Hallo, das ist die obligatorische Ich-werde-30-Kolumne. Brüten Männer auch Kolumnen über die große 30 aus? Fragen sie sich, ob sie demnächst hässlicher werden statt schöner? Schlagen sie sich mit der biologischen Uhr herum? Sind sie zu „alt“ für Print-T-Shirts? (Kleiner Einblick in mein Wissen über Männer-Mode…) Denken sie über Anti-Falten-Cremes nach (wobei ich letztens in der Apotheke als zu jung für sowas eingestuft wurde)? Nur ein paar Gedanken…
Den Archiv-Entwurf mit dem Titel 28 und alt musste ich komplett umschmeißen, da sich seitdem vieles geändert hat. Einige Dinge, über die ich mich damals beschwerte, sind mittlerweile abgeschlossen, zum Beispiel mein Studium. Im Impfzentrum fühle ich mich sogar angesprochen, wenn eine „Frau Doktor“ gesucht wird (wir tragen keine Namensschilder und was sollen die armen Soldat*innen sonst sagen…). Mit anderen habe ich mich abgefunden, was genauso gut ist wie abschließen: Zum Beispiel, dass es mit dem literarischen Durchbruch in auffällig jungen Jahren nichts mehr wird. Diesem Abfinden hilft, dass literarisch überhaupt etwas passiert: Dieses Jahr werden zwei meiner Kurzgeschichten in Anthologien erscheinen und der Roman wächst. Das Jahresziel für diese Kolumnen habe ich allerdings auf zwei pro Monat herunterkorrigiert…
Ich fühle mich erwachsener ist mit 28 – das praktische Jahr und eine Pandemie können solche Effekte haben: Ich halte meinen Kühlschrank mit nur einem Einkauf pro Woche voll, stehe jeden Morgen zur gleichen Zeit auf und arbeite ellenlange To-Do-Listen ab, (meistens) ohne die Nerven zu verlieren. Außerdem kann ich meine Leistungen besser einschätzen: Mittlerweile passiert es ständig, dass Menschen, die jünger sind als ich, „meine“ Ziele erreichen. Doch wenn sie Bücher veröffentlichen, haben sie in der Regel nicht Medizin studiert. Wenn sie seit Jahren als Ärzt*innen arbeiten, haben sie eine weniger komplexe oder gar keine Doktorarbeit geschrieben, schreiben keinen Roman und keine Kolumnen.
Natürlich weiß ich, dass wir heutzutage mit 30 eher am Anfang unseres Lebens stehen. Andererseits sind wir definitiv nicht mehr 18, rein rechnerisch ist das zwölf Jahre her. Also bleibt nur die Schlussfolgerung, dass wir alt geworden sind. Das sage ich, obwohl ich um nichts in der Welt wieder 18 wäre – bisher ist das Leben mit jedem Jahr besser geworden, die eine oder andere Pandemie vielleicht ausgenommen.
Zur „Vorbereitung“ auf die 30 habe ich ein Buch1 übers Altern gelesen. Doch darin ging es natürlich nicht ums 30 werden: Als das Buch erschien, war die Autorin Lynne Segal 69 Jahre alt. Wahrscheinlich hätte sie mich ausgelacht, dass ich dieses Werk lese, um es auf mich zu beziehen und nicht aus anthropologischem Interesse.
Das Buch und die Zeit haben mir geholfen, einzusehen, dass ich A) noch nicht alt bin und B) auch älter werde, wenn ich damit hadere. Einige Wünsche aus meinem panischen Entwurf sind wahr geworden: Die ersten grauen Haare habe ich tatsächlich gelassen begrüßt; sie sorgen für hübsche Lichtreflexe. Und ich gebe ihre Existenz im Internet zu. Der Satz „Ich dachte ich würde gechillt altern“ ist noch nicht die ganze Wahrheit, aber ich arbeite dran. Ich freue mich schon darauf, nie wieder „So jung und schon Ärztin!?“ zu hören. Jetzt werde ich eben 30, irgendwas muss ich an meinem Geburtstag ja werden. Statt mir darüber den Kopf zu zerbrechen, habe ich eine Liste mit schönen pandemiegerechten Aktivitäten für diesen Tag gemacht. Wenn ihr mir gratulieren wollt: Am Dienstag ist es soweit.
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Lynne Segal: Out of Time – The Pleasures and Perils of Ageing