Wenn ihr auf meinem Handy die Fotos der letzten Wochen durchscrollt, sieht das eigentlich ganz fröhlich aus: Wir haben auf unserem Balkon und dem Mittelstreifen unserer Straße Blumen gesäht, mit Anatomiebüchern statt Hanteln unsere Arme trainiert, uns gegenseitig die Haare geschnitten… Darauf folgen Blumen und antikapitalistische Graffitis beim isolierten Spaziergang, Luftballons auf einer Nebenstraße, mein ästhetisch ungemachtes Bett inspiriert von Tracey Emin, die 37. Runde Kniffel in meiner WG.
Doch das sind maximal 20% der Wahrheit. Ich mache keine Fotos, wenn ich mich frage, wie lang das noch so weitergehen soll (lange, obviously…), auf die Seite mit den neuen Fallzahlen starre oder davon, wie ausgelaugt ich nach drei Stunden Telefonieren bin. Ich führe kein Tagebuch darüber, was mein Puls macht oder von den Stunden, von denen ich schon abends nicht mehr genau sagen kann, wie ich sie verbracht habe. Oder wenn ich an meinen präpandemischen Texte verzweifle: Werden die jemals wieder relevant sein? (Hallo, Sinnkrise. Das ging flott…). Werde ich euch je die Kolumne über Hochzeiten oder die über Mom Jeans schicken? Ich meine, who cares? Deswegen ist euer Postfach mehr Sonntage als geplant leer geblieben.
Auch diesen Text schreibe ich seit drei Wochen erfolglos um, damit er zur jeweils aktuellen Lage passt, und bin trotzdem nie zufrieden mit dem Ergebnis. Ich weiß nicht, ob die Argumente wirklich zueinander passen, ob die Ideen neu genug sind, und überhaupt – was sind Wörter nochmal genau? Die einzige Lösung ist, die Kolumne heute trotzdem abzuschicken, denn wer weiß, wie viel davon ich nächste Woche wieder löschen müsste.
Und was ist mit meinem Roman über eine Erasmusstudentin, die sich eine neue Identität zulegt – ist der nicht auf Ewigkeit in die Schublade verbannt? Genau wie der über eine Familie, die nur durch den Suizidversuch des Vaters wieder miteinander spricht und dann ein Familiengeheimnis nach dem anderen aufdeckt? Wer wird sowas nach Corona noch lesen wollen?
Die Pandemie hat uns das Fundament entzogen. Wir können nichts mehr planen – für mich persönlich war das ein wichtiges Hobby – und uns auf wenig verlassen, außer dass alles anders werden wird. Weil wir nicht mehr sicher stehen, bringen uns selbst Kleinigkeiten aus der Balance: Ein Beziehungsproblemchen verdirbt ein ganzes Wochenende, statt in einem konstruktiven Gespräch zu münden, ausverkaufte Erdnussbutter stellt uns vor unlösbare Probleme, ein Vorstellungsgespräch für einen suboptimalen Job stürzt uns in eine Sinnkrise. So verursachen vier Stunden im OP stehen plötzlich zwei Tage Müdigkeit statt zwei Stunden, und eine Stunde an der Doktorarbeit sitzen wird zur Held*innentat. Die Pandemie saugt auch Energie, wenn wir nicht aktiv an Viren, Mundschütze oder Beatmungsgeräte denken.
Gleichzeitig gewöhne ich mich absurderweise an diese Zustände. Oder vielleicht ist „Gewöhnung“ der falsche Begriff – aber ich checke die Fallzahlen seltener, ohne mich aktiv davon abhalten zu müssen. Das Meditieren vor dem Einschlafen fällt mir zwar noch schwer, aber es sind eher Alltags- als Coronagedanken, die sich zwischen meine Atemzüge drängen. Auch die zum Lesen nötige Ruhe ist zurückgekehrt, ohne dass ich etwas dafür getan hätte.
Mein Körper scheint nicht denselben Adrenalinspiegel halten zu können wie noch vor vier Wochen, obwohl die Situation sich subjektiv kaum verändert hat und wir immer noch auf den Sturm warten. Wer weiß schon, ob die Lockerungen der Auflagen mehr Freiheit oder mehr Fälle bringen?
