Haltet ihr Andere manchmal für wandelnde Klischees? Zu Hipster mit Macbook, Vintage-Seiden-Blouson und abhängig von der Tageszeit Slow Coffee oder Craft Beer? Zu Oma mit dem grauen Dutt, den klobigen Gesundheitsschuhen, dem selbstgebackenen Apfelkuchen und keiner verpassten Folge Der Bergdoktor? Zu FDP-Schnösel im Anzug trotz Homeoffice, händeschüttelnd mit Christian Lindner im Tinder-Profil und dem abendlichen Gebet „Der Markt wird es regeln“? Zu Autor*in mit zig Word-Dokumenten angefangener Romane, verpassten Deadlines, Kaffeeflecken auf dem müffelnden Pulli und zerrauften Haaren? *Kontrolliert Pulli*
Doch dann lernt ihr sie näher kennen und stellt fest, dass sie Britney Spears hört, mit ihrer Enkelin Bridgerton schaut, in ihrem Kiez Nachbarschaftshilfe leistet oder 95% ihrer Texte drei Tage vor der Deadline abgibt. Dass sie zusätzlich zum Klischee weitere Identitäten hat, wodurch die Klischee-Schablone nicht mehr passt. Es dämmert euch, dass euer Gegenüber euch wahrscheinlich auch in eine Schublade gesteckt hat. Obwohl ihr eure Kleidung nach Geschmack, Praktikabilität, Bequemlichkeit und Laune auswählt, was nichts mit Klischees oder Trends zu tun hat! Vor dem Spiegel wart ihr noch überzeugt, dass eure Kleidung euer wahres Ich repräsentiert…
Ich könnte jetzt dafür plädieren, diese Schubladen abzuschaffen. Das würde die Welt vorurteilsfreier und besser machen – wir sollten das natürlich versuchen. Aber ich glaube nicht, dass Klischees ganz verschwinden können. Sie helfen uns bei der Wahrnehmung, weil sie das Gesehene zusammenfassen. Doch Schubladen und Klischees an sich sind nicht das Problem. Viel wichtiger ist, was wir nach der Klischee-Diagnose tun: Uns desinteressiert wegdrehen, weil wir bestimmt keine Berührungspunkte miteinander haben? Oder offen bleiben, weil selbst der langweiligste Mensch der Welt mehr zu bieten hat als das erstbeste Klischee, das unserem trägen Gehirn einfällt?
„Langweilig“ ist eine Frage der Perspektive, keine Selbstbezeichnung. Deswegen sind wir so überrascht, wenn Klischees auf uns angewendet werden, schließlich kennen wir uns selbst zu gut, um so grob zu vereinfachen. Alle Anderen sind genauso vielschichtig; auch sie verkörpern diverse Klischees und deren Widersprüche. Je länger wir hinschauen, desto schlechter passen sie in Schubladen.
Die Erkenntnis „Je Klischee, desto schlechter kennen wir die Anderen“ ist eine Befreiung. Sie kann uns die Angst nehmen, für wandelnde Klischees gehalten zu werden. Wer nur meine Bücherstapel und meine Buchladen-Obsession sieht, verpasst 99,9% von mir. Das ist jedoch weder meine Schuld noch mein Problem: Ich „verursache“ Klischees nicht, sie entstehen zwischen Auge und Gehirn meines Gegenübers, wenn es nicht lang genug hinguckt. Deshalb sollten wir uns nicht fragen, ob wir Klischees sind – who cares! Nur diejenigen, die uns kaum kennen und das offensichtlich nicht ändern wollen! Vor lauter Lockdown haben wir solche Leute doch längst vergessen!
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Verurteilen wir andere als klischeehaft, weil wir sie um ihren Mut zum Klischee beneiden? Weil auch wir Klischees umarmen wollen, statt diesen aussichtslosen Kampf gegen sie fortzusetzen?
Was ist schon so toll an Einzigartigkeit? Wieso glauben wir, dass wir nur authentisch sein können, wenn wir anders sind als alle anderen? Dieser Einzigartigkeits-Wahn ist eine Verkaufsstrategie: Das nächste Paar Schuhe, die nächsten Ohrringe von Etsy, deren Werbung uns und tausend anderen bei Insta untergejubelt wurde, werden uns wirklich einzigartig machen. Und wir glauben es, schließlich präsentiert Insta uns keine Alternative: Die Posts schreien unsere „Einzigartigkeit“ heraus, obwohl sie alle gleich aussehen. Wir grenzen uns durch den Einzigartigkeitswahn voneinander ab und hoffen, dadurch Andere anzuziehen und von unseren positiven Qualitäten zu überzeugen. Wie absurd.
Aktuell ist Einzigartigkeit mir viel zu anstrengend; ich bin froh, wenn ich eine Schablone imitieren kann: Ich wiederhole meine Outfits mehrmals pro Woche, lese die gleichen Bücher wie alle anderen und schaue nur Serien aus den Netflix-Charts. Seit ich das akzeptiert habe, ist mein Leben viel entspannter, obwohl ich wie viele andere von euch auch ungeimpft die dritte Welle surfe. Doch solange wir uns mit unseren Klischees wohlfühlen und niemandem schaden, ist alles erlaubt. Will heißen: Ja zum Hipster-Klischee, Nein zum Serienmörder*innen-Klischee!
Wenn wir uns nicht mehr gegen Klischees wehren, können wir stattdessen Spaß haben. Wir können andere Menschen richtig kennenlernen und so den Klischees die Macht nehmen. Wir können sie verkörpern und so ein Signal an die anderen Hippies, Hipster und FDPler*innen senden: „Lasst mich mitspielen!“ Unsere Gemeinsamkeiten bringen uns weiter als das Streben nach Einzigartigkeit; durch sie entstehen unsere Beziehungen erst. Ohne den Umweg der unerreichbaren Einzigartigkeit können wir uns auf das Wesentliche konzentrieren und diese solidarischen, erfüllenden Beziehungen aufbauen. Denn durch diese Beziehungen werden wir, wer wir sind und vielleicht auch, wer wir sein wollen. Nicht durch die Wahl unserer Lieblingsmusik, unserer Kleidung oder unseres Stammcafés. Und nicht zuletzt können wir durch diese Beziehungen die Welt zu einer machen, in der gegenseitige Unterstützung das höchste Gut ist. In der das Hamsterrad der Einzigartigkeit endlich still steht und Klischees der Suche nach Gemeinsamkeiten dienen, nicht der Abgrenzung von allen anderen.
Schickt diesen Newsletter an eure Co-Klischees und zeigt ihnen so, wie wichtig diese Beziehung euch ist.