An einem Donnerstag im Juli habe ich zum ersten Mal bei einem Toten Blutdruck gemessen. Also, da hatten wir ihn noch nicht für tot erklärt. Plötzlich tat ich in einer Notfallsituation mehr als zuschauen und im Weg stehen. Auch wenn ich Blutdruck messen schon vor dem ersten Semester gelernt hatte, fühlte ich mich absurd ärztlich, so ärztlich wie noch nie.
Dieser Patient wäre am Nachmittag zuvor fast gestorben; er hatte sich bereits von seiner Familie verabschiedet. In den drei Wochen, die ich ihn kannte, hatte er von einem ohnehin nicht besonders hohen Niveau immer weiter abgebaut; seinen letzten Lebensmonat verbrachte er im Krankenhaus. Es war eine Frage des Wie schnell, nicht des Ob. Ein Blutdruck war um 10:10 Uhr jedenfalls nicht mehr messbar, die Sauerstoffsättigung auch nicht.
Natürlich hatte ich schon öfter mit Toten zu tun. In Anatomiekursen. In Rechtsmedizinkursen. In diversen Praktika wurde ich morgens mit der Nachricht begrüßt, dass Patient*in X oder Y in der Nacht verstorben sei. Zwei Tage zuvor brannten auf der Palliativstation zwei Kerzen, zum Zeichen, dass hinter diesen Türen ein Leichnam aufgebahrt war. (Glücklicherweise, denn für den einen Verstorbenen hatte die Ärztin am Vortag noch eine Blutentnahme angeordnet, und dann müsste ich euch jetzt erzählen, dass ich mit Nadeln auf einen Toten losgegangen sei und mich gewundert hätte, dass kein Blut kam…)
Trotzdem stand ich an diesem Tag zum ersten Mal beim Sterben neben dem Bett. In dem Moment, in dem die Halsschlagader vor wenigen Augenblicken noch pulsiert hat und jetzt still ist. In dem Moment, in dem die Ärztin ihr Stethoskop zusammenrollt, mit dem Kopf schüttelt und auf die Uhr schaut. In dem Moment, in dem wir uns 10:14 Uhr für den Totenschein merken müssen. Wenig später tauchte auch vor diesem Zimmer eine Kerze auf.
War es gut, dass wir bei ihm waren? Aber zählt Blutdruck und Sauerstoffsättigung messen als bei jemandem sein? Konnte er uns hören? Wäre er lieber allein gestorben? Hatte er Schmerzen? War sein Tod besser als erhofft? Schlechter? Genauso? Sind das vollkommen irrelevante Fragen?
Wir sprachen kurz darüber, aber unser Leben musste weitergehen, wir mussten Visite machen. Was sich ziemlich absurd angefühlte, aber eine weniger absurde Alternative fällt mir nicht ein. Das Leben ging nun einmal weiter, wir waren nun einmal auf der Arbeit und hatten noch sieben lebendige Patient*innen.
An einem Donnerstag im Juli habe ich zum ersten Mal eine Leichenschau an einer echten Leiche gemacht. (In einer Prüfung habe ich schon einmal den Erstickungstod einer lebensgroßen Puppe festgestellt.) Der Leichnam roch nach Rosenöl und hatte eine gelbe Gerbera in den Händen. Die Totenstarre hatte am Kopf bereits eingesetzt, die Arme und Beine waren noch weich. Die Hände und Füße waren schon kalt, der Bauch noch warm. Ich suchte zwischen den Zehen nach Einstichstellen, leuchtete in jede Körperöffnung, fand auch am Rücken nichts Verdächtiges. Auf dem Totenschein kreuzte ich „natürlicher Tod“ an und ließ mir vom Oberarzt eine Todesursache diktieren. Dann musste ich alles noch einmal nachschreiben, weil ich nicht fest genug aufgedrückt hatte, um die Informationen auch in den letzten Durchschlag einzumeißeln. Zum Schluss setzte die Ärztin ihr Autogramm darunter.
Seitdem habe ich viel über dieses ärztliche Gefühl nachgedacht, mit relativ wenigen Ergebnissen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass dieses Gefühl sich ausgerechnet in so einer Situation einstellte. Aber vielleicht ist das kein Zufall, denn in dieser Situation bestand ärztliches Handeln ja gerade darin, nichts mehr zu tun. Es waren keine praktischen Fähigkeiten gefordert, die ich noch nicht habe; es wurde nicht intubiert, beatmet, Adrenalin gespritzt, defibrilliert, nach Ursachen für diesen Zustand gefahndet, etc. Kurz gesagt: Ich fühlte mich meinen wenigen Aufgaben gewachsen.
Aber vielleicht geht es gar nicht um die konkreten Aufgaben, sondern darum, dass ich zum ersten Mal aktiv einbezogen wurde? Es zum ersten Mal so aussah, als würde ich bei Grey’s Anatomy mitspielen, statt vor dem Bildschirm zu sitzen?
Bei der vierten Überarbeitung dieser Kolumne fällt mir endlich auf, dass ich kein schlechtes Gewissen über das Gefühl an sich habe, sondern über die Freude über das Gefühl – ausgerechnet in einer traurigen Situation. Aber was hat mein Gewissen damit zu tun? Ändert das irgendwas? In spätestens vier Monaten bin ich Ärztin, sollte ich mich nicht langsam mal so fühlen? Warum kann ich das Gefühl nicht als Geschenk akzeptieren, statt es zu Tode zu analysieren?
Ein paar Tage später habe ich mich ein zweites Mal sehr ärztlich gefühlt, und zwar in einem Gespräch mit Angehörigen über Patient*innenverfügungen, Vorsorgevollmächte und die Frage, ob Reanimation und Intensivstation noch gewünscht sind. Eigentlich wollte ich diese Anekdote damit einleiten, dass ich mit einer quietschlebendigen Person gesprochen hätte, und diese ärztliche Situation so ganz anders gewesen sei, schließlich ging es gar nicht um den Tod… Aber das stimmt natürlich nicht.
Warum fühle ich mich ärztlich, sobald der Tod im Raum steht? Weil ich auf der Palliativstation arbeite und der Tod deshalb meine Kolleg*in ist? Weil andere ärztliche Tätigkeiten wie Anamnese erheben, untersuchen, Blutabnehmen nicht mehr neu für mich sind und mein Gehirn sie deshalb nicht als „ärztlich“ einordnet? Weil Sterbebegleitung mir Angst macht, und ich nicht weiß, wie ich das als „echte“ Ärztin machen soll?
In der folgenden Woche ging das Sterben weiter. Am letzten Morgen vor meinem Urlaub begrüßten mich zwei Kerzen, dabei hatte ich nur mit einer gerechnet. Nach meiner Rückkehr aus der Mittagspause wurde die dritte aufgestellt. Ich fühlte mich ganz und gar nicht ärztlich. Diese Enttäuschung war eigentlich viel absurder als das ärztliche Gefühl: Die Lungen der Patientin funktionierten kaum noch und sie hatte uns am Vortag noch gesagt, dass sie genug vom Leben habe. Dabei atmete sie so schwer, dass der Tod nur eine Erlösung sein konnte.
Das Streben kommt im Medizinstudium zwar vor, aber wie ihr beim Lesen merkt, viel zu wenig. Selbstverständlich lernen wir Sterben nicht in einem Seminar, sondern vom Leben. Aber trotzdem frage ich mich, ob die Uni mich besser darauf hätte vorbereiten können oder sogar müssen. Ein Krankenpfleger wollte mich trösten und sagte, es sei „A job well done.“ Und er hatte natürlich recht. Irgendwann können (und sollen!) wir nicht mehr heilen, nur noch lindern. Den fließenden Übergang von einem zum anderen zu erkennen ist sicher eine der höheren ärztlichen und menschlichen Künste, der im Studium kaum thematisiert wird. Oder liegt es in der Natur der Sache, dass so etwas nicht thematisiert werden kann?
Das erinnert mich an einen Spruch, den ihr sicher kennt (ich habe gerade von Wikipedia gelernt, dass er eigentlich ein Gebet ist):
„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
(mein agnostisches Gehirn hatte den „Gott“-Teil nicht gespeichert – aber ob diese Gelassenheitsquelle nun göttlich ist oder nicht, ist mir eigentlich egal, solange ich lerne, was das Gebet verspricht.)
An einem Donnerstag im Juli habe ich jedenfalls zum ersten Mal einer Seele das Fenster geöffnet.
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Sofia B. wollte schon immer eine Kolumne haben und hat sich nach mehreren gescheiterten Blogs für dieses Medium entschieden. Kein Geld, kein Ruhm, aber dafür auch keine Redakteur*innen, die die antikapitalistischen Seitenhiebe rausstreichen oder thematisch zusammenhängende Newsletter bestehen könnten. Sie ist Möchtegern-Autorin und Fast-Ärztin in Berlin.
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