Geschichten sind politisch, egal ob sie zwischen Buchdeckeln stecken, gestreamt werden oder als Musik aus unseren Kopfhörern rieseln. Sie stellen die Welt dar: Wie sie ist, wie sie sein könnte oder wie sie im Kontext einer Biographie wahrgenommen wird. Dabei treffen Erzählende unzählige Entscheidungen: Haben Frauen* Namen, sind sie dreidimensionale Charaktere? Sind alle Personen weiße Kartoffeln? Gibt es LGBTQIA+ Charaktere? Sind alle ziemlich reich und leiden nicht unter dem Kapitalismus? Ist dieser Reichtum durch „harte Arbeit“ „verdient“? Wird Rassismus als strukturelles Problem dargestellt oder vereinzelten AfD-Wähler*innen in die Schuhe geschoben? Ist Klimawandel eine reale Bedrohung? Wer spricht wie viel? Wer wird aktiv genannt, wer ist bloß „mitgemeint?“ Geht es bei queeren Menschen nur ums Coming Out (das ist, als ginge es bei Heteros nur um das erste Mal)? Wollen Frauen nur Ehe und Kinder oder wird Kinderfreiheit als echte Möglichkeit dargestellt? Welche Fragen werden nach einer Vergewaltigung gestellt? Ist Abtreibung eine Option und wenn ja, ist ihr Resultat etwas anderes als Trauma? Wird Gewalt verherrlicht?
Diese Liste ist natürlich unvollständig, doch die Antworten auf diese Fragen geben einem Roman oder einer Serie eine politische Richtung – ganz gleich, ob die Erzählenden sich darüber bewusst sind. Geschichten sind politisch, selbst wenn es um die Raupe Nimmersatt geht – wieso ist die eigentlich nimmersatt? Könnte das etwas mit dem Kapitalismus zu tun haben?
Deshalb tragen wir Verantwortung, wenn wir Geschichten erzählen. Sind wir uns dieser Verantwortung nicht bewusst, reproduzieren wir die Welt mit all ihren Fehlern und Ungerechtigkeiten, erzählen also immer wieder die gleiche alte Geschichte. In jeder Geschichte entsteht eine neue Welt, selbst wenn sie heute spielt, selbst wenn wir „nur“ unseren Tag als Geschichte aufschreiben oder filmen. Denn wir wählen eine Perspektive, wir entscheiden, was zur Geschichte gehört und was nicht. Wenn wir schon eine Welt erschaffen – warum dann die Fehler der „echten“ wiederholen?
Wenn wir uns dieser Verantwortung stellen, verändern sich unsere Geschichten. Seit ich darüber nachdenke, hinterfrage ich meine Vorurteile (einige dieser Dinge füge ich bei der Überarbeitung ein, weil mir erst dann auffällt, dass der Chef schon wieder männlich ist, ups). Dabei helfen mir die Fragen, mit denen ich diesen Text eingeleitet habe. So wurden viele meiner Figuren weiblich, gerade die mit Macht und Autorität: Oberärztinnen, Chefinnen, Ingenieurinnen. Im Gegensatz dazu treten Männer erstaunlich oft als Krankenpfleger auf, erledigen ihren Anteil der Sorgearbeit ganz selbstverständlich und können Gefühle äußern. Es ist ganz normal, wenn Menschen nicht heterosexuell sind, das wird hingenommen wie ein grüner Pulli an einem Donnerstag und kein großes Bohei gemacht. Rassismus wird kritisiert; es wird nicht behauptet, das sei alles nicht so schlimm, die Betroffenen seien einfach empfindlich, vielleicht mit dem falschen Fuß aufgestanden oder so. Trotzdem schreibe ich keine Propaganda-Geschichten darüber, warum Feminismus, Antirassismus, Antikapitalismus etc. wichtig sind. Ich schreibe Geschichten, in denen Teile der Welt, für die wir uns einsetzen, schon Realität sind. Geschichten, die zeigen, dass eine andere Welt möglich ist.
Seit ich darauf achte, freue ich mich, wenn auch andere Autor*innen dieser Verantwortung gerecht werden. Delphine de Vigan schreibt zum Beispiel in ihrem phänomenalen Roman Nach einer wahren Geschichte:
„Ein Blick, der bei jeder Frau, der ich begegne, das sucht, was an ihr am schönsten, am dunkelsten und am leuchtendsten ist. Dennoch hat sich mein sexuelles Begehren, jedenfalls bislang, nur in Bezug auf Männer bemerkbar gemacht.“ (S. 65, Hervorhebung meine)
Ganz selbstverständlich fällt in einem Nebensatz, dass eine bislang heterosexuelle Frau nicht nur Männer attraktiv findet, dass Heterosexualität mit der Einschränkung bislang versehen werden muss.
