Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Dieser Text ist Teil der Edition SCHNITT. In den nächsten Wochen erwarten euch wundervolle Texte von Vivian Sper, Kea von Garnier, Antoni Dylan, Oliwia Hälterlein und Franziska König.
I
Ärztin sein bedeutet, einmal die Woche meine Fingernägel so kurz wie möglich zu schneiden, damit sich darunter keine Bakterien sammeln können. Damit sie sich nicht schmerzhaft ins Fleisch bohren, wenn ich Bäuche abtaste. Damit ich mich nicht selbst pikse, wenn ich mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger auf die Finger meiner linken Hand klopfe, um zu hören, wie viel Luft in den Bäuchen und Brustkörben unter dieser Hand ist. Es bedeutet, die Nagelhaut mit einem Holzstäbchen zurückzuschieben, obwohl ich meinen Patient*innen eher davon abraten würde. Aber ich will, dass meine ständig desinfizierten Hände, schmucklos ohne Ringe und Nagellack – auch hier fühlen Bakterien sich wohl – möglichst ordentlich aussehen. Damit ihre Berührung willkommen ist, denn es sind Tröste- und Detektivinnenhände. Es bedeutet, sich in jeder Pause und nach Feierabend die Hände einzucremen, um die Haut auf den nächsten desinfektionsmittelgefüllten Tag vorzubereiten.
II
Ärztin sein bedeutet, dass die Sprechstunde auch beim Einschlafen und im Traum weitergeht. Dann präsentieren mir gesichtslose Patient*innen weitere Versionen der Probleme, mit denen ich tagsüber zu tun hatte. In meinem absurdesten Traum versuchte ich mit meinem damaligen Chef auf einer Busfahrt (?), einen Ultraschall der Knöchelbänder von Hunden (!) zu machen (es klappte nicht). Beim Frühstück erzählt mein Partner mir, was ich im Schlaf gesagt habe: „Und wie oft cremen Sie das ein?“ Hier ging es um ein Kind mit atopischem Ekzem. „Das weiß ich gerade nicht, aber da finden wir bestimmt eine gute Lösung“ hingegen bezog sich auf ein orthopädisches Problem. Vorsichtshalber lade ich mir keine App herunter, die mich im Schlaf systematisch belauscht. Ich will es lieber nicht wissen.
III
Ärztin sein bedeutet, eine Zäsur zu sein. Zu bestätigen: „Hier stimmt etwas nicht.“ Lebensverändernde oder -beendende Diagnosen zu stellen. Oder sie auszuschließen und Erleichterung zu verschaffen. Für manche bin ich nur eine kurze Pause vom Alltag für einen Check-Up oder die Krankschrift bei einer Erkältung. Andere begleite ich durch gebrochene Beine, depressive Episoden und die Schwankungen des Blutdrucks. Wieder andere in den Tod. Für mich hingegen sind all das Ausschnitte aus meinem Alltag.
IV
Ärztin sein bedeutet, darauf zu achten, dass mein Ausschnitt nicht zu tief ist. Damit wenn ich mich vorbeuge, um ein Herz abzuhören, Patient*innen nicht sehen können, welche Farbe mein BH hat. Also noch ein Knopf des Poloshirts zu oder das Namensschild so am Kasack platzieren, dass es den Ausschnitt zusammenhält. Es geht hier schließlich nicht um mich oder meinen Körper. Es bedeutet auch, zu wissen, dass männliche Ärzte sich diese Gedanken nicht machen müssen.
V
Ärztin sein bedeutet, Schnittbilder zu bestellen, um in Körper zu schauen. Es bedeutet, Patient*innen das MRT zu erklären, ohne zu sagen „Dabei werden Sie in Scheiben geschnitten.“ Denn obwohl alle wissen, dass das nur im übertragenen Sinne passiert, hat so eine Aussage negative Auswirkungen: Dieser metaphorische Angriff auf die körperliche Integrität kann Beschwerden verschlimmern oder verlängern, auch wenn allen Betroffenen klar ist, dass das MRT oder CT keine Guillotine ist.
