Auch in Zeiten der Pandemie werden kurze Hosen an Frauenkörpern von Piffen, Kommentaren und Röntgenblicken begleitet (Wobei ich mich da immer frage, was an meinen Beckenknochen bitteschön so interessant sein soll?). Insgesamt passiert mir Catcalling relativ selten – oft genug, um Schilderungen täglicher Belästigungen glauben zu können, selten genug um weiterhin schockiert zu sein. Mit „selten“ meine ich unter einmal pro Monat, vielleicht sogar unter alle zwei Monate. Den inneren Catcaller konnte das Patriarchat mir trotzdem einpflanzen – deswegen frage ich mich schließlich, warum das so selten passiert. Und meine erste Antwort ist natürlich: Hm, vielleicht bist du einfach nicht schön genug – das Patriarchat macht Luftsprünge.
Oder wird in Berlin einfach seltener gecatcallt als in den USA, dem Kontext aus dem die drastischsten Schilderungen in meiner Bubble kommen? Dort gibt es eher eine Kultur des fremde Leute auf der Straße Ansprechens, sodass damit auch die Wahrscheinlichkeit für ungewollte „Komplimente“ steigen könnte.
Aber vielen anderen Frauen* in Berlin passiert es deutlich häufiger als mir. Ist es Haltung, Selbstbewusstsein? Verbreite ich einen Vibe, dass ich mich von so einem Scheiß nicht einschüchtern lasse, weswegen es gar nicht erst versucht wird? Das Kochrezept für diese Vibes würde ich euch liebend gern weitergeben, doch wie ihr an diesem Text merkt, lasse ich mich von diesem Scheiß natürlich einschüchtern.
Ist es die Kleidung? Sind meine Röcke zu lang, meine Ausschnitte nicht tief genug? Wenn es passiert, stelle ich jedenfalls oft einen Zusammenhang zu meiner Kleidung fest – in Winterjacke oder Schlabberpullis kommt mir das einfach nie unter. Besonders toll war dagegen der Sommer, in dem die erste kurze Hose mit gleich mehreren Catcalls begrüßt wurde.
Meine kurzen Haare könnten auch etwas dazu beitragen, allerdings habe ich keinen großen Unterschied im Vergleich zu langen Haaren bemerkt. Und so eine Frisur könnte ebenso zu aggressiveren Sprüchen führen, die definitiv nicht als Kompliment gemeint sind.
Das heißt natürlich nicht, dass Frauen sich aufgrund ihrer Kleidung, Frisur, etc. mitverantwortlich machen oder gar schuld daran sind – die komplette Verantwortung liegt immer bei denjenigen, die einer anderen Person hinterherpfeifen oder diversen Mist rufen. Ich meine, was denken diese Leute sich? Dass ich mich bedanke? Zu ihnen ins Auto steige, weil ihr Spruch mich so beeindruckt hat?
Oder – möglicherweise die einfachste Erklärung – bemerke ich die Blicke und Kommentare gar nicht? Gehe ich vollkommen naiv durch die Straßen? Oder ist es einfach reiner Zufall, dass es so selten passiert? Der sich mit dem Schreiben dieser Kolumne in sein Gegenteil verkehren wird?
Doch wie absurd ist allein die Frage, warum mir das „so selten“ passiert? Jedes Mal ist ein verdammtes Mal zu viel! Sollte das nicht das Thema dieser Kolumne sein – nicht die Gründe für diese Seltenheit, sondern die Bedeutung dieser Frage? Denn sie zeigt, das Catcalling funktioniert: Unerwünschte Anmachen im öffentlichen Raum sind so normal, dass selbst ihre Abwesenheit mich verunsichert. Die Straße gehört eben nicht mir, und offensichtlich sind nicht einmal regelmäßige Hinweise diesbezüglich nötig.
Das beginnt schon bei der Sprache: Ich habe versucht, einen deutschen Begriff für Catcalling zu finden und bin gescheitet. Die meisten Online-Wörterbücher schlagen „auspfeifen“, „Pfeifkonzert“ oder „Buhrufe“ vor. Allein Dict.cc klassifiziert den letzten von sechs Einträgen als „sexual harassment“, also sexuelle Belästigung. Pons dagegen, ganz im Dienste des Patriarchats, setzt in Klammern hinter „to make a catcall at somebody“ das Wort flirt. Ja, ich habe auch fast meinen Sonntagskaffee auf den Bildschirm gespuckt. Ein Flirt ist einvernehmlich, sobald eine Person nicht (mehr) will, rutscht die Interaktion in die Kategorie sexuelle Belästigung.
