#68: Feministische Pflichten im öffentlichen Raum?
Eine Neuausgabe des allerersten Texts von Fast jeden Sonntag
Zum vierjährigen Fast jeden Sonntag Jubiläum veröffentliche ich eine vollständig überarbeitete Version meiner allerersten E-Mail an euch. Beim Wiederlesen war ich positiv überrascht, wie gut und wenig cringe ich sie fand – deswegen habe ich sie vor allem um neue Gedanken erweitert. Ein paar davon verstecken sich hinter einer Paywall, ein Großteil ist für alle verfügbar. Wie ihr die Arbeit am Newsletter und das Lektorat unterstützuen könnt, erfahrt ihr hier. Viel Spaß beim Lesen!
Ich würde eher ohne Fahrkarte als ohne Buch in die U-Bahn steigen. Manchmal staunen meine Mitreisenden, dass überhaupt noch Bücher! aus Papier! gelesen werden! Andere fragen mich, was ich lese, und erzählen mir von ihren Büchern. So wie an einem Samstag im September 2019. Natürlich liebe ich Gespräche über Bücher – sogar mit Fremden in der U-Bahn. Sich gegenseitig Bücher empfehlen ist toll – sogar mit fremden Männern in der U-Bahn. Allerdings soll es dabei bleiben; ich möchte mich nicht treffen, um “über Bücher zu reden.” Danke, ich bin in zwei Buchclubs.1
Vor allem will ich das nicht, wenn der Fragende deutlich älter ist als ich (ca. 15++ Jahre), aber nicht so alt, dass ausgeschlossen ist, dass “über Bücher reden” etwas ganz anderes bedeutet. Auch weil mein Ausschnitt ausgerechnet an diesem Samstag so tief war. (Reminder: Männer sind für ihr Verhalten selbst verantwortlich; meine Kleidung spielt keine Rolle.)
Natürlich ich habe gemerkt, wie beeindruckt er war, dass ich ein französisches Buch lese. Dass ich mit einer Freundin in einem Buchladen verabredet war – für einen kurzen Moment war ich sein Manic Bücher Dream Girl. Aber nur weil etwas als Kompliment interpretiert werden kann, und/oder so gemeint ist, heißt das nicht, dass es als solches interpretiert werden wird. Außerdem finde ich mich selbst schon cool genug, dafür brauche ich keine Männer.
Dies ist einer dieser Post-#metoo-Momente, in dem Männer aufschreien: “WAS? Dürfen wir junge Frauen in der U-Bahn nicht mehr fragen, ob sie auch außerhalb der U-Bahn mit uns reden wollen???!!!”
Nein, liebe Männer, dürft ihr nicht. Denn so macht ihr aus einer netten Interaktion – das Gespräch an sich ist nicht das Problem, sondern die Einladung, es fortzusetzen – eine unangenehme. Jetzt muss ich euch eine Abfuhr erteilen, obwohl Hollywood-Gehirnwäsche mir sowas jahrzehntelang als meet-cute verkauft hat. Obwohl ich dazu sozialisiert wurde, immer schön nett zu Männern zu sein. Weswegen ich eure Nummer einspeichere und behaupte, ich würde darüber “nachdenken.” Und mich dann das ganze Wochenende darüber ärgere, dass ich nicht nein gesagt habe. Obwohl ich mir relativ sicher war, dass eine Abfuhr nicht zu einer aggressiven oder ausfälligen Reaktion geführt hätte.
Natürlich passieren täglich schlimmere Dinge. Auch mir sind schlimmere Dinge passiert. Aber die müssen wir hier nicht diskutieren – #metoo hat Männer auf Grauzonen vorbereitet: Ihr könnt jetzt verstehen, warum sogar nett gemeinte Einladungen ein Problem sein können. (Wenn es doch um „Bücher“ statt Bücher ging: Geht gar nicht, wisst ihr.)
Von #metoo solltet ihr gelernt haben nachzudenken, bevor ihr jeden. verdammten. Wunsch. einfach. herausplappert. Stattdessen bitte den Empathie-Knopf einschalten (ganz oben rechts im Gehirn neben dem Müll-rausbringen-Knopf) und nachdenken: Was ist das für eine Situation? Fühlt die andere Person sich wohl? Sendet sie Signale für Gesprächsbereitschaft oder liest sie ein Buch/trägt Kopfhörer/schaut krampfhaft überall hin außer in meine Augen? Gibt es Machtgefälle (wie Alter)? Möchten andere sich vielleicht ohne Einladungen zum Bücher-Bequatschen durch den öffentlichen Raum bewegen, egal wie wenig sexuell diese gemeint sind?
Im öffentlichen Raum, gerade in Großstädten, begegnen wir uns zwangsläufig, ob nun die Deutsche Bahn uns das Hering-in-der-Dose-Spiel aufzwingt, die Warteschlange in der Post uns vor eine gemeinsame Geduldsprobe stellt oder wir in Cafés fremden Tratsch überhören. Dieser Kontakt ist Teil unseres Zusammenlebens und kann Einblicke in andere Lebensrealitäten gewähren. Trotzdem haben alle das Recht, sich ungestört durch diesen öffentlichen Raum zu bewegen, solange sie dabei Rücksicht auf andere nehmen. Natürlich sind Kontaktaufnahmen erlaubt. Wenn ich meinen gelben Regenmantel trage, werde ich zum Beispiel häufig nach dem Weg gefragt, und freue mich, helfen zu können. „Entschuldigung, welche Ringbahn fährt zum Ostkreuz?“ ist jedoch eine öffentliche Interaktion. Die Teilnehmer*innen sind austauschbar und das Gespräch übertritt keine Grenze ins Private. „Gibts du mir deine Nummer, damit wir uns treffen können, um über Ringbahnen zu diskutieren?“ hingegen schon. Plötzlich geht es nicht mehr um den Weg oder ein Buch, sondern um uns als Personen und den Versuch, eine Beziehung zwischen uns aufzubauen. In manchen Situationen ist das angemessen: Wenn die andere Person Signale sendet, dass sie an mehr als einer kurzen, sachlichen Interaktion interessiert ist. Wenn sie Fragen stellt, statt sie nur kurz zu beantworten. Wenn es an einem Ort passiert, an dem Menschen andere kennenlernen wollen – wie in einer Bar – und nicht an einem, an dem sie sein müssen, um von A nach B zu kommen. Wenn man darüber nachdenkt, diese Frage zu stellen und die andere Person einem*r zuvorkommt (auch Best-Case-Scenario genannt). Aber im Zweifelsfall sollte die Interaktion eine öffentliche bleiben.
Solche Fragen müssen verantwortungsvoll formuliert werden.
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