Tag -2: Im Januar werde ich jeden Tag mit Adriene Yoga zu machen – sie veröffentlicht jedes Jahr so eine Serie und 2021 bin ich endlich wieder dabei! Ich mache seit fast zehn Jahren Yoga, allerdings unterbrochen von einer mehrjährigen Achillessehnen-Zwangspause. Vor zwei Jahren konnte ich langsam wieder anfangen. In der Yoga-Therapie (ja, gibt es, ja, ist teuer) lernte ich Strategien zur Entlastung der Achillessehne und konnte diese durch ein Stück Holz (kostenlos aus dem Keller meiner Eltern) für zu Hause adaptieren. In der zweiten Hälfte 2020 habe ich, weil die Spaziergänge ohne Achillessehnen-Probleme immer länger wurden, mehr Yoga-Sessions eingeführt und kam schließlich auf drei Dates die Woche mit Adriene. Ums Staatsexamen herum war ich so gestresst, dass daraus fünf werden mussten. Die Achillessehne muckte weiterhin nicht, weswegen überhaupt plausibel erscheinen konnte, dass ich im Januar an dreißig Tagen hintereinander Yoga machen könnte. (2020 dagegen habe ich für die 30 Days of Yoga ungefähr neun Monate gebraucht.)
Was erhoffe ich mir von diesen dreißig Tagen? Ich erwarte keinen besonderen Trainingseffekt, durch meinen Nicht-Yoga-Sport bin ich fit und jeden Tag ist ja „nur“ doppelt so oft wie in den letzten Monaten. Nein, mich interessiert der Kopf. In der intensiven Yogaphase vor dem Staatsexamen bemerkte ich, dass ich die Ujjayi-Atmung machte, ohne das Adriene das von mir verlangt oder ich mich aktiv dafür entschieden hätte. Das machte mich neugierig auf die Effekte eines intensiven Yoga-Monats. Durch meine realistischen Erwartungen will ich Yoga vom Neoliberalismus reclaimen: Ich mache das für mich, es ist ein durch Neugier inspiriertes Experiment, kein Versuch, meinen Wert auf dem Arbeitsmarkt zu steigern. Ich weiß, dass es nicht nachhaltig ist – ich werde danach zu meinem gewohnten Programm zurückkehren, weil ich glaube, dass Yoga (zumindest in der Intensität, in der ich es betreibe) Krafttraining nicht ersetzen kann und sollte, Osteoporoseprophylaxe und so. Es soll einfach ein bisschen Spaß machen und mir Gelegenheit zum Durchatmen geben.
Natürlich ist Yoga kein Allheilmittel. Es kann im Umgang mit dem Kapitalismus helfen, aber eine nachhaltige Lösung ist, den Kapitalismus abzuschaffen, statt alle darunter Leidenden zum Lotussitz zu verdonnern – zumal nicht alle die körperlichen Fähigkeiten oder die finanziellen Mittel dafür haben. Gerade Youtube-Yoga wirkt wenig ressourcen-intensiv, doch das täuscht: Ich würde es Anfänger*innen nicht empfehlen, weil es beim Lernen sehr hilft, von Profis korrigiert zu werden. Ob der Rücken im herabschauenden Hund gerade ist, spüren wir anfangs nicht; andere müssen eine Hand auf die krumme Stelle legen. Vor Adriene habe ich jahrelang in diversen Yoga- und Fitnessstudios den Hund gemacht und das nötige Körpergefühl entwickelt, um mich jetzt vor dem Bildschirm selbst korrigieren zu können. Dass all diese Kurse nicht kostenlos waren, ist leider klar. Dazu kommen das Gerät, das Youtube abspielen soll, eine Yogamatte, Sportkleidung und gegebenenfalls Hilfsmittel wie Blöcke. Auch hier stellt der Kapitalismus endlose Möglichkeiten bereit, sodass geschickte Werbung uns davon überzeugt, dass wir für die perfekte Entspannung überteuerte Lavendelduftkerzen oder wie Adriene jeden Tag ein neues Outfit brauchen. Ein weiterer Faktor ist Zeit: Ich werde im Januar im Home Office an meiner Promotion arbeiten, sodass zwanzig bis vierzig Minuten Yoga sich problemlos einschieben lassen. Ob ich das bei einer 40-plus-Stunden-Woche mit Arbeitsweg überhaupt probieren würde, ist fraglich. Für Adriene sind außerdem Englischkenntnisse von Vorteil.