Catcalling hingegen ist von vornherein in dieser Kategorie und hat mit Flirten nichts zu tun: Es ist Machtausübung im öffentlichen Raum, eine Erinnerung daran, dass die Straße ihr Space ist und nicht unserer, dass wir nur zu Besuch sind und wie höfliche Gäste zu lächeln und gut auszusehen haben.
Wie sollen wir uns dagegen wehren, wenn wir nicht einmal die Worte haben, um das Problem zu benennen? Ich kann nicht einmal sagen, wie meine Freundinnen und ich das Phänomen nennen, wenn wir auf Deutsch darüber sprechen. Anmachen? Hinterherpfeifen? Sexuelle Belästigung? Catcalling? Ich wusste schon vor diesem Text, was ich damit meine, aber bin mir immer noch nicht sicher, ob ihr das Wort genauso versteht wie ich. Wir sprechen kaum darüber, und nach meiner Reise durch die Wörterbücher halte ich das nicht mehr für einen Zufall.
In ihrem Essay Men Explain Things to Me stellt Rebecca Solnit fest, dass Männer, die ihr Dinge erklären, die sie selbst besser weiß – zum Beispiel ihre eigenen Bücher – Teil eines Kontinuums männlicher Aggressivität sind. (Dieses Phänomen nennen wir seitdem übrigens Mansplaning.) Dieses Kontinuum beginnt beim Frauen* nicht sprechen lassen, ihnen nicht zuzuhören, ihnen nicht zu glauben, und endet bei körperlicher Gewalt gegen uns, bis hin zum Feminizid. Catcalling ist Teil dieses Kontinuums – schlimmer als Mansplaining, weniger schlimm als körperliche Gewalt. Wobei es in der Summe, die manche von uns erleben müssen, durchaus psychische Gewalt darstellt. Beides, Mansplaining und Catcalling, erinnern uns immer wieder daran, dass wir uns in einer Männerwelt bewegen. Das Konzept des Kontinuums ist so wichtig, weil es zeigt, dass wir uns eben nicht unnötig über unschuldige Komplimente aufregen. Solnit hat es artikuliert, aber gespürt haben wir es alle schon mit dem ersten Pfiff, der unsere Schritte im öffentlichen Raum ungebeten begleitete.
Wie oft sind meine Freundinnen und ich schon zum Schluss gekommen, dass Männern hinterher pfeifen nichts bringen würde? Jeden. Verdammten. Sommer. Es würde ihnen nicht zeigen, wie es sich anfühlt – wahrscheinlich würden sie es tatsächlich als Kompliment verbuchen und noch selbstbewusster die Straße runterswaggern. Denn sie müssen sich eben nicht fragen, was wir wohl machen, wenn sie falsch reagieren. Ob sie schneller rennen können als wir, ob sie stark genug sind, sich gegen uns zu wehren. Ob sie noch eine Runde um den Block gehen sollten, damit wir nicht sehen, in welches Haus sie gehen, oder ob gerade diese Runde sich als fataler Fehler erweisen wird. Weil unsere Pfiffe diesen gewaltvollen Beigeschmack in einer patriarchalischen Gesellschaft nicht haben können, sind sie impotent, reine Verschwendung unserer Atemluft und definitiv keine angemessene Rache gegen Catcalls.
Ich würde diesen Text so gern mit einer in inspirierende Worte verpackten Lösung abschließen. Catcallern „Fick dich!“ hinterherzurufen fühlt sich sicher grandios an, aber das habe ich mich noch nie getraut, und so eine Provokation könnte die Frage, wer schneller rennen kann, noch akuter machen. Ich persönlich kann leider nicht besonders schnell rennen.
Catcalls ignorieren – mein aktuelles Procedere – fühlt sich eher wie Ertragen an als wie Widerstand. Auch diesen Text zu schreiben, der wahrscheinlich an keinen einzigen Catcaller geht, scheint mir nur semi-konstruktiv. Aber loswerden musste ich ihn trotzdem – vielen Dank fürs Lesen.
Dieser Newsletter würde es als großes Kompliment auffassen, wenn ihr ihn an eure Freund*innen weiterleitet.