VI
Ärztin sein bedeutet, mit der Zeit zu wissen, wann der OP vorbereitet werden muss. Welche Schnittwunde wir nähen müssen, welche wir kleben, für welche Steristrips ausreichen (stellt euch medizinisches Tesa vor). Zu wissen, dass eine Schnittwunde innerhalb von sechs Stunden genäht werden muss, weil danach die Infektionsgefahr zu hoch ist und Bakterien zugenähte Höhlen lieben. Zu wissen, welchen Abszess – welche rote Eiterbeule – wir in der Praxis aufschneiden können und wen wir ins Krankenhaus schicken müssen. Zu wissen, in welcher Notaufnahme die Wartezeit am kürzesten ist.
VII
Ärztin sein bedeutet, Studien über Studien zu kennen, die im Durchschnitt dieses oder jenes zeigen. Um dann vor einer konkreten Person zu sitzen, vor einem Einzelfall, für den diese Durchschnitte vielleicht gar nicht gelten. Erklären zu müssen, warum das Medikament nicht funktioniert, oder so viele Nebenwirkungen macht, oder gar beides. Und trotzdem immer wieder auf die Studien zu verweisen, denn oft hilft der Durchschnitt uns eben doch.
VIII
Ärztin sein bedeutet Fragen stellen, Entscheidungen treffen und diese auf Patient*innen zuzuschneiden: Was will ich noch über dieses Kind wissen? Was muss ich untersuchen? Die Lunge, den Rachen, die Ohren, die Haut, den Bauch, den Po, alles? Hält es still oder muss es festgehalten werden? Brauche ich die Seifenblasenmaschine oder andere Ablenkungsmanöver? Muss ich die Temperatur, das Gewicht oder die Sauerstoffsättigung messen? Will ich mir eine Fachärzt*in für eine zweite Meinung dazuholen? Was sind meine Verdachtsdiagnosen? Welche davon ist die wahrscheinlichste? Welche darf ich auf keinen Fall übersehen? Ist dieses Kind schwer krank? Braucht es Medikamente? Wenn ja, welche und in welcher Dosis, für wie lange und wie oft? Will ich es in ein paar Tagen nochmal sehen oder vertraue ich auf eine positive Entwicklung der Erkrankung? Habe ich den Eltern die Diagnose und das Vorgehen gut genug erklärt? Habe ich genug Zeit, es zu wiederholen? Kann ich noch etwas abrechnen? Ist meine Dokumentation rechtssicher und ausreichend? Welches Kind behandle ich als nächstes?
IX
Ärztin sein bedeutet, hin- und hergerissen sein zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge. Aufs Klo zu müssen, Durst zu haben, den knurrenden Magen zu ignorieren, um noch schnell die Patientin zu behandeln, die schon fast eine Stunde wartet. Nachmittags nicht müde sein zu dürfen, weil eine Horde verschnupfter Kinder durchs Wartezimmer krabbelt. Aber wenn ich mich nicht um mich selbst kümmere, kann ich auch anderen nicht helfen. Irgendwann hat die Blase ihre Kapazitätsgrenze erreicht, mit jedem Magenknurren verkürzt sich der Geduldsfaden und ungestillter Durst bringt Kopfschmerzen, die noch nie zu einer besseren Behandlung geführt haben.
X
Ärztin sein bedeutet, gleichzeitig mächtig und machtlos zu sein. Mächtig innerhalb der Strukturen: Ich entscheide, ob ein MRT nötig ist, ich kann Patient*innen abweisen lassen, wenn die Sprechstunde voll ist, oder eine Krankschreibung nicht verlängern, weil ich keinen medizinischen Grund dafür sehe. Machtlos angesichts der Strukturen, die uns alle einschließen: das Budget für Physiotherapie begrenzen, für lange Wartezeiten auf Termine sorgen, Rehaanträge ablehnen, Lieferengpässe verursachen etc.
