#66: Sanftheit, Sehgewohnheiten und Selektion
Konkrete Ideen zum Umgang mit Schönheitsidealen und körperbasierter Diskriminierung (Körper V)
Dieser Text ist Teil meiner Serie über Körper. Hier findet ihr alle Teile. Ihr könnt sie unabhängig voneinander lesen.
Schönheitsideale sind extrem wirkmächtig und üben in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Äußerlichkeiten so wichtig sind wie in unserer, erheblichen Druck auf alle aus. Trotz meiner (teilweisen) Emanzipation will ich ihnen entsprechen – am liebsten ohne etwas dafür zu tun. Denn Schönheit erleichtert das Leben in einer lookistischen Gesellschaft und bringt Privilegien mit sich – so kann der Versuch, ihnen zu entsprechen, auch eine Strategie sein, Diskriminierung zu vermeiden. Dass ich seit Jahren selbstbewusst auf Make-Up verzichte, liegt vor allem daran, dass meine relativ reine Haut und meine von Natur aus dunklen Wimpern mir das Gefühl geben, mich nicht schminken zu müssen. Feministische Gründe folgen in einer ehrlichen Aufzählung erst danach.
Trotzdem: Wie können wir mit diesen Schönheitsnormen und körperbasierter Diskriminierung (über)leben und sie – idealerweise – gleichzeitig verändern bzw. abschaffen? Wie können wir mit ihrem Druck zurechtkommen und dabei ein Ventil öffnen – Luft ablassen, um es den Jahrgängen und Generationen nach uns leichter zu machen? Wie können wir sanfter zu uns selbst und anderen sein?
Der erste Schritt ist es, uns unserer Privilegien diesbezüglich bewusst zu werden. In einer rassistischen, lookistischen, gewichtsdiskriminierenden Gesellschaft sind das beispielsweise weiße Haut, symmetrische Gesichtszüge, eine eindeutig zu lesende Genderpräsentation und eine schlanke bis extrem schlanke (Sanduhr-)Figur. Inwiefern profitiere ich (und vielleicht auch ihr) von diesen Normen? Entsprechen wir ihnen und gehen deshalb mit weniger Hindernissen durchs Leben?
Dazu eine Anekdote: Als ich mich für meine erste Stelle als Ärztin bewarb, verschickte ich meine Bewerbungen ohne Foto. Ich dachte mir: Bringt keine relevanten Informationen, ermöglicht höchstens Diskriminierung, von der ich als weiße Person mit symmetrischem, freundlichem Gesicht profitieren würde. Das wollte ich nicht. (Die Medizin ist was diese Dinge betrifft eine sehr konservative Branche. In anderen Bereichen haben Bewerbungen ohne Foto sich längst durchgesetzt.) Auf fünf fotolose Bewerbungen kam eine Absage, die anderen vier wurden ignoriert. Ich gab auf und verschickte die nächsten Bewerbungen mit Foto – kein professionelles Bewerbungsfoto, aber ein gutes mit freundlichem Lächeln. Auf vier Bewerbungen kamen vier Einladungen zu Vorstellungsgesprächen. Bisher habe ich mit diesem Foto drei Jobs bekommen. Ich hatte also recht, meine Bewerbungen ohne Foto zu verschicken, wurde jedoch gezwungen, mich den Normen zu fügen. Einen Job brauchte ich schließlich trotz aller Privilegien.
Zur Beschäftigung mit unseren Privilegien gehört immer auch die Reflexion unserer Vorurteile. Wir alle wurden in einer rassistischen, lookistischen, gewichtsdiskriminierenden, ableistischen, klassistischen und sexistischen Gesellschaft sozialisiert. Das hinterlässt auch bei den besten Intentionen Spuren. Benutzen wir ableistische Sprache wie „behindert“ als abwertenden Ausdruck statt neutrale Beschreibung? Halten wir unsere Handtasche fester, wenn eine rassifizierte Person sich in der U-Bahn neben uns setzt? Assoziieren wir bestimmte Vornamen oder Stylingentscheidungen mit konkreten sozialen Schichten? Finden wir dicke Menschen insgeheim faul? Mit diesen und ähnlichen Fragen müssen wir uns kritisch auseinandersetzen, auch wenn es unbequem ist – für die von diesen Diskriminierungen Betroffenen ist es schließlich noch viel unangenehmer und wir schulden es ihnen, nicht weiter dazu beizutragen.