Tag 0: Adriene sagt im Willkommens-Video, dass es auch ohne Yogamatte geht, was ich mir ziemlich unbequem vorstelle. Allerdings wird meine Billig-Matte immer dünner, möglicherweise würde ich bei Yoga auf den Holzdielen keinen Unterschied merken…
Tag 1: Yoga ist sehr entspannend und ich fühle mich gut, nur schreibe ich dabei im Kopf diesen Text weiter und vergesse zu atmen. So war das natürlich nicht gedacht… Außerdem bleibe ich ein paar Mal am Wäscheständer hängen und meine Internetverbindung verlängert ungefragt einige Übungen. Die Tücken des Heim-Yogas…
Tag 3: Heute habe ich die Pausentaste entdeckt: So kann ich entspannt meine Schichten ablegen, sobald mir warm wird und wieder anziehen, bevor ich ins Shavasana gehe (Willkommen in meiner kalten Altbau-Wohnung). Im herabschauenden Hund ausziehen funktioniert nämlich gar nicht.
Tag 4: Schon nach drei Tagen Muskelkater, vielleicht verändert dieser Monat meinen Körper doch… Dank unzureichender Tagesplanung komme ich erst um 22 Uhr zum Yoga, zum Glück ist es ein ruhigeres Video. Adriene scheint Wechsel zwischen anstrengend und weniger anstrengend einzuplanen, damit auch Menschen mit launischen Achillessehnen und anderen körperlichen Einschränkungen mithalten können.
Tag 6: Heute haben ca. 9000 Leute gleichzeitig mit mir das Video bei Youtube abgespielt. Eigentlich lese ich nie Kommentare, aber ich scrolle mich ein bisschen durch und finde so einen positiven, netten Ort im Internet (!!!). Außerdem lerne ich hilfreiche Tipps wie „Wenn Adriene einen Dutt hat, wird es besonders anstrengend.“ (Ich spüre meine Bauchmuskeln auch nach dem Kommentare lesen noch…) Beim Mattezusammenrollen habe ich es geschafft, mir mit der Matte ein Bein (?) zu stellen… zum Glück hatte ich aus der Hocke keine signifikante Fallhöhe. Interessant, was für Missgeschicke passieren, sobald ich sie dokumentiere…
Tag 8: Irgendetwas stimmt mit meiner Achillessehne nicht, entweder waren es die Winterschuhe beim Schnee letztes Wochenende, zu viel Yoga, Sport plus Yoga, die Kombi alldessen oder ein ganz neues Mysterium. Das Wetter wird mir hoffentlich bei der Winterstiefel-Vermeidung helfen, Sport ist gestrichen und das Yoga werde ich mit Modifikationen weitermachen. Wenn ich in einer Woche keine eindeutige Besserung bemerke, muss ich diese Reise wohl abbrechen – Plottwist! Doch seit ich akzeptiert habe, dass das die Achillessehne schlechter ist als in den letzten Wochen und Monaten, stresst mich das mehr als Yoga jemals ausgleichen könnte.
Tag 9A: Vorsichtshalber Yogapause.
Tag 9B: Eigentlich wollte ich die Achillessehne wieder mit Yoga testen, aber nachdem andere Sehnen-Übungen schmerzten, wird die Pause verlängert.
Tag 9C (na, habt ihr noch den Überblick?): Heute sieht es schon wieder schlecht aus, aber diesmal – nächster Plottwist, diese Kolumne ist das neue Netflix! – wegen Schmerzen in meiner rechten Hand, in den Metacarpophalangeal-Gelenken II und III, wie auch immer die auf Deutsch heißen. Allerdings nicht vom Yoga, sondern von meiner offensichtlich hoch gefährlichen Doktorarbeit. Ich habe schon ins Tag 9 Video gespickt; da ist nicht soooo viel auf den Händen, allerdings viel auf der Achillessehne – herzlich willkommen in der Zwickmühle! Ich werde nachher den Vierfüßlerstand testen, je nach Ergebnis wage ich mich ans Video. Alternativ habe ich mir ein anderes Video von Adriene ausgesucht, eine Meditation für Bescheidenheit.
