I
Ich wache ohne Wecker auf, weil mein Körper seinen eigenen Rhythmus gefunden hat. Tapse ins Bad, dann in die Küche. Koche Kaffee und gehe mit meiner dampfenden Tasse und einem Buch zurück ins Bett. Irgendwann frühstücke ich und ziehe zum Weiterlesen auf den Balkon um.
Vielleicht gehe ich spazieren, vielleicht bin ich verabredet, vielleicht mache ich Sport, vielleicht schreibe ich. Vielleicht meditiere ich, störe meinen Partner im Homeoffice oder daddle mich durchs Internet. Idealerweise tue ich gar nichts.
Abends sitze ich auf dem Balkon, bis es dunkel wird. Mein Körper schickt irgendwann mich ins Bett; auch morgen wird kein Wecker klingeln.
II
Meine Arbeitslosigkeit ist eine privilegierte: Ich weiß schon vorher, dass sie nur zwei Monate dauern wird. Die Agentur für Arbeit lässt mich in Ruhe; das ALG I reicht für ein Leben mit ein bisschen Luxus. Ich habe kaum Verpflichtungen, weil ich wegen einer vorangegangenen Burnoutphase vieles abgesagt hatte. Der Wegfall der Arbeit ist eine sofortige Erleichterung. Es ist Mai; es ist Juni. Die Sonne scheint und selbst wenn nicht, scheint sie im Geiste.
III
Schon nach zwei Tagen fällt mir auf, dass ich absurd viel Zeit habe. Ich wärme mich vor dem Joggen ausführlich auf und dehne mich danach, 40 Minuten Aufwand für nur 20 Minuten Sport. Drei Stunden am Samstag für die Steuererklärung sind kein Krebsgeschwür in meinem Wochenende, denn ich habe am Montag auch frei. Eine Stunde Bahnfahrt zum Betriebsarzt des nächsten Arbeitgebers sind eine Gelegenheit, aus dem Fenster zu schauen und kein Grund zur Hetze. Ich schreibe tagelang keinen Buchstaben, aber was soll’s, ich habe morgen frei und übermorgen und überübermorgen.
Wie viel Ruhe allein das Wissen um diese viele Zeit ins Leben bringt: Ohne Hetze ist alles angenehmer. Der Moment wird länger und er wird meiner.
IV
Ich hake an vielen Tagen ein oder zwei kleine Punkte der To-Do-Liste ab: Schreibe diese E-Mail oder jene, scanne Dokumente, pflege die Lederteile meines Rucksacks mit nach Reitstunden duftendem Lederfett, lasse meine kaputten Jeans reparieren, schicke eine Ladung gelesener Bücher an Momox, kaufe neue Laufschuhe.
V
Mein Körper reißt mich aus der Geschäftigkeit. Nach einer Woche Freiheit schickt Mutter Natur mir eine gewaschene Portion Regelschmerzen. Ich lasse es zu, lege mich mit Fantasy-Romanen aufs Sofa und höre auf meine Bedürfnisse, statt Dinge zu müssen.
VI
Wie sähe das Leben aus, wenn ich immer Zeit hätte? Wenn Zeit nicht verschwendet oder gestohlen werden könnte, weil genug vorhanden wäre? Wenn ich nicht nur zwei Monate geliehene Zeit für dringende Erholung hätte? Wenn Zeit haben keine Ausnahme wäre? Zeit als Leben, statt Lebenszeit zu zählen?
Bei einem Dauerzustand müsste es nicht so viel Zeit sein wie jetzt. Ich bräuchte nicht die totale Entschleunigung, wenn es ein Lebensstil statt einer Ausnahme wäre. Wie viel Arbeit wäre in diesem Dauerzustand möglich? 50 %? Hätte ich auch mit einer 75 %-Stelle das Gefühl von unglaublich viel Zeit?
Was würde passieren, wenn mein Nervensystem sich ans Zeit haben gewöhnte? Führt ein Leben ohne Hetze zu fundamentaler Beruhigung?
VII
Wer weniger tun will oder muss, hat mehr Zeit. So weit, so banal. So zutiefst logisch: Weniger Aktivitäten in 24 Stunden = mehr Zeit. Doch ich brauchte drei Wochen Arbeitslosigkeit, um diese Logik zu spüren. Deshalb will ich argumentieren, dass diese Erkenntnis gerade nicht banal ist. Mein Zeitmanagement war immer – und ist weiterhin – zukunftsgerichtet: Erledige jetzt viel, damit du heute Abend/am Wochenende/nächsten Monat/nächstes Jahr Zeit hast! Dabei vergesse ich, dass es am Wochenende, nächsten Monat, nächstes Jahr neue und immer neue To-Dos geben wird.
VIII
Ich muss nicht fragen, was eine produktive Verwendung meiner Zeit wäre, denn mein Zeitbudget ist riesig. Ich kann Fußball gucken, obwohl schlafen „sinnvoller“ wäre. Ich kann am Handy scrollen, statt ein kompliziertes Buchs zu lesen. Spontan zum Grillen bleiben und drei Stunden später nach Hause kommen als geplant. Stundenlange Gespräche auf einer Party führen ohne Blick auf die Uhr, denn ich habe keine feste Schlafenszeit.
IX
Ich will nicht über Produktivität nachdenken, will sie nicht messen. Wenn es nicht so heiß wäre, würde ich die fertige To-Do-Liste rituell verbrennen. So muss der Papierkorb reichen. Früher hätte ich sie als Ritter*innenschlag ins Tagebuch geklebt.