Wir sollten diese Normen und Ismen nicht in unsere (stille) Bewertung anderer und unserer selbst einbeziehen, denn so festigen wir sie. Warum finden wir etwas schön? Ist das wirklich unser Geschmack oder wurde uns durch ständige Konfrontation mit Schönheitsidealen beigebracht, dass wir das schön zu finden haben? Welche Auswirkungen hat unser Geschmack? Reproduziert er bestehende Normen? Können wir ihn bewusst erweitern? Das ist eine Aufforderung, weniger judgy zu sein, insgesamt weniger zu bewerten, sondern stattdessen zu leben und leben zu lassen. Denn wenn wir weniger hart mit anderen ins Gericht gehen, werden wir automatisch sanfter zu uns selbst.
Als nächstes müssen wir unsere Privilegien nutzen, um diese Normen zu verändern und Diskriminierung abzuschaffen. Meine Bewerbung ohne Foto war so ein Versuch. Ein weiteres Beispiel ist, in Situationen, in denen aufgrund dieser Normen diskriminiert wird, darauf hinzuweisen, auch wenn wir selbst nicht betroffen sind. Das nimmt den Druck von Diskriminierten und kann (leider) einen größeren Effekt haben als Protest von Betroffenen, denn der Einsatz von Nicht-Betroffenen kann breiteres Gehör verschaffen und die gesamtgesellschaftliche Dimension des Problems verdeutlichen. Er zeigt, dass Diskriminierung politisch ist und kein privates Problem der Betroffenen.
Doch wie privilegiert müssen wir sein, um diese Macht tatsächlich zu haben? Als Chefin könnte ich in die Stellenanzeige schreiben: „Nur Bewerbungen ohne Foto“, aber Chefin werde ich, wenn überhaupt, frühestens in zehn Jahren. Was kann ich bis dahin tun?
Ich kann weiter an meiner persönlichen Emanzipation von Schönheitsnormen und internalisierten Ismen arbeiten. Eine Strategie dafür ist es, unsere Sehgewohnheiten zu verändern. Aufgrund der ständigen Konfrontation mit hegemonialen Schönheitsidealen in den Medien gewöhnen sich unsere Gehirne an diese Bilder und halten sie für normal statt für ein unerreichbares Ideal. Plötzlich denken wir, dass alle wunderschön sind - und wenn sie doch von den Idealen abweichen, dann bloß in einem Aspekt. Ein Beispiel dafür ist der Film Barbie, in dem es zwar schwarze, dicke, behinderte und trans Barbies gibt, die aber immer nur eins dieser Merkmale haben und ansonsten den Idealen entsprechen. Durch diese Sehgewohnheiten bewerten wir Abweichungen – egal ob bei uns selbst oder bei anderen – harscher. Doch wir können diese Gewohnheiten aktiv verändern, indem wir uns mit Bildern umgeben, die Körper in ihrer wahren Vielfalt repräsentieren. Dafür ist Social Media gut geeignet: Folgt Personen, die behindert sind, nicht weiß, dick, nicht normschön. Mit der Zeit – und das dauert gar nicht so lange – wird euer Gehirn sie als normal einordnen statt als Abweichungen.1 Das wird auch verändern, wie ihr Menschen in der Offline-Welt wahrnehmt und euch dabei helfen, weniger judgy zu sein. Nicht zuletzt auch, wenn ihr in den Spiegel schaut.
Informiert euch über Körper: Wie funktionieren sie? Was ist medizinisch-biologisch betrachtet normal? (Diese Spannweite ist viel größer als die der Schönheitsideale.) Welche Methoden benutzt die Mode- und Kosmetikindustrie, um uns von unserer Unzulänglichkeit zu überzeugen und zum Kaufen zu bringen (mehr dazu im nächsten Teil dieser Serie)? Können diese Produkte ihre Werbeversprechen überhaupt halten? Damit könnt ihr zum Beispiel bei Jessica DeFinos Newsletter The Unpublishable anfangen, in dem sie die Kosmetikindustrie auseinandernimmt.2 Ihre Arbeit zeigt einmal mehr, dass Haut absolut normalerweise Unebenheiten, Poren, Pickelchen, Falten oder ähnliche Schönheitsfehler hat, weil sie ein lebendiges Organ ist und keine retuschierte Plastikschicht. Ja, manche Dinge müssen wir immer wieder lesen, um gegen die Übermacht der Werbeindustrie anzukommen. Dieser Text hat mich beispielsweise erfolgreich am Kauf eines Vitamin-C-Serums gehindert.
