt.
Lektorat: Antoni Dylan mit tausend Dank für den Wald und die Bäume!
Wenn ihr unten auf das Herz klickt, macht ihr mir eine große Freude und helft anderen, meine Texte zu finden. Danke!
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Er erscheint zweimal im Monat.
PS: Ich wage mich mal wieder an Social media, ihr findet mich auf Bluesky! Vielen Dank für eure solidarischen Abos, damit kann ich bisher 4 Lektorate im Jahr finanzieren (hier versuche ich, euch davon zu überzeugen).
Oder ihr spendiert mir einen Kaffee. Ihr könnt die Arbeit am Newsletter auch via Paypal unterstützen.
PPS: Mehr Gedanken über das Ärztinsein und -werden:
Auf den Punkt getroffen und aus der Seele geschrieben - ich wünsche mir, dass der Text viele erreicht, damit sich all die Ärzt*innen, die sich fragen, ob sie zu schwach sind für das System, sich nicht so allein fühlen.
Danke für die Darstellung eurer Situation. Ich werde die Email an meine FreundInnen weiterleiten!