Ich dachte, dass meine erste literarische Veröffentlichung mein Leben komplett verändern würde. Ja, diese Veröffentlichung – meine Kurzgeschichte Menschenfresser*innen – war mein größter Erfolg im vergangenen Jahr. Trotzdem ist alles wie vorher – der Durchbruch muss sich anders anfühlen, sonst hieße er Durchsickern oder Durchstase. Doch ich bin nicht enttäuscht, im Gegenteil: Ich bin mit meinem Schreiben ziemlich zufrieden – diese Kolumne wird immer klarer argumentiert, sprachlich ausgefeilter und erscheint seit 16 Monaten einigermaßen regelmäßig. Ich habe eine Schreibcommunity gefunden und bezeichne mich jetzt als „Autorin.“
Vor ein paar Jahren versuchte ich, in den Literaturbetrieb einzusteigen. Bei einer Autor*innen-Beratung wurde mir geraten, mir über Wettbewerbe einen Namen zu machen, statt „einfach so“ Manuskripte an Verlage zu schicken. Also schrieb zu Ausschreibungen passende Kurzgeschichten, bewarb mich bei Romanwerkstätten und las Literaturzeitschriften, obwohl ich die Texte oft nicht verstand. Ich dachte, ich müsste veröffentlichen und wenigstens ein bisschen bekannt werden, um als „echte“ Autorin zu gelten. Irgendwann merkte ich, dass ich vor lauter Wettbewerben kaum noch an meinem Roman arbeitete. Also ließ ich Literaturbetrieb Literaturbetrieb sein – was habe ich schon davon, wenn ich vor lauter Betrieb nicht mehr schreibe, was ich will?
Die Tatsache, dass ich nur Absagen bekam, erleichterte diese Entscheidung natürlich. Doch auch meine erste offizielle Veröffentlichung bringt mich nicht zurück in die Literaturbetriebs-Strategie. Ich schreibe jetzt um des Schreibens willen, nicht für Veröffentlichungen oder Berühmtheit. Für mich, nicht für die Bestsellerliste. Paradoxerweise schreibe ich seit dem viel mehr…
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Natürlich wäre ich eine bessere Autorin, wenn ich den ganzen Tag schreiben, umschreiben und überarbeiten würde. Doch könnte ich das? Ich habe noch nie den ganzen Tag geschrieben – an freien Tagen ist der Erholungsbedarf zu groß. Außerdem würde ein ganzer Tag am Schreibtisch mir nichts darüber sagen, ob ich das jeden Tag könnte. Dazu kommt, dass ich vom Schreiben nicht leben könnte – woher käme bis zum großen Durchbruch die Miete fürs Schreibzimmer? Ich müsste mir Lohnarbeit suchen, von der ich leben kann – was kann ich außer Medizin? So würde ich wieder nicht den ganzen Tag schreiben. Und ist auf den Durchbruch nicht ähnlich viel Verlass wie auf den Lottogewinn?
Aber dass ich mich im Neoliberalismus nicht traue, Vollzeit zu schreiben, ist nicht der einzige Grund für diese Entscheidung: Medizin und Wissenschaft würden mir fehlen. Genauso würde etwas fehlen, wenn ich mich mit Medizin begnügen würde – ich habe mich noch nie nur für eine Sache interessiert. Deswegen hat diese Kolumne kein festes Thema, deswegen benutze ich für meine Doktorarbeit sozialwissenschaftliche Methoden, deswegen werde ich Allgemeinärztin und nicht Kardiologin oder Leberchirurgin.
Natürlich möchte ich in einer Gesellschaft leben, in der diese Entscheidung nicht von der Vermarktbarkeit unserer Fähigkeiten und Lebensträume beeinflusst wird. In der Schreiben und Medizin ähnlich realistische Optionen sind, unabhängig von Elternhaus oder Markt. In der meine Berufswahl von meiner stabilitätsbedürftigen Persönlichkeitsstruktur unabhängig ist. Doch solange ich nicht in dieser Gesellschaft lebe, muss ich eine Variante finden, mit der ich glücklich bin.
Vielleicht wäre ich eine bessere Ärztin, wenn ich den ganzen Tag Patient*innen behandeln würde. Ich müsste die Leitlinienempfehlungen für Antibiotika-Kombinationen sicher seltener nachgucken und könnte mehr Abrechnungsziffern auswendig. Aber macht das eine gute Hausärzt*in aus? Ich möchte eine offene, empathische Ärztin sein. Eine Ärztin, deren Patient*innen nicht vom Sprechzimmer zum Klo rennen und weinen. Schreiben fördert meine Vorstellungskraft und Empathie und macht mich so zu einer besseren Ärztin.
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Wie messen wir den Wert eines Textes? Heutzutage können alle ein paar Zeilen in den Abyss des Internets zu werfen und hoffen, dass irgendwer sie fängt. Ist ein Text wertvoller, wenn er in einem etablierten Medium auftaucht? Wenn er Geld macht? Ist es wirklich ein Roman, wenn kein Verlag ihm sein Gütesiegel verliehen hat? Ist es überhaupt erlaubt, nur für sich selbst zu schreiben? Schließlich ist im Kapitalismus nur was Geld macht, etwas „richtiges“.
