August 2020. 34°C in der Ringbahn. Meine Maske und mein T-Shirt sind schweißgetränkt. Ein schlanker, schnieke gekleiderter Mann um die 40 setzt sich mir gegenüber – ohne Maske. Er kramt eine kleine Wasserflasche aus seiner Aktentasche, trinkt langsam ein paar Schlückchen. Ich sehe streng von meinem Buch auf, aber denke, „Na gut, es ist heiß, ich gebe ihm noch ein paar Sekunden.“ Er steckt die Flasche wieder ein. Als er sein iPhone aus der Hosentasche zieht, lugen daraus die Ohrbändel seiner Maske hervor. Ich räuspere mich: „Wollen Sie noch ihre Maske aufsetzen?“ Sein entschiedenes „Nein“ wird von einem noch entschiedener bösen Blick begleitet.
Als ich ein paar Tage zuvor im ICE zwischen Kassel und Berlin meinen Sitznachbarn im selben Alter bat, die Maske doch bitte auch über die Nase zu ziehen, tat dieser das klaglos. Ich hatte in der Ringbahn mit der gleichen Reaktion gerechnet.
Mein Gehirn rattert.
Und rattert.
Endlich bekommt mein Mund einen Auftrag: „Gut, dann setzen Sie sich doch bitte woanders hin, ich arbeite im Krankenhaus.“ Mein Gegenüber erhebt sich wider Erwarten, zieht dabei die Maske auf und sucht sich einen neuen Sitzplatz. Die Nase ist zwar immer noch nackt, doch ich werte meine Intervention als erfolgreich.
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Vor Jahrhunderten (im September 2011) schreib ich für einen Soziologie-Kurs einen Essay über die sozialen Codes der Hygiene, inklusive eines Vergleichs der kulturellen Unterschiede zwischen der BRD und den USA. Soziale Codes sind (meist ungeschriebene) Regeln für akzeptables Verhalten und strukturieren unser Sozialleben. Im Fall der Hygiene sagen sie uns unter anderem, wie oft wir duschen sollten, wann wir ein T-Shirt dem Schnuppertest unterziehen müssen und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns auf öffentlichen Toiletten die Hände waschen.
Im interkulturellen Vergleich fiel mir vor allem auf, dass die hygienischen Codes in den USA viel strenger sind: Vor meinem Auslandsjahr wurde ich gewarnt, auch ja täglich meine Kleidung zu wechseln, weil sonst in der High School getratscht würde. Handtücher wurden nach jeder Dusche gewechselt. Hand-Sanitizer-Gel gehörte schon 2009 zum Alltag und die Beschreibung „Germophobe“ war neutral, wenn nicht gar positiv.
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2020 ist ein besonders interessantes Jahr, um über diese Codes nachzudenken. Wer hat sich nicht öfter denn je die Hände gewaschen? Endlich gelernt, in die Ellenbeuge statt in die Hand zu niesen? Sich erstmals gefragt, wie sauber die Türgriffe in einem Mietshaus wohl sind? Dieses Jahr verhandeln wir diese sozialen Codes in Echtzeit. Viele Regeln sind weniger ungeschrieben als sonst: Plakate weisen auf die AHA-Regeln hin, wer die Maske nicht trägt zahlt (zumindest theoretisch) Bußgeld, die perfekte Technik des Händewaschens wird in Zeitungen diskutiert. Durch die Pandemie wird Hygiene zum gesellschaftlichen Projekt; sie bekommt eine neue Dringlichkeit. Die Konsequenzen sind nicht mehr bloß persönlich – etwa soziale Ächtung bei übermäßigem Körpergeruch – sondern gesellschaftlich: Auf einmal geht es mich etwas an, wie oft du dir deine Hände wäschst. Theoretisch können wir dieses Jahr durch falsches Husten töten. (In den Vorjahren war die Wahrscheinlichkeit dafür auch nicht Null, aber diese Möglichkeit war uns weniger bewusst.) Quarantäne und Isolation sind plötzlich alltägliche Konzepte. So wird auch die Ächtung bei Missachten sozialer Codes sichtbarer und in offiziellen Regeln codifiziert. Was natürlich nicht heißen soll, dass wir „selbst schuld“ sind, wenn wir in Quarantäne müssen, sondern eher, dass das Wissen um diese Möglichkeit dafür sorgen könnte, dass manche sich besser an die sozialen Codes halten. Auch die Verbindung zwischen Hygiene und Ethik wurde dieses Jahr offensichtlicher. Die Assoziation „sauber = gut“ und „dreckig = schlecht“ ist natürlich nicht neu, aber 2020 bekam sie eine neue Eindringlichkeit – vor allem weil der Dreck dieses Jahr nur unter dem Elektronenmikroskop sichtbar ist.