Wie sollen wir durch dieses Spannungsfeld zwischen Gewöhnung und Stress navigieren? Wohin sollen wir unsere Adrenalinreste stecken, wenn die Sonne unbeirrt scheint und die Kirschbäume trotzig blühen? (Noch ein Grund, die Kolumne abzuschicken bevor der Frühling endet!)
Bei Instagram sieht die Welt dagegen eher so aus wie auf meinem Handy: Es wirkt, als kämen alle mit der Isolation gut zurecht: Sie machen Liegestütz-Challenges, zoomen mit Freund*innen, kochen Drei-Gänge-Menüs… Aber es kann ja gar nicht sein, dass alle anderen die Pandemie so viel besser wegstecken als ich.
Dabei geht es mir ja noch vergleichsweise gut und es wird jede Woche besser, siehe Gewöhnung: Ich gehe weiterhin zur Arbeit, verbringe also weniger Zeit in sozialer Isolation als viele andere – Blutabnehmen im Home Office wäre auch schmerzhaft für meine Mitbewohnerinnen. Außerdem muss ich mir keine Sorgen um meinen Job machen – die Praktikumsdauer ist festgelegt, unbezahlt ist es sowieso, und eine Stelle als Ärztin werde ich nächstes Jahr wohl finden.
Doch Corona-Oppression-Olympics (ein Wettbewerb, wer es denn nun am schlechtesten hat) bringen uns nicht weiter. Ob es schlimmer ist, dass ich mein Auslandspraktikum abbrechen musste, oder dass du in Kurzarbeit bist, ist irrelevant. Beides ist auf sehr unterschiedliche Weise sehr scheiße. Stattdessen müssen wir jetzt zusammenhalten. Ich habe in den letzten Wochen öfter gelesen, dass wir „Physical Distancing“ statt „Social Distancing“ sagen sollten, und das stimmt. Wir brauchen sozialen Zusammenhalt jetzt mehr denn je – nur eben auf eine Distanz von mindestens 1,5 Metern. Aber dieser Abstand muss rein körperlich bleiben, sonst haben wir in und nach dieser Krise keine Chance. Diese Zeit ist schwierig für uns alle, egal ob wir uns Sorgen um uns selbst, unsere Freund*innen, unsere Eltern oder solidarisch um uns unbekannte Mitglieder der Risikogruppe machen. Deswegen müssen wir uns gegenseitig unterstützen, zumindest im Rahmen unserer aktuellen Kapazitäten. Das kann sehr unterschiedlich aussehen: Fragen wie es einander geht und dabei Raum und Support für negatives geben, draußen bewusst und offensichtlich Abstand halten, Mundschutz tragen, den Buch-/Blumen-/Sonstwas-Laden um die Ecke finanziell unterstützen, füreinander einkaufen, etc.
Zusammenhalten kann auch Ehrlichkeit darüber bedeuten, wie schwierig soziale Isolation ist. Dass unser Leben nicht nur Insta-Blümchen und Kerzenschein ist, sondern sich hinter den Kulissen persönliche Probleme auf unangenehme Weise mit Corona-Problemen mischen und potenzieren. Jetzt ist es wichtiger denn je, unsere Social Media Feeds und Gespräche der erlebten Realität anzupassen, damit wir nicht noch depressiver werden, weil wir fälschlicherweise glauben, dass unsere Freund*innen uns gar nicht vermissen. Wenn wir Schwäche zeigen, fühlen sich auch die anderen, deren Fassade kurz vor der Implosion ist, weniger allein. Dann können wir gemeinsam wachsen.
Und wir müssen uns unbedingt merken, wie diese Isolation sich anfühlt, denn für viele von uns ist das zwar ein Ausnahmesituation, aber für andere ist es Alltag. Und auf die müssen wir zugehen, sobald wir wieder dürfen.
Wenn ihr diesen Text an 2 Freund*innen weiterleitet, wird sie so viral wie SARS-CoV-2. Außerdem ist sie garantiert weniger gefährlich. :)