Anfang März 2020. „Corona“ ist zwar nicht mehr nur Bier, aber so schlimm wird es schon nicht werden. Ich bin gerade für ein viermonatiges Chirurgie-Praktikum (PJ) in die Niederlande gezogen. Bei meiner Abreise gibt es erst eine Handvoll Fälle in Berlin und damals dachte ich, dass das reichen würde, um das Praktikum nicht zu gefährden… Meine neue Wohnung ist toll (Südterrasse!), ich habe durch den Umzug die letzten Wochen des Berliner Winters übersprungen und mit meinem Niederländisch komme ich so gut durch, dass ich die Notlösung Englisch nie brauche. Im Supermarkt gibt es Schokostreusel fürs Brot, Schokomilch und sogar akzeptables Vollkornbrot. Ich laufe zehn Minuten zum Krankenhaus; dort sind alle nett. Die Teamarbeit ist verglichen mit Deutschland sagenhaft, es gibt nur Einzelzimmer und Studis müssen kein Blut abnehmen – dafür werden andere Leute bezahlt. Mit anderen Worten: Ich bin im Paradies.
Doch Corona macht auch vor dem Paradies nicht halt. Nach ein paar Tagen heißt es: Keine Studis mehr in den OP-Saal, wir müssen Mundschütze sparen. Am Ende der ersten Woche: Möglicherweise werden die Praktika ausgesetzt. Zitat des Koordinators: „Geht davon aus, dass der Stecker gezogen wird.“
So tigere ich durch die tolle Wohnung und warte auf Neuigkeiten. Ich zähle das Klopapier (neun Rollen sollten für eine Person sehr lange reichen), lege kleine Vorräte an, auch wenn die Regale im Supermarkt noch besser gefüllt sind als in Deutschland. Sicherheitshalber kaufe ich noch vier Bücher. Ich versuche zu lesen, aber irgendwie klopft mein Herz so laut. Es wird nur leiser, wenn ich telefoniere oder in Gesellschaft spazieren gehe.
Sonntagabend kommt dann die Nachricht: Studis im letzten Jahr dürfen vorerst weitermachen, alle anderen Praktika sind ausgesetzt. Also gehe ich Montag wieder ins Krankenhaus. Dort heißt es: „Hm, dürfen wir überhaupt zu viert Visite machen oder sind das zu viele Kontaktpersonen?“
Ich rufe vorsichtshalber im PJ-Büro meiner Heimatuniversität an. Dort heißt es „Noch gibt es Plätze in Berlin, aber nächste Woche kann ich nichts mehr garantieren. Bitte entscheiden Sie bis übermorgen, ob Sie zurückkommen wollen.“ Ich schlucke die Tränen herunter und lege auf. Die nebulöse Entscheidungswolke verdichtet sich zu einem tonnenschweren Stein und macht es sich auf meinen Schultern bequem.
Ich telefoniere mit der niederländischen Koordinatorin, die mir – natürlich – nicht versprechen kann, wie lange die Praktika noch weitergehen. In den anderen niederländischen Unikliniken seien schon alle Praktika ausgesetzt; an meiner Stelle würde sie zurück nach Berlin gehen.
Ohne diesen Praktikumsabschnitt würde sich mein Studienabschluss um ein halbes Jahr verzögern. Ich telefoniere mit meinem Partner, mit meinen Eltern. Politiker*innen sprechen von Grenzschließungen. Die Bilder aus Italien werden immer dramatischer. Die Unsicherheit nährt den Stein auf meiner Schulter wie ein schnellwachsendes Neugeborenes, nur dass der Stein noch lauter schreit.
Es ist immer noch Montag. Irgendwann beschließen wir, dass mein Vater am Donnerstag herfahren wird, Freitag fahren wir zusammen nach Berlin und mein niederländisches Abendteuer ist beendet.
Doch das Gerede von Grenzschließungen wird immer lauter. Papa setzt sich sofort ins Auto, in drei Stunden wird er da sein. Ich beginne einen Pack- und Putzmarathon. Telefoniere mit dem Hygiene-Institut, die Niederlande sind noch kein Risikogebiet, also kein Test, keine Quarantäne (die mir vom Praktikums-Urlaub abgezogen würde). Ich telefoniere mit meiner Zwischenmieterin, die außerhalb von Berlin Home Office macht, also kann ich mein Zimmer „zurückmieten.“ Am Dienstagmorgen fahren wir nach Berlin, ich diktiere Papa die Mail ans PJ-Büro und ein paar Stunden später die Mail an meinen neuen Praktikumsort. Am Mittwoch packe ich aus, organisiere Klinikwäsche, Namenschild und Schlüssel. Donnerstagmorgen um 7.00 Uhr stehe ich auf Station 19, bereit zum Blutabnehmen.
