Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Dieser Text ist Teil der Edition KURZUNDSCHLECHT. In den nächsten Wochen erwarten euch wundervolle Texte von Vivian Sper, Kea von Garnier, Antoni Dylan, Oliwia Hälterlein und Franziska König.
Dieses Nahrungsergänzungsmittel schützt vor Viren, Bakterien, Krebs, Knochenbrüchen und macht unsterblich!
Diese Art, dein Baby zu ernähren, ist die einzige, mit der es gesund und glücklich werden kann!
Meditation führt zu mehr Schlaf, mehr Resilienz, mehr Konzentration, mehr Zen!
Mehr Personal im Gesundheitswesen bedeutet mehr Zeit, bessere Behandlung, weniger Arbeitsbelastung, niedrigerer Krankenstand, mehr Heilung!
Gewerkschaften verringern die Abhängigkeit von Chef*innen und schaffen kollektive Durchsetzungsmacht, bessere Arbeitsplätze, mehr Solidarität!
Klingt super, oder? Aber ist die Sache wirklich so einfach? Gibt es solche Allheilmittel – Fäden, an denen wir bloß endlich (!) ziehen müssen und – zack! – löst sich der gordische Knoten? Natürlich sind diese Vorschläge irgendwie Lösungen. Vielleicht hast du einen tatsächlich Vitamin-D-Mangel, aber diese Tabletten werden dein Leben über die verbesserten Blutwerte hinaus nicht verändern. Wahrscheinlich wird dein Leben entspannter, wenn du mehr meditierst. Sicherlich wird die Gesundheitsversorgung mit mehr Personal besser. Doch nichts davon löst alle Probleme: Meditation erhöht kein Gehalt, heilt keine Krankheiten und zaubert keine Klimakrise weg. Mehr Personal verändert weder falsche Abrechnungsanreize noch kratzt es an den Widersprüchen der Pharmaindustrie.
Letztens sprachen wir im einwortKollektiv darüber, wann wir unsere Texte loslassen und wir sie für gut genug befinden, um sie an euch zu schicken. Ob wir in unseren Newslettern, unseren persönlichen Ecken im Internet, nicht niedrigere Standards haben dürften (sollten?) als bei Einsendungen für Anthologien oder Wettbewerbe. Und stattdessen mehr Spaß, so wie früher auf unseren Tumblr, Piczo und Blogger-Seiten. Kürzere Dinge schreiben, dazu ein mehr oder weniger gutes Foto oder gar keins, und raus damit. Keine fünfte Überarbeitung, nicht drüber schlafen, sondern loslassen ohne overthinking.
Wir müssen wir zwischen Makro- und Mikrolösungen unterscheiden: Sollen sie individuelle oder gesellschaftliche Probleme lösen? Mikrolösungen wie Meditation, Yoga, mehr Sport, mehr Leaning in etc. behaupten, dass sie für alle funktionieren. Aber nicht alle haben die körperlichen Voraussetzungen für tägliches Yoga, es gibt nicht überall eine Gewerkschaft und wenn meine Kolleg*innen nicht mitmachen, ist mein Beitrag eher eine Spende als ein Motor der Veränderung. Diese „Lösungen“ ignorieren strukturelle Barrieren: Keine*r kann sich aus einer rassistischen Welt oder einer Depression herausmeditieren. Deshalb ist es unethisch, einfache Mikrolösungen zu verkaufen. Ich weiß nichts über deine Mikroebene und von mir auf andere schließen funktioniert am besten, wenn wir uns so ähnlich sind, dass du selbst längst auf diese Idee gekommen bist. Alle anderen können von meiner Lösung nicht einmal ein Mikrowunder erwarten.
Mir fällt ein, dass auf meiner Festplatte dieser Text winterschläft, den ich nicht besonders gut finde und der mit jeder Überarbeitung kürzer wurde. So sehr, dass ich mich irgendwann fragen musste: Ist dieser Text eigentlich ein Tweet? Würden 240 Zeichen für diese Idee reichen?
Die Makrolösung hingegen ist oft zu unspezifisch, um hilfreich zu sein. Mehr Personal im Gesundheitswesen? Jederzeit, aber wie? Diese „Lösungen“ klingen ohne konkrete Handlungsvorschläge abgedroschen und sind komplexer als ihre slogan-artige Formulierung nahelegt. Für mehr Personal im Gesundheitswesen müsste einiges passieren – es wäre eine Kulmination vieler Veränderungen. So könnte auch die Mikroebene zur Makroebene führen, etwa in dieser vereinfachten (!) Formel:
Alle treten der Gewerkschaft bei —> Arbeitskampf —> erfolgreiche Tarifverhandlungen —> mehr Personal in einer Einrichtung —> dasselbe in anderen Praxen, Krankenhäusern und Pflegeheimen —> neue Mindestpersonalbemessung —> ausreichend Personal überall.
Slogans und Mikrolösungen ignorieren die Vielfalt der Menschheit und ihrer Probleme – Meditation ist nicht für alle der beste Weg zur Entspannung und enthusiastische FDPler*innen werden mit den mit mehr Personal einhergehenden höheren Gesundheitsausgaben unglücklich sein. So verschleiern sie die Komplexität der Welt und verhindern echte Lösungen.
Ich zweifle wieder an diesem Text: Er ist zwar gar nicht mehr so kurz, jedoch trotz dieser neuen Einschübe kürzer als in der ersten Fassung. Und vielleicht noch schlechter? Insbesondere, weil ich erst in den kommenden letzten beiden Absätzen zu meinem wichtigsten Punkt kommen werde und gar nicht wissen kann, ob ihr noch mitlest.
Also doch ein Tweet?
Egal. Raus in die Welt damit. Der Text muss nicht das Universum heilen, sondern nur ein paar wenigen seiner Bewohner*innen eine neue Idee schenken oder ihnen dabei helfen, ihre Gedanken in Worte zu fassen.
Das Hauptproblem der Allheilmittel ist, dass sie uns eine unterkomplexe Welt vorgaukeln. Wenn Menschen solchen vermeintlichen Wundermitteln zu häufig begegnen, gewöhnen sie sich an diese Denkweise. Dann verlangen sie solche Lösungen, wo es diese nicht geben kann. Als Ärztin erlebe ich das häufig: Ich habe nicht für alles eine Pille und nicht jedes Medikament funktioniert bei allen gleich gut. Oft können wir nur den Körper in seiner Selbstheilung unterstützen.
So kann der Wunsch nach Allheilmitteln Menschen für Verschwörungsmythen empfänglich machen, weil diese Komplexität auf simple Erklärungen und Lösungen reduzieren. Doch damit schirmen sie ihre Anhänger*innen von der Welt ab, ohne zu konstruktiven Lösungen beizutragen. Denn bevor wir die Welt verbessern können, müssen wir die Komplexität dieser Aufgabe erfassen. Und dürfen uns davon nicht entmutigen lassen.
Lektorat: Kea von Garnier – vielen Dank <3
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PPS: Wie es ist, die körperlichen Voraussetzungen für Yoga durch Yoga zu verlieren: