Seit etwa fünf Jahren habe ich Schmerzen an der rechten Achillessehne, seit vier Jahren an beiden Handgelenken. Keiner weiß, was diese Beschwerden genau sind. „Vielleicht geht das nie wieder weg,“ sagte die Rheumatologin. „Da kann ich Ihnen auch nichts mehr anbieten,“ einer der Orthopäden. „Ihre Nervenleitgeschwindigkeit ist normal, das passt nicht zu Ihren Beschwerden,“ der Neurologe. Natürlich haben sie in ihren Computern trotzdem eine „Diagnose“ codiert, denn sonst könnten sie nichts abrechnen. Aber „Achillodynie“ bedeutet „Schmerzen in der Achillessehne“ – das ist eine Beschreibung, keine eigenständige Erkrankung. Auch der „Verdacht auf Karpaltunnelsyndrom“ konnte nicht bestätigt werden und ist somit keine „richtige“ Diagnose.
Es hat mich lange belastet, keine Schublade zu haben, in die ich meine Achillessehne und meine Handgelenke packen konnte. Denn dort liegt natürlich auch die Hoffnung auf eine Therapie, durch die ich die Schublade bald nicht mehr brauche. Keine Diagnose zu haben war besonders schlimm, als die Beschwerden neu waren: Als ich noch keine Strategien für den Alltag mit ihnen hatte. Als ich diese Einschränkungen noch nicht in meine Identität eingebaut hatte. Als ich noch beweisen musste, dass sie da waren, obwohl ich doch komplett gesund aussah.
Diagnosen sind Konstrukte – Krankheiten kommen nicht wie Tier- oder Pflanzenarten in der Natur vor und warten darauf, von mutigen Forscher*innen entdeckt zu werden. Nein, irgendwelchen Ärzt*innen ist aufgefallen, dass bestimmte Symptome oft zusammen auftreten und sich möglicherweise einer Ursache zuordnen lassen, weswegen sie sie unter Namen wie „Diabetes“, „Morbus Basedow“ oder „Schizophrenie“ zusammengefasst haben. Diagnosen sind somit eher Entscheidungen als naturgegebene Einheiten. Also sind sie veränderbar – und werden auch regelmäßig verändert.
Trotz ihrer Fehler sind Diagnosen wichtig, denn ein Name für ein Phänomen ermöglicht das Gespräch darüber. Eine Diagnose kann unglaublich entlasten, selbst wenn sie die Nachricht über eine schwere Erkrankung mit sich bringt: Wenigstens gibt es endlich eine Erklärung für das Ganze. Außerdem legitimieren Diagnosen Beschwerden. Sie sind ein gutes Argument gegen „Stell dich nicht so an!“; sie beweisen, dass die Krankheit „echt“ ist und geben Betroffenen Anspruch auf Hilfe.
Je besser meine Beschwerden werden, desto weniger wichtig ist ihr Name. Das sind halt meine Einschränkungen, dieses Ding da. Egal, Hauptsache ich kann wieder Spazieren gehen und diesen Text tippen. Weil sie meinen Alltag weniger prägen, muss ich seltener über meine Einschränkungen sprechen. Auch dadurch fällt ihre Namenlosigkeit weniger auf. Außerdem spreche ich nur noch in privaten Alltagsräumen über meine Beschwerden; ich habe zuletzt im März 2019 eine Ärzt*in diesbezüglich konsultiert. Für die seltenen Erwähnungen reicht deshalb „mein Fuß“, es wissen doch längst alle, was gemeint ist (noch ein Faktor, der die Diagnoselosigkeit weniger störend macht). Diese mangelnde Präzision habt ihr vielleicht beim Lesen bemerkt: Eingangs täuschte die Scheinpräzision von „Achillodynie“ und „Verdacht auf Karpaltunnelsydnrom“ darüber hinweg, doch wenn ich nicht die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten zitiere, spreche ich von „Beschwerden“ oder „Einschränkungen.“ Nicht einmal an „Erkrankung“ traue ich mich heran, weil es durch die Diagnoselosigkeit eben keine definierte Erkrankung gibt, die ich für mich beanspruchen könnte. (Ihr merkt, dass dieser Text nicht auf das Happy End einer Diagnosestellung zusteuert, sondern eher beschreibt, warum ich mich mit ihrem Fehlen abgefunden habe.)
Auf dieser Reise durchs Gesundheitssystem habe ich viel gelernt: Dass aus Verlegenheit ein MRT gemacht wird, das wird schon zeigen, was da los ist – wundert ihr euch noch, warum in diesem System so viel Geld fließt? (Spoiler: Das MRT hat nichts erklärt.) Dass bei Fachärzt*innen mit großen Budgets diese Verlegenheit wenigstens zu Ergotherapie führt (die auch ohne Diagnose hilft, wenn die Übungen täglich gemacht werden). Dass manche Ärzt*innen mir Dinge erzählen, von denen ich in der Uni gelernt habe, dass sie Quatsch sind – obwohl sie wussten, was ich studierte. Dass die 75€ für das Ding nicht von der Krankenkasse übernommen werden, ist sicher Zufall… Dass Ärzt*innen für Physikalische und Rehabilitative Medizin die sanfteren, besseren Orthopäd*innen sind.