Wenn ihr online eine gewisse Reichweite habt, könnt ihr außerdem dazu beitragen, die Sehgewohnheiten anderer zu verändern, indem ihr solche Konten teilt und Bilder von euch postet, die von den Idealen abweichen.
Die nächste Strategie ist weniger dazu gedacht, die Welt zu verbessern, als dazu, euer Leben zu vereinfachen. Sie besteht darin, sich auf einen Teilaspekt der Schönheitsideale zu konzentrieren, nur diesen zu erfüllen und den Rest zu ignorieren. Ich interessiere mich beispielsweise für Mode und würde das auch in einer Welt tun, in der Äußerlichkeiten weniger zentral sind. Ich liebe raffiniert geschnittene Kleidung, weiche Stoffe, unerwartete Kombinationen von Formen und Farben. Deshalb spiele ich dieses Spiel ein bisschen mit. Nicht im Sinne, dass ich möglichst trendy sein möchte (vielleicht immunisiert mein Alter mich dagegen?). Aber ich ziehe mich gern schön an und bin bereit, dafür Geld auszugeben, auch wenn ich meinen Konsum aus Umweltschutzgründen stark reduziert habe und möglichst viel Secondhand kaufe. Makeup hingegen, ich sagte es bereits, interessiert mich nicht und ist deshalb nicht Teil meines Alltags. Meine Frisur ist sehr pflegeleicht; ich muss mich nicht einmal kämmen. Meine Fingernägel sind kurz und blank, mein Peeling vergesse ich ständig und in meinem Badezimmerschränkchen warten diverse Gesichtsmasken und Augencremes vergeblich auf ihren Einsatz. Bei Schmuck habe mich auf Ohrringe spezialisiert; so muss ich morgens nur eine Entscheidung treffen. Ich habe mich also aus den Bereichen Mode, Hautpflege, Haarstyling, Maniküre, Schmuck etc. für die Mode entschieden und spare dadurch Zeit und Nerven. Trotzdem erlaubt dieser Fokus einen gewissen Konformismus: Ich entspreche den Idealen genug, um ohne groß anzuecken durchs Leben zu kommen. Vielleicht ist das ein bisschen feige, weil ich die Ideale nicht aufbreche, aber es konserviert Energie. Wie viel Abweichung diese Strategie erlaubt, hängt von vielen Faktoren ab: unserem sozialen Umfeld, unserer Anecktoleranz und unserem Alltag. Im Homeoffice ist diese Strategie leichter als in Jobs mit direktem Kund*innenkontakt oder ehrgeizigen Verkaufszielen der Chef*innen.
Anfangs war es mir unangenehm, die Schminke wegzulassen, aber ich habe mich schnell daran gewöhnt. Nach ein paar Monaten fiel mir am Abend des ersten Praktikumstags auf, dass ich mich ja hatte schminken wollen, um einen guten Eindruck zu machen. Es hatte auch ohne funktioniert. Jetzt fühle ich mich ungeschminkt nie unwohl, auch nicht an coolen Orten, wo alle anderen Make-up tragen. Ich denke einfach nicht viel über mein Gesicht nach.
Dann gibt es noch die Strategie, sich eine berufliche Nische zu suchen, in der das Aussehen nicht so wichtig ist. Als Dermatologin würden meine Pickelchen mich stressen, weil ich eine möglichst schöne und gesund aussehende Haut wollte, um eine überzeugende Fachfrau für dieses Gebiet zu sein (dazu kommt, dass viele Dermatolog*innen auch ästhetische Leistungen wie Botox anbieten und Schönheit sich besser verkauft, wenn die Verkäufer*innen schön sind). Eine Hausärztin dagegen darf normal aussehen, vielleicht sogar ein bisschen zerzaust und müde. Sie gibt schließlich alles für ihre Patient*innen.
