Am Dienstagabend habe ich ein bisschen Halskratzen bekommen – vielleicht. Mit diesem potentiellen Corona-Symptom kamen viele Fragen: Bilde ich mir das nur ein? Wäre mir das ohne coronabedingt erhöhte Aufmerksamkeit überhaupt aufgefallen? Werden das noch richtige Halsschmerzen? Soll ich morgen zu Hause bleiben? Aber damit wäre es ja nicht getan, einen negativen Abstrich bräuchte ich trotzdem, damit mein Leben weitergehen kann. Oder? Ist das Krankenhaus, in dem ich arbeite, der Ort, wo ich den schnellsten Abstrich ohne Kontakt mit Infizierten bekomme? Warum arbeite ich ausgerechnet auf einer Palliativstation, wo nur Risikopatient*innen liegen? Andererseits, gibt es überhaupt Stationen, auf die das nicht zutrifft? Macht im Krankenhaus-Liegen nicht automatisch zu einer Risikopatient*in?
Am Mittwochmorgen ist das Halskratzen weder weg, noch schlimmer und möglicherweise weiterhin eingebildet. Also fahre ich zur Arbeit, um mir die Entscheidung abnehmen zu lassen. Die Stationärztin sagt „Abstrich und dann nach Hause.“ Die Rettungsstelle sagt, dass mein Oberarzt das erst mit dem Rettungsstellen-Oberarzt besprechen müsse – ob ich den Test wirklich brauche, denn das Ding kostet 160€. Die Oberärzte einigen sich auf einen Abstrich.
Vor der Rettungsstelle steht ein Telefon, mit dem Corona-Verdachtsfälle sich anmelden müssen. Ich fühle mich stigmatisiert, als ich danach greife, und hoffe, dass keine infektiösen Viren auf seiner Plastikoberfläche wohnen. „Bitte warten, ich komme gleich.“ Ich stehe zehn Minuten neben dem mit rot-weißen Baustellenband markiertem Corona-Telefon-Tisch. Zum Glück ist wenig los. Ich erinnere mich selbst daran, dass ich hier bin, weil ich das Richtige tun will.
Zehn Minuten sind trotzdem verdammt lang. Zeit für viele Gedanken, z.B. warum ich mich so stigmatisiert fühle, ich weiß doch selbst nicht, woher ich das haben soll, hatte keinerlei Kontakt, zumindest keinen mir bekannten, aber sollte der Test positiv ausfallen, muss ich ja Kontakt gehabt haben. In der Ringbahn, im Bus in den fünf Minuten, wo ich die Maske zum Frühstücken runterschiebe? Im Krankenhaus, wo Masken eher optional sind, weil die Lage sich ja einigermaßen beruhigt hat? Mein Geburtstag, an dem ich ausnahmsweise fünf Freund*innen umarmt habe, ist nicht lange genug her, um mich infiziert zu haben, aber sollte der Test positiv sein, könnten diese Umarmungen für die anderen ein Problem werden, denn ich könnte schon infektiös gewesen sein.
Aber das klärt nicht, warum es mir so peinlich ist, möglicherweise Corona zu haben. Schließlich bin ich damit nicht allein, das ist doch das verdammte Wesen einer Epidemie! Natürlich habe ich mich so gut wie möglich geschützt, aber ich arbeite nun einmal in einem Krankenhaus, zu dem ich eine Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren muss. Manchmal haben wir trotz Hygiene Pech, und genug Gelegenheiten geben diese Umstände dem Pech in jedem Fall. Vor Corona waren Halsschmerzen mir doch auch nicht peinlich, sondern ein Teil des Lebens, wenn auch kein sehr schöner.
Eine Krankenpflegerin in voller Schutzmontur begrüßt mich mit „Warum kommst du denn mit Halsschmerzen zur Arbeit?“ Ich stammle etwas von „eher Kratzen, ohne Corona wäre es mir wahrscheinlich nicht mal aufgefallen.“ Das Würgen und die Tränen beim tiefen Abstrich erscheinen mir wie angemessene Buße.
