Ihr zündet eine Fichte-Bergamotte-Duftkerze an, kocht eine Kanne Guten-Abend-Tee, legt euer neustes Buch und die Kuscheldecke bereit… und schaut kurz aufs Handy. Zwei Stunden später ist der Tee kalt, euer Gehirn von den sozialen Medien durch die Mangel genommen und ihr müsst erst mal lüften, weil Fichte-Bergamotte doch eher Kopfschmerzen bereitet. Jetzt seid ihr so müde, dass euch die übermenschlichen Kräfte zum Aufschlagen des Buchs fehlen, und ihr vor dem Schlafengehen lieber eine Folge eurer aktuellen Serie schaut. Das Buch liegt morgen Abend schließlich auch noch da.
Wenn ihr diese Situation gern seltener erleben würdet, habe ich eine radikale Problemdiagnose: Ihr lest die falschen Bücher. Insta statt Thomas Mann? Eindeutig: Tommy ist gerade zu anstrengend für euer Leben. No shame – mein Leben ist meistens zu anstrengend für ihn, und seit ich das akzeptiert und in meine Bücherauswahl einbezogen habe, lese ich viel mehr. Ein Buch öffnen ist für mich nicht mehr wie eine Ehe (bis dass die letzte Seite euch scheidet, blablabla), sondern eine schwierige Prüfung – für das Buch. Ich als Prüferin lehne mich entspannt zurück, während das erste Kapitel sich die kaltschweißigen Hände an den Seitenrändern abwischt… Bücher fallen durch, wenn ich mich nach fünfzig bis hundert Seiten immer noch langweile. Wenn ich zu oft statt dem Buch das Handy vom Nachttisch nehme. Wenn ich ein Literaturstudium bräuchte, um es zu verstehen. Wenn mir scheißegal ist, was mit der Hauptfigur passiert. Wenn ich mich nicht aufs Buch freue, sondern stattdessen denke: „Ach nee, heute nicht…“ und dieser Vorgang sich täglich wiederholt. Wenn es seit 10 Jahren ungelesen im Regal steht und ich nach fünf Seiten wieder zum Handy greife (wer hat behauptet, dass ich Nathan der Weise lesen muss, und warum habe ich dieser Person geglaubt?!?).
Einmal durchgefallen, kommt das Buch weg. Ohne schlechtes Gewissen. Im Gegenteil – es fühlt sich gut an, ein viertelgelesenes Buch auf den Aussortier-Stapel zu legen. Damit emanzipiere ich mich vom Diktat des Fertiglesens und hole mir Lebenszeit zurück.
Woher kommt das Gerücht, dass intelligente Menschen ihre Bücher IMMER fertig lesen? Oder dass Intelligenz an eurem Bücherregal gemessen werden kann? Natürlich könnt ihr intelligent sein und „trotzdem“ nur Liebesromane mit garantiertem Happy End lesen! Wer sagt, dass Happy Ends und Intelligenz Widersprüche sind? Oder dass Intelligenz so wichtig ist?
Das Diktat des Fertiglesens führt nicht dazu, dass mehr Bücher gelesen werden. Im Gegenteil, dadurch werden in der Summe weniger Bücher gelesen. Der hochintelligente Schinken ist uns nach der Arbeit zu anstrengend, also greifen wir zum Smartphone oder zu Netflix. Vollkommen legitim, aber darüber vergessen wir die dritte Option: Ein Buch, das wir tatsächlich lesen wollen. Die vierte Option ist natürlich, alle Bücher wegzugeben und sich ohne schlechtes Gewissen durch Insta oder Netflix zu arbeiten.
Aber wenn ihr viel und gerne lesen wollt (und ihr müsst das nicht wollen!), könnt ihr das Erreichen dieses Ziels durch eure Bücherauswahl erleichtern: Lest Bücher, auf die ihr Lust habt! Bücher, die sich gut lesen lassen! Mit diesen Auswahlkriterien müsst ihr Qualität und intellektuellen Anspruch übrigens nicht aufgeben; nicht nur Thomas Mann hat intelligente Bücher geschrieben. Aber sich in zeitgenössischen Regalen zu bewegen hilft der Lesbarkeit, weil diese Bücher in eurer Sprache für euch geschrieben wurden, und nicht für eure Urgroßeltern.
Guckt ihr Krimiserien? Lest Kriminalroman statt der Shortlist des deutschen Buchpreises. Wenn ihr Sally Rooney im Original nicht länger als zwanzig Seiten aushaltet, dann besorgt euch die Übersetzung – Profis werden dafür bezahlt, ihr müsst das nicht aushalten. Übersetzungen machen euch nicht zu Banausen, vielmehr unterstützt ihr damit eine weitere Kunstform. Lasst euch von einer Bahnhofsbuchhandlung statt dem Feuilleton inspirieren. Die sind Profis in der Auswahl lesbarer Bücher, wohingegen das nicht unbedingt das erklärte Ziel der Feuilleton-Redakteur*innen ist. (Möglicherweise würden wir sogar mehr Belege für die Behauptung finden, dass es ihnen gerade um die unlesbarsten Bücher geht…) Lest Fantasy, lest Krimis, lest Chick Lit, lest eure Lieblingsbücher nochmal – all dass ist besser als sich darüber zu ärgern, wie wenig ihr in letzter Zeit lest. Schluss mit den falschen Büchern!
Wenn ihr nicht genau wisst, was euch Spaß machen könnte, hier ein paar Vorschläge:
Vermählung von Curtis Sittenfeld – Eine moderne Nacherzählung von Stolz und Vorurteil
Ich bin Circe von Madeline Miller – Griechische Mythologie aus feministischer Perspektive neu erzählt.
Ein Sommer wie kein anderer von Emma Straub – Ein Familienurlaub geht so schief, dass ich beinahe froh bin, dass solche Unternehmungen dieses Jahr ausfallen mussten.
Kurt von Sarah Kuttner – Traurig, aber schön. Und kurz, also gut für den Wiedereinstieg in den Lese-Flow.
Lieblingsbücher aus eurer Kindheit/Jugend.
Falls Englisch euch nicht zu anstrengend ist:
Rodham von Curtis Sittenfeld – Was wäre passiert, wenn Hillary Bill nicht geheiratet hätte?
The Lady in the Lake von Laura Lippman – Maddie trennt sich von ihrem Ehemann und wird Journalistin. Sie kämpft aber nicht nur gegen sexistische Strukturen in der Redaktion, sondern versucht auch, das Verschwinden einer jungen schwarzen Frau aufzuklären. Ein Krimi mit spannenden Erzählperspektiven und unerwarteten Twists.
No Judgement und No Offense von Meg Cabot – Wenn ihr für eine unterhaltsame Schnulze eine kleine Reise nach Florida machen wollt.
Und meine Empfehlungen hier gelten natürlich weiterhin.
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