Ist diese Kolumne im Kern doch neoliberal? Weil ich immer mehr Abonnent*innen will, weil ich ja doch davon träume, dass sie mal so richtig viral geht? Oder erfüllt sie den altbekannten Wunsch, gesehen und gehört zu werden? Ist das Ziel, eine bessere Autorin zu werden neoliberale Selbstoptimierung oder menschliches Streben? Entziehe ich mich gerade durch diese DIY-Variante dem neoliberalen Spiel? Schließlich ist es aussichtslos, ohne Plattform eine „professionelle“ Kolumne zu bekommen. Aber ich verbringe meine Zeit mit Schreiben, nicht mit „Plattform“ oder „Reichweite“ aufbauen. (Keine Ahnung, wie das geht, ich habe 24 Twitter-Follower*innen.) Fast jeden Sonntag ermöglicht meine Unabhängigkeit von Veröffentlichungen und Bekanntheit erst. Durch euch bekomme ich eine Deadline und ein kleines Publikum – was (meistens…) zu mehr Texten führt, aber mir den Stress und die Shitstorms echter Bekanntheit erspart. Wenn ich so viel schreibe, dass ich nicht an meiner Identität als Autorin zweifle, kann mir egal sein, wie neoliberal diese Kolumne ist.
Natürlich habe ich Angst, dass Ärztin sein bedeutet, versehentlich das Schreiben aufzugeben, weil der bezahlte Job im Kapitalismus immer wichtiger sein wird. Ich hatte mal den Plan, 50% klinisch zu arbeiten und 50% zu schreiben. Er wurde zum Traum degradiert, weil ich so frühestens in zehn Jahren Fachärztin würde. Ich bin ungeduldig, weshalb ich Vollzeit klinisch arbeiten werde und weiterschreibe wie bisher: Jeden Morgen eine halbe Stunde, manchmal abends und am Wochenende ein paar Stunden mehr. Das ist nicht viel, doch es wird sich läppern. Hoffentlich.
Wie kann ich verhindern, dass die Welt sich zwischen mich und das Schreiben drängelt? Irgendetwas ist immer – Kinder krank, Kolleg*in muss vertreten, die Wohnung ist dreckig, der Kühlschrank leer, ihr kennt diese Lebenserhaltungslitanei. Wie kann ich Schreiben genauso respektieren wie Lohnarbeit? Wenn selbst ich das nicht tue, wie kann ich das von meinem Partner und meiner Familie erwarten? Ich werde davon abhängig sein, dass er mir den Rücken freihält, obwohl ich „eh“ zu Hause bin und schreibe. Müsste ich für den Durchbruch arbeiten, um so das Schreiben zu legitimieren? Sobald mein Name regelmäßig gedruckt wird, ist es ein Nebenjob oder gar ein Job. Doch hier beißt die Katze sich in den Schwanz: Wenn ich meine begrenzte Zeit für den Literaturbetrieb statt fürs Schreiben benutze, werde ich weniger schreiben. Der Durchbruch ist jedoch selbst mit Geschriebenem unwahrscheinlich genug…
Wofür brauche ich schon literarischen Erfolg? Wenn ich genug Geld zum Leben habe und jeden Tag schreibe, bin ich zufrieden. Die Bestsellerliste ist kein „echter“ Traum mehr, sondern wie fliegen lernen oder unsichtbar werden – eine Fantasie ohne Realitätspotential. Bin ich nicht ehrgeizig genug? Oder schreibe ich aus den „richtigen“ Gründen (um etwas potentiell Wertvolles zu produzieren, nicht für Ruhm und Ehre)? Inwiefern wird dieser Rückzug ins Private (kann ich von Rückzug sprechen, wenn die Bühne nicht einmal in Sichtweite war?) davon beeinflusst, dass ich eine Frau bin und der Literaturbetrieb weiterhin sehr männlich geprägt ist? Welches Gewicht hat das Privileg, dass Ärztin ein erfüllender, lukrativer Beruf ist – ich also nicht vor der Frage schreiben oder kellnern stehe?
Ich habe lange überlegt, ob ich eigentlich zwei Texte schreiben müsste: Einen zu meiner Berufswahl – Ärztin vs. Autorin – und einen zum Versuch, im Neoliberalismus anti-neoliberal zu schreiben. Doch natürlich ist Neoliberalismus das verbindende Element: Zur Entscheidung für Medizin gehört, weniger am „objektiven“ Schreiberfolg zu arbeiten. Doch dieses scheinbare Aufgeben ermöglicht die anti-neoliberale Schreibweise erst: Es geht nicht mehr um die Bestsellerliste, also kann ich Erfolg mit Spaß und Zufriedenheit gleichsetzen. Hier schließt sich der Kreis: Ärztin ist zwar der richtige Beruf für mich, doch in einem anderen Wirtschaftssystem wäre das vielleicht Autorin. Die neoliberale Berufswahl ermöglicht mir jetzt jedoch das anti-neoliberale Schreiben – nur für mich und meine illustren Abonnent*innen. Und dafür muss ich euch ein großes Danke aussprechen: THANK YOU.
Dieser Newsletter windet sich schreibend aus dem Neoliberalismus. Leitet ihn an eure widerständigen Freund*innen weiter.
Lektorat: Katharina Pusch