In diesem Praktikum lerne ich, warum ich es nicht in Deutschland – und vor allem nicht in diesem Krankenhaus – machen wollte und perfektioniere meine Blutentnahmeskills. Aber ich lerne auch, dass es trotzalledem die richtige Entscheidung war. Denn das was ich wollte – ein Praktikum unter Normalbedingungen in den Niederlanden – war im Corona-Jahr 2020 keine Option. Praktikum in Berlin war zwar ähnlich schlecht wie befürchtet, aber für 2020 trotzdem die beste Option: Hier konnte ich die Sprache, kannte mich im Gesundheitssystem aus, musste kein neues soziales Umfeld aufbauen und keine Fernbeziehung führen. All das hätte ich in den Niederlanden nicht gehabt, was normalerweise kein Problem gewesen wäre, aber pandemieweise eben doch.
Auch nach meiner Rückkehr habe ich noch lange über dieses Dilemma nachgedacht. Weil ich es unfair fand, dass diese Entscheidung mir „überlassen“ wurde, weil keine der übergeordneten Strukturen die Verantwortung dafür tragen konnte oder wollte. Hierfür gab es 2020 unzählige Beispiele: Hochzeiten, bei denen die Gäste entscheiden mussten, ob sie das Risiko eingehen wollen, anstatt dass Brautpaare die große Feier auf den ersten oder zweiten Hochzeitstag verschoben. Absurde Reisebestimmungen, die uns Wahlmöglichkeit vorgaukelten, weil die Verantwortlichen sich nicht trauten, Reisen explizit zu verbieten (das ist kein Plädoyer für autoritäre Herrschaft). Die Liste ist lang. Deswegen habe ich dieses Jahr im Kleinen versucht, diese Verantwortung zu tragen; habe zum Beispiel mein traditionelles Geburtstagspicknick ausfallen lassen, und wenn die Situation nächsten Sommer ähnlich ist, wird es auch keins geben, auch wenn das der große dreißigste Geburtstag ist.
Doch mein niederländisches Dilemma war gar keins. Laut Duden ist ein Dilemma eine „Situation, in der sich jemand befindet, besonders wenn [sie oder] er zwischen zwei in gleicher Weise schwierigen oder unangenehmen Dingen wählen soll oder muss.“ Die Optionen – Praktikum in Berlin oder Pandemie in einem fremden Land allein durchstehen und möglicherweise das Studium um sechs Monate verlängern – waren zwar beide scheiße, aber die erste Option ist trotzdem eindeutig die bessere. Die Herausforderung hier ist nicht das Dilemma, sondern dass die richtige Entscheidung sich scheiße anfühlt, obwohl es keine Zweifel an ihrer Richtigkeit gibt.
Diese Lektion werden wir brauchen, um den kommenden Corona-Winter zu überstehen. Die richtige Entscheidung kann nicht nur scheiße sein, sondern wird diesen Winter oft scheiße sein – möglicherweise die einzige Garantie dieses Jahres. Im Gegensatz zur falschen Entscheidung, wie etwa einer Geburtstagsparty trotz Corona: Es kann sein, dass diese Entscheidung sich als super herausstellt – Kuchen! Musik! Tanzen! Geschenke! Oder eben als katastrophal – Superspreader! Infektionsketten! Intensivstation! Beerdigung! Wir werden lernen müssen – oder noch besser darin werden müssen – die Entscheidung zu treffen, die auf jeden Fall scheiße ist. Vielleicht müssen wir auch nur eine einzige Entscheidung treffen: Die Realitäten der Pandemie zu akzeptieren. Wenn wir uns nicht mehr aussichtsloserweise dagegen wehren, sind die kleineren Entscheidungen nämlich oft klar: Das Familientreffen wird online stattfinden. Der Urlaub auf Balkonien. Das Praktikum in Berlin. Wir müssen aufhören, unsere Entscheidungen mit 2019 zu vergleichen. Denn natürlich sind sie nur verglichen mit prä-2020-Optionen scheiße. Mit diesem Fake-Vergleich hadern wir nur, was ein Ankommen in dieser nicht mehr ganz so neuen Pandemie-Welt verhindert. Stattdessen müssen wir die neue Entscheidungsumgebung zwischen Regen und Traufe als unsere vorübergehende Realität anerkennen. Denn sonst bleibt Zufriedenheit die nächsten Monate unmöglich, und dieses Jahr war auch so schon schwierig genug.
Impfstoffe können wir nicht herzaubern, aber wir können sehr wohl beeinflussen, wie wir unsere Entscheidungen rahmen. Dieser Rahmen muss aus dem Jahr 2020 kommen, denn 2019 ist ein alter Hut. Wir können darüber trauern, dass dieser Rahmen uns aufgezwungen wurde – vielleicht hilft das dabei, ihn zu akzeptieren. Aber ändern können wir den Rahmen vorerst eben nicht.
Das Weiterleiten dieses Newsletters an Freund*innen ist immer die richtige Entscheidung und nie scheiße!