XI
Ärztin sein bedeutet wütend sein. Auf das System, das uns alle krank macht. Uns mehr Arbeit, mehr Dokumentation, mehr, mehr, mehr in kürzerer Zeit aufbürdet. Uns applaudiert, während wir uns kaputtarbeiten, aber uns gleichzeitig vorwirft, dass die jungen Leute ja nicht mehr arbeiten wollten. Das uns vereinzelt und vereinsamt: Wir kämpfen allein für unsere Patient*innen, machen uns Vorwürfe, wenn etwas schiefgeht und haben keine Energie, uns zusammenzutun und zu fragen, ob es auch besser ginge. Wütend zu sein auf ein System, das Sozialleistungen zerschneidet und dabei predigt, dass wir regelmäßig meditieren sollen, denn Stress sei total ungesund. Das Geld für Rüstung und Krieg bereitstellt statt für eine bessere Gesundheitsversorgung mit guten Arbeitsbedingungen für alle, Zeit für Gespräche mit Patient*innen, guter psychotherapeutischer Versorgung, Entscheidungsfindung unabhängig davon wie viel Geld ihr Ergebnis der Praxis oder Klinik bringt. Oder für die ganzen anderen gesellschaftlichen Probleme, die als Ärztin eigentlich nicht mein Job sind, aber erwiesenermaßen krankmachen: Armut und soziale Ungleichheit, die Klimakrise, Umweltverschmutzung, lange Arbeitszeiten bei stagnierenden Löhnen, Gewalt, Stress, Einsamkeit – setzt diese Liste selbst fort, ihr wisst wie unendlich sie ist.
XII
Ärztin sein bedeutet, politisch sein. Mahne ich Patient*innen zur Eigenverantwortung oder verstehe ich, dass ihre gesellschaftliche Position ihre Handlungsfähigkeit beeinflusst? Was ist mir wichtiger: ihre Arbeitsfähigkeit oder ihr Wohlbefinden? Schiele ich immer wieder aufs Praxiskonto oder will ich die bestmögliche Behandlung bieten? Was mache ich, wenn das beides sich widerspricht? Will ich nur meine Arbeit machen oder auch die Gesellschaft verbessern? Stelle ich mir solche Fragen überhaupt?
Wer glaubt, dass Ärztin sein auch unpolitisch geht, trifft ebenfalls eine politische Entscheidung.•
Jetzt ihr: Was bedeutet es für euch, zu Ärzt*innen zu gehen?
Lektorat: Oliwia Hälterlein – vielen, vielen Dank dafür!
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PPS: Ein Text von mir um Thema Macht im Krankenhaus als kleine Ergänzung :)
Vielen Dank für deine Vorschläge! Ich habe diese Woche noch öfter an deine Fingernagelhygiene gedacht.
"Ärztin sein bedeutet wütend sein. Auf das System, das uns alle krank macht." Diesen Gedanken habe ich oft bezüglich sprießender Heilsversprechen. Meditieren tut gut und ändert was in mir, ja, aber es braucht noch mehr. Wählen. Politischer Diskurs. Seriöse Informationen, vielseitige Perspektiven und vor allem Kommunikation.
Arzt sein ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf. Es bräuchte einen adäquaten Ausgleich. Doch die Realität ist intensiv und dazu noch der wachsende Druck. Das beobachte ich in der Praxis meiner Ärztin und der Stress ist real!
Vielen Dank für diese Einblicke in deinen Alltag als Ärzt*in. Der Text schlägt so schöne und weite Bögen zu all den Themen und Bereichen, die dein Beruf berührt und in dieser Komplexität – Politik neben Fingernagelhygiene, Empathie und Verantwortungsgefühl neben Abrechnungsfähigkeit und Dokumentationspflicht – gibt er viel Stoff zum Nach- und Weiterdenken. Danke dafür!