2017, Kirchentag in Berlin. In der U-Bahn wird gesungen, aber nicht um Geld gebeten. Meine Handgelenksbeschwerden sind ganz neu; ich trage am rechten Handgelenk einen Bandage in klassischem Dunkelblau-grau. Das zieht die Aufmerksamkeit eines Kirchentaglers auf mich. Normalerweise werde ich in der U-Bahn ungern von Männern angesprochen, aber dieser ist maximal achtzehn und im Wörterbuch findet ihr unter „harmlos“ sein Foto.
„Was ist denn mit Ihrer Hand passiert?“ (Mit 25 gesiezt werden – ganz spezielles Gefühl …)
Ich zucke mit den Schultern. „Weiß keiner so richtig.“
„Darf ich für Ihre Gesundheit beten?“
„Und wenn ich nicht an Gott glaube?“
„Das funktioniert trotzdem. Er will ja, dass Sie an ihn glauben. Die Hand wird besser und dann können Sie glauben …“ Diese Besserung werde sofort eintreten.
Ich zuckte wieder mit den Schultern. Ich habe schon viel probiert, Beten kann nicht schaden.
Sein Gebet ist höflich und ehrfürchtig, auf mich zugeschnitten, kein Standard-Vater-Unser. Wäre ich eine Göttin, hätte ich ihn erhört. Mein Prediger steigt eine Station später aus, sodass er mich nicht mehr nach der Wirkung seiner Intervention fragen kann. Die schlagartige Besserung und meine Konversion bleiben aus.
Ein Jahr später sitzt im Zug nach ich-weiß-nicht-mehr-wohin eine alte Dame neben mir; sie ist auf Pilgerfahrt zur heiligen Maria.
„Ich habe fast den Zug verpasst, mein Taxi stand im Stau. Der Teufel ist daran schuld!“ Tage, an denen alles schiefgeht, seien ein Zeichen erhöhter Teufelsaktivität. Ihre Stimme klingt erklärend, ohne einen Hauch Fanatismus.
Ich nicke, muss fürs Staatsexamen lernen und habe keine Gehirnkapazität für theologische Diskussionen.
Sie schenkt mir ein Marienamulett, das ich zum Examen mitnehme. Es liegt heute noch in meinem Federmäppchen, wenn ich es nicht für andere Staatsexamina verleihe. Bisher haben alle bestanden – es funktioniert also nicht nicht. Meine Konversion bleibt trotzdem aus.
Für beide war ich das perfekte Gegenüber: Sie lasen mich korrekt als weiße deutsche Frau. Sie konnten annehmen, dass ich Wunderheilungsgleichnisse aus der Bibel kenne, dass „Maria“ mir ein Begriff ist.
In Deutschland ist solch selbstbewusste öffentliche Religionsausübung nur möglich, wenn es sich um das Christentum handelt. Deswegen können auch harmlose junge Männer oder semi-klapprige Omis das machen – die Frage, ob sie sich wehren könnten, wenn andere mit ihrer Religionsausübung nicht einverstanden sind, stellt sich nicht. Anders wäre es für eine Muslima mit Kopftuch oder eine nicht-weiße Personen jeglicher Religion – ihr Gebet für Wildfremde würde möglicherweise nicht so glimpflich enden. Am 23. Januar 2022 schoss ein Mann in Halle auf Menschen vor einer Moschee. Immer wieder wird von antisemitischen Angriffen auf Menschen, die sichtbare Davidsterne tragen, berichtet. Dabei sind Symboletragen und vor Gotteshäusern stehen im Gegensatz zum Gebet für Nicht-Gläubige oder Amulette-Verteilen private Handlungen. Ist Christlich sein ein Privileg, das es erlaubt, öffentlich Religion auszuüben und Fremde darin einzubeziehen?
Bis zum zweiten Entwurf dieses Texts habe ich diese Frage bejaht. Doch dann sah ich eine Insta-Story
der Autorin und Journalistin Marija Latković über den Unterschied zwischen Privilegien und Menschenrechten:„Ein Privileg ist ein Sonderrecht,“ weshalb wir Grund- und Menschenrechte nicht als solche bezeichnen sollten. Denn damit implizierten wir, dass es sich um etwas Besonderes handele, das nicht alle haben könnten. „Deshalb sollten wir aufhören, alles „Privileg“ zu nennen und Gerechtigkeitsfragen auf der Ebene von Privilegien zu verhandeln.“ Konstruktiver als der Diskurs über Privilegien sei die Umverteilung von Macht und Machtmitteln, denn das sei das eigentliche Problem und dies zu verändern müsse das Ziel sein.
Ob christlicher Glaube ein Privileg ist, ist also die falsche Frage. Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht, festgehalten in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dieses Menschenrecht ist in Deutschland zurzeit nur garantiert, wenn es sich um das Christentum handelt.
Zumindest, wenn wir „die Freiheit, die eigene Religion […] allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen“ so interpretieren, dass Gläubige sich mit der Ausübung ihrer Religion nicht in Gefahr begeben. Denn natürlich sind Gottesdienste und Kulthandlungen nicht-christlicher Religionen erlaubt. Trotzdem wird dieses Menschenrecht durch die berechtigte Angst vor Anschlägen und Diskriminierung eingeschränkt. Wir dürfen also nicht sagen „Ich bin so privilegiert, weil ich ohne Angst Marienamulette verschenken kann!“ Wir müssen dafür kämpfen, dass andere sich in ihrer Religionsausübung genauso sicher fühlen.Diesen Unterschied zwischen Privilegien und Menschenrechten müssen wir bedenken, wenn wir unsere Privilegien checken: Ist es wirklich ein Privileg, dass ich so viel verdiene, dass ich keine Geldsorgen habe? Oder ist es ein von Artikel 23.3
abgedecktes Menschenrecht, das allen zusteht? Ist es ein Privileg, dass ich mir um die Finanzierung meiner Gesundheitsversorgung keine Gedanken machen muss? Oder fällt das unter das in Artikel 3 beschriebene Recht auf Leben – weil ich nicht sterben müsste, weil ich mir keine Chemotherapie oder Insulin leisten kann?Wenn es sich nicht um Privilegien, sondern um Menschenrechte handelt, ist die Konsequenz dieser Überlegungen eine andere. Dann können wir uns nicht fürs Privilegien checken auf die Schulter klopfen – mit der Feststellung des Menschenrechts beginnt die Arbeit erst: Wir müssen Macht so umverteilen, dass alle ihre Menschenrechte ausleben können.
Ähnliches gilt für Dinge, die nicht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufgelistet sind, aber Menschenrechte sein sollten, wie ein Studium ohne Gebühren und Kredite. Dann ist es unsere Aufgabe, dafür zu kämpfen, dass sie in diese Erklärung aufgenommen und weltweit durchgesetzt werden. Denn dieses Dokument haben Menschen geschrieben; somit ist es veränderbar. Genau wie die Machtverhältnisse.
vom 17.01.2022. Folgt ihr bei Insta (ihre Storys sind die besten!) und abonniert unbedingt ihren Newsletter, Gemište Gefühle!
Ein weiteres Beispiel dafür liefert die Coronakrise, als Lockdownmaßnahmen erst sehr spät für Gottesdienste galten – die aerosol-bindende Wirkung des Vater Unsers ist schließlich allgemein bekannt.
“Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und der eigenen Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.”