Die wichtigste Lektion war jedoch in Empathie. Wenn es in der Uni um seltene, „komische“ Krankheiten geht, fällt oft in einem Nebensatz „Bis zur Diagnosestellung kann es Jahre dauern.“ Studis und Lehrende nehmen das als Fun Fact hin, ohne darüber nachzudenken, was diese Jahre für die Betroffenen bedeuten. Dass ohne Diagnose nur Symptome behandelt werden können. Das ist per se natürlich nichts schlechtes und kann wichtige Erleichterung bringen. Doch ohne Diagnose, ohne Kenntnis der Ursachen, kann keine nachhaltige Therapie erfolgen. Die Behandlung wirkt nur so lang wie die Schmerztablette, nach vier Stunden ist wieder alles auf Anfang. Wir dachten nie darüber nach, dass unerklärliche Schmerzen und andere Symptome dazu führen könnten, dass zunächst andere und dann die Betroffenen selbst an ihren geistigen Fähigkeiten zweifeln. Stattdessen wurden wir mit diagnostischen Möglichkeiten bombardiert (Kapillarmikroskopie! Antikörperbestimmung! Hautbiopsie!); der Fokus lag auf der intellektuellen Spielerei der Stellung einer seltenen Diagnose. Das Ergebnis dieser didaktischen Strategie sind Rheumatolog*innen, die einer 26-jährigen (bei der sie keine Diagnose stellen konnten) sagen, dass es vielleicht nie wieder gut wird.
Seitdem diese Frau studiert hat, wurden Kurse eingeführt, in denen wir Empathie lernen sollen. Leider funktionieren diese Kurse nicht. Das soll nicht heißen, dass sie nichts bringen oder gar die Zeitverschwendung sind, für die manche Studierende sie halten. Doch ich, die überdurchschnittliches Interesse an diesen Kursen hatte und verglichen mit meinen Kommiliton*innen zumindest nicht unterdurchschnittlich empathisch bin, habe diese Lektion erst gelernt, als ich ohne Diagnose durch Berlin tingeln musste. Natürlich wäre es unethisch (und möglicherweise unmöglich), alle Medizinstudierenden krank zu machen und mit mysteriösen Symptomen auf eine Praxisodyssee zu schicken. Trotzdem sind eigene Krankheitserfahrungen (oder die naher Angehöriger) die beste Empathie-Schule. Ein realistischerer Vorschlag wäre, die Trennung zwischen Empathie-Kursen und „richtigen“ Medizin-Kursen aufzuhaben. Wenn wir bei jedem Krankheitsbild nicht nur Diagnostik und Therapie etc. lernten, sondern „Was bedeutet das für die Betroffenen?“ zu einer genauso zentralen Frage würde, wären wir (und unsere Dozierenden, von denen viele ärztlich tätig sind) zumindest ein bisschen empathischer.
Mein Punkt ist nicht, dass allen Patient*innen eine Diagnose „zusteht.“ Leider ist das nicht möglich. Diagnosen sind nicht perfekt und es wird immer wieder Patient*innen geben, deren Beschwerden sich diesen Konstrukten entziehen, für die es also „wirklich“ (noch) keine passende Diagnose gibt. Medizin ist keine exakte Wissenschaft, auch wenn sie diese Illusion gern nährt. Doch sobald Ärzt*innen feststellten, dass in ihrem Repertoire keine passende Diagnose für mich war, verloren sie das Interesse an mir. Das bestmögliche Outcome war die Überweisung an eine weitere Fachrichtung, wo ich den Tanz von vorne aufführen durfte. Das führt mich zur These, dass Patient*innen besser behandelt werden, wenn es eine passende diagnostische Schublade für sie gibt. „Behandelt“ bezieht sich hier sowohl auf das medizinische, als auch auf das interpersonelle. Meine Forderung ist nicht „Diagnosen für alle!“, sondern auch ohne Diagnosen gute Medizin zu machen. Hierfür ist Empathie ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste, Puzzleteil. Begegnet meine Ärzt*in mir empathisch und mit echter Besorgnis um mein Wohlbefinden, fühle ich mich gesehen und gut behandelt, egal ob sie eine Diagnose stellt oder nicht. Natürlich ist das harte emotionale Arbeit, denn mit diesem Anspruch können wir uns nicht mehr hinter unserer medizinischen Autorität verstecken, sondern müssen einander als Menschen begegnen. Das wird nicht immer möglich sein, was mich zu meiner Standard-Litanei von zu wenig Zeit im Gesundheitssystem führt. Denn ja, Ärzt*innen müssen empathischer sein. Aber viele von ihnen haben diesen Beruf ergriffen, gerade weil sie das sind – möglicherweise gehört auch meine Rheumatologin dazu. Doch empathisch veranlagte Menschen reichen nicht, wir müssen gleichzeitig Bedingungen schaffen, unter denen sie diese Empathie ausleben können. Natürlich ist „Ich kann nichts für Sie tun, viel Glück bei der nächsten Kolleg*in!“ einfacher und schneller als ein Gespräch über das Leben ohne Diagnose und die nächsten Schritte trotz fehlender Schublade. Lest diesen Text also bitte nicht als Anklage gegen einzelne Ärzt*innen, sondern gegen ein System, das dieses Verhalten fördert und belohnt. Die Lösung für strukturelle Probleme bei Einzelpersonen zu suchen hat schließlich noch nie funktioniert. Vielmehr müssen wir uns zusammenschließen und neue, bessere Strukturen fordern.
Das war mein sonntäglicher Aufruf zu mehr Aktivismus und Solidarität – bis zum nächsten Mal.
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