Seit Tag 7 frage ich mich, warum ich überhaupt jeden Tag Yoga machen will. Was für eine Schnapsidee, ich war vorher doch zufrieden mit meinem Sport- und Yogaprogramm! Warum wollte ich eine gute Sache unbedingt noch besser machen? Statt einfach zu genießen, dass ich so viel Yoga machen konnte wie seit Jahren nicht mehr. Aber nein, es muss immer mehr, mehr, m e h r sein. Fuck Neoliberalismus. Warum fällt es mir so schwer, dieses Projekt abzubrechen? Adriene wäre die erste, die sagen würde, dass Yoga an den Körper angepasst werden muss und nicht umgekehrt.
Bisher hat dieses Projekt mir bis auf fünf Seiten Notizen wenig Positives gebracht; ich habe zwar eine Woche Yoga gemacht, aber keine Metamorphose meines Geistes bemerkt. Stattdessen kam mit den Achillessehnen-Schmerzen der Stress (streng genommen gilt das wohl als Geistes-Metamorphose), ich musste mein normales Sportprogramm abbrechen und meine Spaziergänge kürzen. Wieso bin ich so überrascht, dass dieser Text sich zu Teil 2 meiner Serie über Gesundheit und Krankheit entwickelt? Immerhin ist das interessanter als das übliche „Yoga ist gut für den Geist“-Gelaber. (Was natürlich stimmt, aber keine kolumnenwertige Erkenntnis ist.)
Ist es so schwer, eine vernünftige Entscheidung zu treffen und die 30 Tage in meinem eigenen Tempo zu machen, weil ich schon angefangen habe, darüber zu schreiben? Weil ich unbedingt wollte, dass es eine Erfolgsgeschichte wird? Mit meinem Prä-Examens-Yoga-Pensum hätte ich dieses Projekt am 11.3.2021 abgeschlossen – 6,5 Monate früher als 2020. Ist das nicht die Definition von Erfolg? Warum stelle ich diese Rechnung erst heute auf? Schon im Dezember war mir bewusst, dass die Gefahr, dass ich zu viel mache deutlich höher ist als die Gefahr, dass ich zu wenig mache. Da ging es darum, ob und wie ich anderen Sport mit Yoga kombiniere. Statt diesen schlauen Satz auch aufs Yoga anzuwenden, habe ich ihn ignoriert. Und naja. Ihr seht ja, was ich davon habe.
Tag 10A: Warum habe ich mich nicht für 30 Tage Meditation entschieden? Warum habe ich die Meditation für Bescheidenheit immer noch nicht gemacht? Warum will ich mich nicht auf Meditation umentscheiden, obwohl ich ein verdammtes Meditationskissen besitze?
Tag 13: Heute habe ich ganz rebellisch das Video des Tages gemacht, vor Tag 10, 11 und 12. Einfach weil es beim Spicken angemessener für Hand und Fuß wirkte und der Titel („Feel“) besser zu meiner Stimmung passte als „Connect“, „Flow“ oder „Drop.“ Außerdem habe ich irgendwann zwischen gestern und vorgestern akzeptiert, dass ich dieses Experiment abbrechen muss. Das war's dann mit dem Yoga-Januar…
Was haben wir also gelernt?
1. Ich halte Meditation scheinbar nicht für eine tragfähige Yoga-Alternative.
2. Never fucking change a winning team (besagtes Team besteht aus Adriene Mishler, Cassey Ho, Pamela Reif, Bailey Brown, Maddie Lymburner, einem Adblocker und mir.)
3. Yoga ist offensichtlich eine andere Belastung für die Achillessehne als Spazierengehen und Sport.
4. Meine Achillessehne ist noch (?) nicht so weit.
5. „An 30 aufeinanderfolgenden Tagen Yoga“ darf „Radtouren“ und „für einen Halbmarathon trainieren“ auf der Liste Dinge, die ich dank meiner Achillessehne nie wieder tun werde Gesellschaft leisten.
Ich hoffe eure Vorsätze scheitern weniger spektakulär oder vielleicht wart ihr schlau genug, 2021 ohne so einen Quatsch zu begehen – in diesem Fall herzlichen Glückwunsch! (Wenn eure Vorsätze gut laufen natürlich auch herzlichen Glückwunsch *hrmpfff*) Diese Berichterstattung muss hier enden, sonst artet sie endgültig in irrelevantes Gelaber aus. Seid ihr nicht auch froh, dass dieser Text nicht noch länger ist? Ich wünsche euch einen schönen yogafreien Sonntag, lasst euch nicht von euren Vorsätzen ärgern!