Oder Emily Ruskovich in ihrem ebenfalls phänomenalen Roman Idaho:
„For ten years, they’d tried to conceive.“ (S. 114, Hervorhebung meine)
Plural. Das winzige Wörtchen fällt kaum auf, aber es erinnert aufmerksame Leser*innen daran, dass zum schwanger werden, egal ob es zehn Jahre oder zehn Minuten dauert, zwei gehören.
Natalie Zina Walschots Roman Hench (dt. Scherg*in) spielt in einer Welt voller Superheld*innen und Bösewichte. Die Protagonistin Anna arbeitet in einer Zeitarbeitsfirma, über die Bösewichte Mitarbeiter*innen anheuern können. Anna macht langweilige Datenanalysen, doch irgendwann merkt sie, dass Superheld*innen der Welt nicht so viel gutes bringen wie gedacht. Diese Welt ist deutlich queerer als die unsrige: Anna ist nicht heterosexuell, Bodyguards und Physik-Genies haben alle möglichen Geschlechter, Geschlechtsangleichungen werden genauso akzeptiert wie Adressänderungen – der neue Name, die neuen Pronomen werden verwendet, fertig.
All das sind Details, es geht in diesen Büchern nicht um Feminismus: De Vigans Protagonistin steuert nicht auf ein Coming Out zu. Die Moral von Idaho ist nicht, dass an der Empfängnis zwei Menschen beteiligt sind. In Hench geht es nicht um Queerness, sondern um Gut gegen Böse und die Frage, wer wirklich die Guten sind. Trotzdem zeigen diese Bücher eine Welt, in der Heterosexualität nicht automatisch ist, in der Väter die gleiche Verantwortung tragen wie Mütter. Durch diese Romane pulsiert eine feministische Grundspannung, vor deren Hintergrund ganz andere Geschichten spielen. Gleichzeitig zeigen sie, wie eine feministischere Welt aussehen könnte.
Im Gegensatz dazu verliere ich das Interesse an Autor*innen, die glauben, Geschichten könnten unpolitisch sein. Hunderte Charaktere auf tausend Seiten und komischerweise sind fast alle männlich? Nein danke, David Foster Wallace. Deine Geschichte spielt in einer Kolonialstadt, trotzdem sind alle weiß und Kolonialismus ist schon ok? Nie wieder, Albert Camus. Eine brilliante Frau opfert sich, um einen weniger kompetenten Mann zu retten, aber vorher wird sie noch ein bisschen gebodyshamed? Unnötig, Lev Grossman.
Wenn wir uns der politischen Verantwortung unserer Geschichten bewusst werden, eröffnen sich neue Möglichkeiten. Dieses Bewusstsein befreit uns von der falsch verstandenen Pflicht, die Welt so darzustellen, wie sie „ist“ – auch das ist schließlich eine Frage der Perspektive. Stattdessen können wir Filter über die Welt legen, die ihre Probleme wie Misogynie, Rassismus oder Kapitalismus offenbaren. Wir können Vorschläge für eine bessere Welt machen, zum Beispiel, indem wir zeigen, wie ein Leben ohne Geschlechterrollen und mit mehr als zwei Geschlechtern aussehen kann. Diese Verantwortung erlaubt uns, mit den Erwartungen unserer Leser*innen zu spielen, sie mit ihren Vorurteilen zu konfrontieren. Idealerweise führt das zu Reflexion: Wieso wundert es mich, dass es eine Chefin ist und kein Chef? Oh, ich habe nie darüber nachgedacht, dass Rassismuserfahrungen diesen Effekt auf die Betroffenen haben. Wieso habe ich hundert Seiten lang geglaubt, die Protagonist*in sei hetero?
Auch wenn wir keine eigenen Geschichten erzählen, gibt uns das Wissen um diese Verantwortung eine neue Linse zur Bewertung von Serien, Filmen, Hörbüchern, Liedern, usw. Wenn wir wissen, was wir suchen, können wir diese Art von Geschichten einfordern. Dann können wir artikulieren, warum bestimmte Klassiker nicht mehr zeitgemäß sind, egal wie hartnäckig sie im Kanon auftauchen. Warum sie damals schon von gestern waren, schließlich gab es immer weibliche und nicht-binäre Erzähler*innen. Schritt für Schritt können wir so einen neuen, besseren Kanon aufbauen, denn dazu gehören Erzählende und Zuhörende.
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Lektorat: Katharina Pusch