Wir sehen eine schnelle Veränderung oder Verschärfung der sozialen Codes bezüglich Hygiene, weil der Infektionsschutzaspekt dieser Codes durch die Pandemie in den Vordergrund rückt. Natürlich gab es diesen Aspekt schon immer, ich zitiere meinen Essay: „During annual waves of influenza, [worrying about contagion] practically becomes a social obligation.“ Damals war diese Aussage möglicherweise übertrieben; 2020 ist sie eine Beschreibung des Status Quo, auch wenn das Virus ein anderes ist. Ist es dadurch leichter, diese Codes mündlich zu verhandeln? Ist es akzeptabler „Corona!“ zu sagen als „Du stinkst!“, weil klar ist, dass wir in einer neuen Situation sind? Der „Sinn“ hygienischen Verhaltens ist dieses Jahr so eindeutig, dass das die Veränderung der Codes beschleunigt – schließlich wollen wir nicht zur Infektionsausbreitung beitragen, egal wie sehr die Maske uns auf langen Zugfahrten nervt.
Welchen Einfluss haben soziale Medien auf diese Entwicklung? Muss ich bei Insta übers Händewaschen posten, um zu beweisen, dass ich es kann? Sind meine Hände überhaupt sauber, wenn ich mein Handcreme-Arsenal nicht dem Internet vorgeführt habe? Für Virtue signaling ist mir noch keine gute deutsche Übersetzung eingefallen: „Tugend signalisieren“ wäre wörtlich, aber deutlich weniger peppig als das Original. Jedenfalls zeigt man damit, dass man ein extrem guter Mensch ist, doch die eigentlichen Ziele sind Aufmerksamkeit und Image-Politur, nicht die gute Sache an sich. Haben wir deshalb die Händewasch-Anleitung gepostet, obwohl Insta schon voll damit war? Nicht weil wir glaubten, dass unsere Follower die Anleitung noch nicht gesehen hätten, sondern als Beweis, dass wir verstanden hatten, was für eine ernste Sache Corona ist?
Diese Entwicklung der Codes an sich ist nicht gut oder schlecht. Soziale Codes strukturieren unser Leben und verändern sich mit der Gesellschaft – oder haltet ihr euch noch an die hygienischen Codes des Mittelalters? Doch es ist interessant, dass diese Codes plötzlich so sichtbar und veränderbar geworden sind.
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Welchen Einfluss hat es, dass viele dieser Regeln von oben vorgeschrieben werden? Vielleicht ist die Tatsache, dass wir Alltagsmasken heute weniger befremdlich finden als im März ein Zeichen dafür, dass die Maskenpflicht langsam in einen sozialen Code übergeht. Im März ernteten die unter der Maske befremdete Blicke, heute sind es – zumindest immer häufiger – die Maskenlosen. Werden wir in ein paar Jahren bei Erkältungssymptomen so selbstverständlich Masken tragen wie schwarze Kleidung bei einer Beerdigung, ohne Pflicht und Bußgeld, sondern weil sich das eben so gehört? Oder sind Masken eben doch noch unangenehm, gerade weil sie noch kein sozialer Code sind, siehe mein Erlebnis in der Ringbahn? Im Gegensatz zu – zum Beispiel – Unterhosen? Entsteht diese Spannung, weil diese Codes von oben geändert werden, weil #flattenthecurve keine organische Entwicklung zulässt?