Hier stoßen wir wieder an Privilegien. Nicht alle können oder wollen sich für einen Beruf entscheiden, in dem ihr Aussehen zweitrangig ist. Auch genetische Privilegien wie reine Haut, pflegeleichte Haare oder eine schlanke Figur erleichtern diese Entscheidungen, weil damit den Idealen auch ohne aktiven Aufwand (teilweise) entsprochen wird. Und dann ist da noch das Geld: Ich gebe regelmäßig dreistellige Beträge für ein neues Kleidungsstück aus und meine Friseurin ist ziemlich teuer, damit ich mir danach keine Gedanken über meine Haare machen muss.
Allerdings es könnte noch teurer sein, alle Bereiche bedienen zu wollen, denn Makeup, Haaraccessoires, Nagellack bzw. Mani- und Pediküren, Wimpernverlängerungen, Waxing etc. kosten natürlich auch Geld. War mein erster Impuls: „für diese Strategie muss man reich sein,“ weil ich selbst mehr Geld als nötig investiere? Oder ist es insgesamt billiger – finanziell, nicht zeitlich –, alle Normen zu erfüllen, zumal es mittlerweile viele günstige Alternativen gibt? Trotzdem bleibt es mit mehr Ressourcen einfacher, sich den Schönheitsidealen anzunähern. Und es ist leichter, mit ihnen zu brechen: Der exzentrische Millionär mit dem löchrigen Wollpulli erntet wohlwollendes Lächeln und gut verstecktes Kopfschütteln. Bei einer Person, die von Bürgergeld lebt, wäre derselbe Pulli ein Beweis für ihre Unfähigkeit, sich an soziale Gepflogenheiten zu handeln. Sozial verträgliche Verweigerung der Ideale funktioniert nur, wenn das Geld an anderer Stelle erkennbar ist: Meine Frisur und mein Kaschmirpulli zeigen euch, dass ich mir auch Make-up leisten könnte. Die andere Option ist, mit der Verweigerung als politisches Statement bewusst anzuecken – denn das muss sichtbar sein, um zu funktionieren.
Ich weiß nicht, ob wir mit der Wahl einer Nische Schönheitsideale verändern können. Vielleicht hilft es in unserem direkten Umfeld, wenn andere sehen: „Oh, sie schminkt sich nicht/hat eine einfache Frisur/trägt praktische Kleidung statt schicker Outfits und die Welt geht trotzdem nicht unter, vielleicht könnte ich das auch probieren? Muss ich mich gar nicht so stressen, muss ich den Idealen nicht hinterherhetzen?“
Genauso können wir auch Sanftheit mit uns selbst und anderen vorleben: weniger bewerten, zunächst in Gesprächen, dann auch in Gedanken. Versuche, mit den Idealen zu brechen, anerkennen und unterstützen. Uns selbst weniger unter Druck setzen, schließlich würden wir unsere Freund*innen auch nicht beschimpfen, wenn sie Pickel oder Gewichtsschwankungen haben, aber tun das häufig beim Blick in den Spiegel. „Ich will sanft sein“ ist eine Entscheidung, die uns Gedanke für Gedanke, Handlung für Handlung, dabei helfen kann, den Ballast der Schönheitsideale abzuwerfen.
Idealerweise würde sich das verbreiten wie Wellen auf einem Teich, nachdem wir versteinerte Schönheitsideale hineingeworfen haben. Weitere politische Arbeit ersetzt es jedoch nicht. Doch diese Strategien erleichtern uns als Einzelpersonen das Leben, was in der neoliberalen Gesellschaft auch nicht zu verachten ist. Wenn wir unsere Sehgewohnheiten erweitern, weniger judgy – dafür aber sanfter – sind und uns laut gegen Diskriminierung wehren, egal ob wir direkt davon betroffen sind oder nicht, können wir zu echter Veränderung beitragen.
Lektorat: Katharina Stein
Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Er erscheint ein- bis zweimal im Monat.
PS: Vielen Dank für eure solidarischen Abos, damit kann ich bisher fast 4 Lektorate im Jahr finanzieren (hier versuche ich, euch davon zu überzeugen).
Oder ihr spendiert mir einen Kaffee. Ihr könnt die Arbeit am Newsletter auch via Paypal unterstützen.
PPS: Hier noch mehr zum Thema Mode und meinem Experiment, klimafreundlicher zu konsumieren. Update: Ich habe das Maximum an Käufen im September erreicht, bin aber zuversichtlich, dass ich die nächsten zwei Wochen ohne durchhalte. Drückt mir bitte trotzdem die Daumen :)
Dieses Podcastinterview fasst De Finos Standpunkt sehr gut zusammen.