Bei der Visite in der Kinderklinik haben wir letzte Woche eine Mutter dafür bestraft, dass sie um 8.30 noch nicht angezogen war. Wir wollten bei ihrem Kind mit der Visite beginnen, aber da sie noch in Pullover und Unterhose durchs Zimmer lief, kündigte der Assistenzarzt an, „später“ wiederzukommen. Auf dem Flur drehte die Oberärztin sich zu mir um: „Also was wir hier erleben, das glaubt dir einfach keiner.“ Stimmt prinzipiell zwar, aber in diesem Fall fand ich es gar nicht so absurd, erst das Kind und dann sich selbst anzuziehen oder nach einer Nacht mit krankem Kind ein bisschen länger zu brauchen.
„Später“ war dann nicht wie vermutet zehn Minuten später, oder nach der Visite der anderen Zimmer, sondern erst gegen 14.30 Uhr, nach mehrmaligem Nachfragen der Familie. Der Assistenzarzt hatte das bewusst als „Die bestrafen wir jetzt erst mal“ und „Wie kann man um halb neun noch halb nackt rumlaufen?“ formuliert.
Das Anforderungs-Kontroll-Modell des Soziologen Robert Karasek beschreibt wie die beruflichen Anforderungen an uns und wie viel Kontrolle oder Autonomie wir im Job haben unsere Zufriedenheit beeinflussen. Vereinfacht gesagt sind wir zufriedener, je mehr wir kontrollieren können. In diesem Modell ist Akkordarbeit am Fließband also „schlechter“ als der Job einer Lehrerin, die den Inhalt ihres Unterrichts relativ selbstbestimmt planen kann. Auch die Anforderungen müssen für maximale Zufriedenheit die goldene Mitte treffen, wir dürfen uns weder über- noch unterfordert fühlen. Folglich ist eine der schlimmsten Kombinationen Überforderung plus wenig Kontrolle. Häufig ist aber genau das die Situation einer Stationsärzt*in: Alle wollen ständig etwas von dir, einerseits sollst du Dinge entscheiden, andererseits mit deiner Oberärzt*in Rücksprache halten. Du hast kaum Zeit, mehr als zwei Minuten über Therapieoptionen nachzudenken, geschweige denn über komplexe Patient*innen zu recherchieren, oder auch nur mal in Ruhe ihre Krankengeschichte nachzuvollziehen. Jeder Pups muss dokumentiert werden, damit die Chefärzt*in am Mittwoch in der Visite nicht sagt „Und wenn die uns verklagen, haben wir ein Problem!“ Viele Assistenzärzt*innen verbringen mehr Zeit auf der Arbeit als gesund sein kann, und sollen dabei auch noch andere gesund machen. Sie sind der Bürokratie, dem Gesundheitssystem, der Chefärzt*in ausgeliefert – obwohl sie in diesem System zu den Mächtigeren gehören, fühlen sie sich nicht mächtig. Der gescheiterte Versuch, damit umzugehen, führt zu Tritten nach unten, was häufig Patient*innen trifft.
Dazu kommt die Annahme, dass wir Patient*innen durch solche Moves erziehen könnten. Am folgenden Morgen war die Mutter zwar schon um 7.30 angezogen, aber das wäre sie auch gewesen, wenn wir am Ende der Visite zu ihr gegangen wären, statt sie noch zwei Stunden länger warten zu lassen. Nach dem Reinplatzen ins Zimmer sind keine weiteren erzieherischen Maßnahmen mehr nötig. Denn dass wir jetzt alle wissen, was für Unterhosen sie trägt, ist doch schon Bestrafung genug. Ich glaube nicht, dass sie dachte „Ok, alles klar, danke für den Hinweis, im Krankenhaus spätestens um 8.30 gestriegelt und gespornt sein!“ sondern eher „Was für ein bescheuerter Arzt.“
Natürlich rutschen diese Gründe alle in Richtung Ausrede ab. Fakt ist, dass so etwas nicht passieren darf, auch nicht an einem Montagmorgen.
Wenn Patient*innen ins Krankenhaus kommen, werden ihnen die Abläufe nicht erklärt, es gibt keinen Plan, wann die Visite in welchem Zimmer stattfindet. Wir fangen mal bei Zimmer 1 an, mal bei Zimmer 16, dann kommen Entlassungen oder dringende Ultraschalluntersuchungen dazwischen, sodass nicht einmal wir vorhersagen können, wann wir in welchem Zimmer voll bekleidete Patient*innen erwarten. Doch stört uns das nicht, wir warten schließlich nicht auf die Visite, wir sind die Visite. Krankenhaus-Alltag ist für uns so normal, dass wir vergessen, dass unsere Patient*innen nicht ihr halbes Leben dort verbringen, dass das für sie gerade nicht Alltag, sondern eine neue, sehr belastende Situation ist, über die sie keinerlei Kontrolle haben. Die Frage, wer hier erzogen werden muss, drängt sich auf.
An vielen medizinischen Fakultäten sind Kommunikationskurse mittlerweile Pflicht – die Erziehungsversuche laufen also. Aber wahrscheinlich werde selbst ich, die diese Kurse genossen hat und nun diesen Text schreibt, mit dem Berufseinstieg – wenn ich auf einmal die Station schmeißen muss, statt nur ein bisschen dabei zu helfen – an diesem Ideal scheitern. Empathie nicht immer so möglich wie im Bilderbuch: Wir können nicht jedes Mal mitweinen und Hände halten, aber der Minimalstandard sollte sein, nicht absichtlich gemein zu sein. Denn das ist unprofessionell und unmenschlich.
Wenn wir so nach unten treten, zeigen wir, dass wir mit diesen Machtassymmetrien einverstanden sind, sie für gerechtfertigt halten und bereit sind sie auszunutzen, um unsere schlechte Laune aufzubessern (Spoiler: hat nicht funktioniert).
Denn dieser Vorfall ist ein Symptom eines größeren Problems. Das war falsches Verhalten, aber eben in einem System, dass uns genau in diese Richtung drängt. Wir haben zu wenig Zeit für unsere Patient*innen, selbst wenn alles reibungslos verläuft. Viele Ärzt*innen sehen Empathie und längere Gespräche unter diesem alltäglichen Druck als Bonus oder gar Zeitverschwendung. Wenn ausgerechnet die Patient*innen dadurch, dass auch sie Menschen sind, Reibung verursachen, werden wir sauer auf sie, statt gemeinsam das System zu verurteilen. Dieses Problem lösen nicht gut gemeinte Lehrpläne, sondern nur ein Systemwandel. Schon ein verbesserter Personalschlüssel für ärztliches und pflegerisches Personal könnte unser Gesundheitssystem revolutionieren und selbst diesen Assistenzarzt in einen netten Kerl verwandeln.