Auch 2020 ist ein Vergleich mit den USA nicht uninteressant. In der BRD wurden die Corona-Codes nach etwas Gerangel eindeutig von oben vermittelt: Die Maske ist vielerorts Pflicht; an Bushaltestellen informieren Plakate über die AHA-Regeln. Diese vergleichsweise eindeutige Kommunikation hat den Weg für neue soziale Codes geebnet. In den USA dagegen wurde die Maske zum politischen Statement. Die individuelle Freiheit des Sich-nichts-Vorschreiben-lassens ist wichtiger als kollektiver Infektionsschutz. Die amerikanische Maske ist nur insofern ein sozialer Code, als dass sie es gewissen Blasen ermöglicht, sich von anderen abzugrenzen. In der breiten Gesellschaft angekommen ist sie jedoch nicht; hierzulande ist sie zumindest auf dem Weg dorthin. Wir haben viele Fotos von Merkel mit Maske, aber erst eins von Trump, Sekunden bevor er sie triumphierend von seinem Gesicht riss. Kann eine Biden-Harris-Regierung nach dieser Vorgeschichte die Maske noch zur Normalität machen?
Was sagt uns das jetzt? Soziale Codes können nur von oben eingeführt werden, wenn Oben eindeutig dieses Ziel vertritt und Unten zum Mitmachen bereit ist? Vielleicht entwickeln soziale Codes sich schneller, wenn sie von oben gepusht werden. Aber sie entwickeln sich nur, wenn sie von der Mehrheit angenommen werden, zumindest ist das in Demokratien so.
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Natürlich sind – wie fast alles im Leben – Ansteckung und Hygiene Klassenfragen. Ich weiß nicht genau, wie viel Geld ich bisher für Stoffmasken ausgegeben habe, aber ich bin froh, dass ich keine Familie ausstatten muss. Als meine Haut vom obsessiven Händewaschen und der Arbeit im Krankenhaus immer rissiger wurde, kaufte ich mir Handmasken – im Prinzip Plastikhandschuhe, die von innen mit reichhaltiger Handcreme beschichtet sind und nach einmaliger zwanzigminütiger Benutzung entsorgt werden. Die dm-Eigenmarke kostet 3€ pro Paar, die weniger aufdringlich riechende und besser funktionierende Variante von Neutrogena 4€. Je voller eure Konten sind, desto trivialer mögen diese Beispiele klingen. An dieser Stelle sei deshalb daran erinnert, dass der Hartz-IV-Höchstsatz aktuell bei 432€/Monat liegt und wöchentliche Neutrogena-Handmasken mit 16€/Monat 3,7% dieses Betrags fressen. Auch Ansteckung ist in beengten Wohnverhältnissen oder bei prekärer Beschäftigung als systemerelevante Arbeiter*in selbst mit perfekter Hygiene kaum zu verhindern. (Diese Liste ist weit von Vollständigkeit entfernt.)
Der Fokus auf Hygiene und „was jetzt jeder einzelne tun kann“ versteckt soziale Ungleichheit und schiebt die Verantwortung für die Ausbreitung und die Schuld an Ansteckung auf einzelne. Wir sollten uns also – trotz allem soziologischen Interesse an den Entwicklungen der sozialen Codes – weniger gegenseitig beim Händewaschen beobachten (aber trotzdem weiter waschen!) und stattdessen gemeinsam ein sozialeres Gesundheitssystem, mehr soziale Gleichheit, usw. fordern. Wie so oft ist die gemeinsame Endstrecke gesellschaftlicher Probleme eine andere Gesellschaft.
Gerade diese Veränderungen der sozialen Codes sind der Beweis, dass die Gesellschaft sich verändern kann und wir die Richtung dieser Veränderung beeinflussen können. Wir haben als Gesellschaft beschlossen, dass Infektionsschutz eine hohe Priorität hat und sehen jetzt eine entsprechende Veränderung der sozialen Codes der Hygiene. Was priorisieren wir als nächstes? Soziale Ungleichheit? Sodass es bald zum guten Ton gehört, über Gehaltsunterschiede zu sprechen und gerechte Bezahlung einzufordern? Sexismus? Sodass Männer nicht mehr die Macht haben, über die reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen* zu entscheiden? Rassismus? Sodass sich niemand mehr sicher sein muss, dass es an der Hautfarbe lag? Nazis? Sodass die nicht mehr am 9.11. marschieren dürfen, während Gedenkveranstaltungen für die Opfer ihrer Vorbilder aufgrund der Pandemie nicht genehmigt werden? Die Möglichkeiten sind endlos.
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