Mit diesen körperlichen Reaktionen lande ich am Schwellenort zwischen Abstrich und Ergebnis. Jetzt muss ich „nur“ noch warten. Zunächst ist dieser Ort eine Bank vor der Rettungsstelle. Ich warte auf den Arzt, rechne fest mit einer langen Wartezeit als Strafe. Doch es sind nur zehn Minuten; der Arzt entschuldigt sich fast dafür, dass er noch ein paar Infos für seinen Schein braucht.
Dann wird dieser Ort zur Bank im Bushaltestellenhäuschen, wo der erste Bus mir vor der Nase wegfährt und der zweite nicht anhält, weil ich in Instagram versunken war und nicht aufgestanden bin. Irgendwann schaffe ich es in einen Bus, setze mich direkt hinter die Glasscheibe, um der Maske noch mehr Schutz für meine Mitreisenden hinzuzufügen. Eine halbe Stunde später verwandelt der Schwellenort sich in einen Sitz in der Ringbahn, und jetzt ist es mein grauer Ohrensessel.
Warum ich über Sitzgelegenheiten schwadroniere ist mir selbst nicht ganz klar, schließlich ist dieser Ort ein mentaler, kein physischer. Ein Ort voller Fragen: Mit wem hatte ich in den letzten Tagen Kontakt? Zählt die Heileurhythmie-Fortbildung gestern als Risikokontakt für die anderen? Wem habe ich gestern alles Blut abgenommen? Wie viel Abstand hatte ich beim Aufnahmegespräch zur Patientin? Warum habe ich mir die App nicht runtergeladen, was ist das denn für ein bescheuertes Argument, dass die so viel Strom zieht? (Diese Frage wird vom frommen Schwur begleitet, die App runterzuladen, wenn der Test negativ ist.)
Fast hoffe ich auf ein positives Ergebnis, einfach um beim nächsten Halskratzen nicht wieder dieses Spiel spielen zu müssen. Um es hinter mir zu haben. Andererseits bedeutet das natürlich, dass ich möglicherweise andere angesteckt habe, und das wäre – nicht nur bezogen auf meinen Arbeitsort – eine Katastrophe.
Ich mache weiterhin den Denkfehler, Quarantäne als eine Art Urlaub zu sehen: Ich würde so viel lesen, so viel schreiben, euch endlich mal wirklich fast jeden Sonntag (oder sogar jeden Sonntag!) eine Kolumne schicken, so viel an meiner Doktorarbeit sitzen… Dass ich in Quarantäne möglicherweise ziemlich unangenehm krank werde und nicht lesen, geschweige denn schreiben könnte, ignoriere ich in diesem Tagtraum. Genau wie die Decke, die mir sicher auf den Kopf fallen würde, wenn ich zwei Wochen nicht raus könnte und dabei nicht oder kaum krank wäre.
Ich weiß nicht, wie lange ich an diesem Schwellenort sein werde, ob mein Handy heute Nachmittag klingeln und mich erlösen wird, oder ob auch mein Bett Teil der Schwelle wird und ich erst morgen erfahre, wie die nächsten zwei Wochen aussehen werden.
Gleichzeitig besteht immer noch die Möglichkeit, dass aus Halskratzen tatsächliche Halsschmerzen werden und weitere Symptome hinzukommen, ganz gleich welcher viralen Genese. Wobei ich daran interessanterweise kaum denke, meine Gedanken kreisen nur um den Test. Aber ich werde vorsichtshalber noch einmal meine Temperatur messen, jetzt interessiert es mich doch. Allerdings muss ich noch ein paar Minuten warten, mein letzter Schluck kaltes Wasser ist nicht lange genug her, um ein Thermometer unter meine Zunge zu legen und dem Ergebnis zu vertrauen. Morgens war meine Temperatur 36,32°C, sehr typisch für mich.
Der Schwellenort ist ein Ort der Maske, jetzt trage ich sie, sobald ich mein Zimmer verlasse, selbst wenn ich aufs Klo gehe. In der Küche bereite ich mit Maske mein Essen zu, zum Verzehr verschwinde ich wieder in meinem Zimmer. Auch meine Mitbewohnerinnen tragen Maske und wissen schon, wo sie hinziehen, falls der Test positiv sein sollte. Mein Freund darf heute Abend auch nur kommen, wenn bis dahin ein negatives Ergebnis vorliegt.
Übrigens: Sollte euch dieser Text lang vorkommen, liegt das daran, dass am Schwellenort die Zeit langsamer vergeht, sodass die Finger deutlich mehr Wörter tippen können als sonst.
Meine Körpertemperatur, sublingual gemessen am 8.7.2020 um 13:05 Uhr beträgt 36,55 °C. Vielleicht sollte ich das Bett jetzt schon zum Schwellenort machen, ein Mittagsschlaf erscheint mir eine angemessene Reaktion auf dieses Dasein.
Im Grunde ist der Schwellenort eine Quarantäne auf Probe. Heute tue ich so als hätte ich Corona – ich gehe nicht einkaufen, ich trage zu Hause eine Maske, ich sitze allein auf meinem blauen Fusselteppich und teste mein neues Halma-Spiel, in dem ich sowohl die gelben als auch die grünen Figuren „bin.“ Allerdings gebe ich nach einer Runde auf, mehr als eine Farbe sein macht keinen Spaß, und irgendwie möchte ich die Einsamkeit der Quarantäne nicht so offensichtlich machen wie allein ein Spiel für bis zu sechs Leute zu spielen. Und Grün hat auch noch gewonnen, obwohl ich mir mit Gelb viel mehr Mühe gegeben habe!
Auch ohne offizielle Quarantäne bin ich einsam, viel einsamer als an einem normalen Nachmittag in meinem Lesesessel, sodass durch diesen Vorgeschmack hinreichend klar ist, dass die Quarantäne keine Vorteile hat. Je sicherer ich mir diesbezüglich werde, desto sicherer werde ich auch, dass der Test positiv sein wird.
Doch abends ist mein Bett gar nicht mehr so sehr Schwellenort. Ich habe keinen Anruf bekommen, also gehe ich davon aus, dass der Test negativ ist. Aber vielleicht haben sie mich auch vergessen? Ich werde trotzdem auf der Schwelle schlafen; morgen werde ich auf Station anrufen und es sicher erfahren.
Ich habe erwogen, diesen Text mit einem Cliffhanger bezüglich des Testergebnisses zu beenden. Aber das hätte nur Sinn gemacht, wenn der Test positiv gewesen wäre und ich nächste Woche eine Kolumne darüber hätte schreiben können, wie es denn so ist dieses Corona-Virus zu haben. Doch wie ihr an den Konjunktiven merkt, war der Test – *Trommelwirbel* – negativ. Beim Aufstehen war mein Bett kein Schwellenort mehr, denn ich habe noch im Liegen angerufen. Ich darf wieder ohne Maske aufs Klo und in die Küche, darf zur Arbeit, muss meine Verabredungen am Wochenende nicht absagen.
Unter der Dusche hatte ich einen peppigeren Schlusssatz im Kopf, aber anscheinend habe ich den mit dem Shampoo aus meinem Kopf gespült. Das war jedenfalls mein Bericht von der Corona-Schwelle und ich bin ziemlich froh, nicht in Quarantäne zu müssen. Auch wenn das möglicherweise bedeutet, dass ich noch öfter an diesem Schwellenort zu Gast sein werde.
PS: Das Halskratzen verschwand am Donnerstag im Laufe des Tages vollständig.
PPS: Die Corona-Warn-App habe ich jetzt auch brav runtergeladen. Sie zieht übrigens weniger Strom als erwartet.
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