Bei Überschriften wie Wie viel ich erreicht habe, seit ich meinen Job wegen Burnout gekündigt habe, will ich schreien und die Autor*innen schütteln. Ihr müsst im Burnout nicht produktiv sein! In meiner Burnout-Phase habe ich eine Liste mit den Dingen, die ich abgesagt habe, geschrieben. Ist das auch versteckte Produktivität?
Die Ambivalenz bleibt. Ich bin weiterhin darauf gepolt, Dinge zu schaffen. Ich will die To-Do-Liste fertigbekommen und zwar lieber heute als morgen. Manchmal kann ich loslassen, aber dann frage ich mich, ob ich meine Freiheit gut nutze. Ob ich genug auf meine Bedürfnisse und Gefühle höre. Ob ich genug sitze und Nichts tue. Verlange ich trotz (wegen?) dieser temporären Freiheit zu viel von mir, obwohl ich mir vorgenommen hatte, möglichst wenig zu verlangen? Verlange ich sogar vom Nichtstun zu viel? Muss es das perfekte pinterst-würdige Nichts sein statt simpler Erholung?
X
Ich wache auf, weil die Urlaubssonne durchs Fenster scheint, die Vögel singen und ich ausgeschlafen habe. Die Terrasse ist sonnengeküsst, der Kaffee sprudelt duftend aus der Bialetti, ein Liegestuhl mit See- und Bergblick erwartet mich. Da lausche ich den Vögeln, sehe den Booten und Wolken auf ihrer Reise zu, beobachte zwei Eidechsen. Manchmal bäumen sie sich auf und klopfen mit den Vorderfüßen auf den Boden – was das wohl bedeutet?
Mein Buch liegt unberührt neben mir.
Irgendwann frühstücke ich, irgendwann werden wir den Berg hinauf wandern und eine Kirche besichtigen und dann wieder auf der Terrasse den Seeblick und die Erholung in unsere Seelen einsinken lassen.
Abends, wir haben Zeit. Das dreckige Geschirr steht noch auf dem Marmortisch, die Weingläser sind leer. Der Sonnenuntergang war bilderbuchhaft, die Grillen zirpen. Am gegenüberliegenden Ufer gehen langsam die Lichter aus, gleich kommen die Sterne. Plötzlich ein Glühwürmchen. Und noch eins, dann noch eins. Der Garten blitzt und blinkt; es ist eine Party. Über uns der große Wagen und wir wissen vor lauter Schönheit nicht, wo wir hingucken sollen.
XI
Doch der 1. Juli kommt und die Arbeitslosigkeit endet. Das Ganze eine Umstellung zu nennen, wäre untertrieben: Ich arbeite erstmals als Ärztin im Krankenhaus statt in einer Praxis. Meine letzten Krankenhauserinnerungen stammen aus Praktika als Studentin, als ich noch keine Entscheidungen treffen oder Verantwortung tragen durfte. Jetzt ist alles anders.
Mein Arbeitsweg dauert im besten Fall 50 Minuten, aber können wir uns in der S-Bahn darauf verlassen? Ich muss den Wecker auf auf 6:00 Uhr stellen, statt mich von meiner inneren Uhr leiten zu lassen. Meine Patient*innen sind schwer psychiatrisch erkrankt und bewegen sich oft in ganz anderen Spähren als ich: Sie entschärfen Atombomben, sind Gött*innen, verhindern Kriege, spielen alle Musikinstrumente dieser Welt und vielleicht auch die anderer Welten.
Aber die Einarbeitung ist die beste, von der ich jemals in einem deutschen Krankenhaus gehört habe (ich kenne viele Horrorgeschichten). In meiner ersten Woche habe ich keine Patient*innen, in der zweiten zwei und Ende der vierten Woche vier. Andere müssen ab Tag eins die halbe Station betreuen oder gar die ganze.
XII
Die Teilzeit von 30 Stunden pro Woche kickt. Ich arbeite vier Tage à 7,5 Stunden. Donnerstags habe ich frei. Ein kleines Prä-Wochenende: Ich schlafe aus, tue nichts, lese, hänge rum und erledige das eine oder andere To-Do (ihr seht, ich komme nicht weg davon). Ich habe um 15:30 Uhr Feierabend und musste bisher keine Überstunden machen. Mit der Gunst der S-Bahn-Gött*innen bin ich um 16:30 Uhr zu Hause. Das kommt mir absurd früh vor, denn ich vergesse, dass ich mit Mittagspause und Pendeln trotzdem zehn Stunden unterwegs war. Doch in meinen letzten Jobs war ich daran gewöhnt, mindestens zweimal die Woche bis 18:00 oder 19:00 Uhr zu arbeiten.
Freitagnachmittags bin ich müde und ich muss weiterhin auf ausreichend Raum für Erholung und Nichtstun achten. Doch durch die Teilzeit und die damit einhergehende Zeit, die ich natürlich mit 25 % weniger Gehalt bezahle, fühle ich mich meinem Job gewachsen. Das Unterfangen erscheint mir nachhaltiger und ich wage zu hoffen, dass das nächste Burnout weit entfernt ist.
Trotzdem habe ich nicht mehr absurd viel Zeit. Leider. Eine 75 % Stelle reicht nicht für ein komplett anderes, zeitreiches Leben.
XIV
Was hilft beim Nichtstun?
Ein heißes Getränk. Je nach Wetter auch ein kaltes. Vogelzwitschern. Sonne, aber nur wenn sie nicht zu heiß ist. Schöne Aussicht, idealerweise Wasser oder Berge. Peoplewatching-Möglichkeiten. Eine Bahnfahrt. Tierwatching (der Kampf der Nachbarskatze gegen das Katzennetz ist extrem unterhaltsam, siehe unten). Das Buch aus der Hand legen. Das Handy sowieso. Tief einatmen.
Und: Zeit haben.
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PPS: Das Gegenteil von Zeit haben: