Beim Anprobieren meines neuen Mantels fragte ich mich, ob er nicht ein bisschen zu weit sei. Obwohl er bequem war, obwohl ich verglichen mit dem alten ein weiteres Modell wollte, um im Winter mehr Bewegungsfreiheit und Zwiebelkapazität zu haben. Doch meine Körperform verschwand darunter und ich war mir unsicher, ob das wirklich in Ordnung war. Wie bescheuert!!! Ich habe den weiten Mantel behalten, jedoch erst, nachdem ich mir wiederholt klargemacht habe, dass wer mich auf der Straße sieht kein Recht darauf hat, meine Körperform begutachten zu können. Dass das dementsprechend kein Auswahlkriterium für Kleidungsstücke sein muss.
In weiter Kleidung ist mein Körper weniger relevant: Erstens ist er weniger sichtbar und zweitens kollidiert meine Kleidung nicht mehr auf eine Weise mit meinem Körper, die mich daran erinnert, dass etwas damit nicht stimmen könnte: Kein Zwicken, kein Kneifen, kein flaches Atmen. Weite Kleidung erlaubt mir, das Optische meines Körpers zu vergessen und mich auf seine Funktion zu konzentrieren. So lange nichts schmerzt, kann ich meinen Körper vergessen. Dadurch habe ich dann die mentale Bandbreite für Texte wie diesen. Seit ich mich an den Mantel gewöhnt habe, frage ich mich auch nicht mehr, ob er „zu weit“ ist. Hoffentlich verstehe ich diese Frage in ein paar Jahren gar nicht mehr.
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Mein Kleiderschrank hat im letzten Jahr eine Metamorphose erlebt: Die weiten Pullis haben sich vermehrt und ich besitze Mom Jeans, auf die unsere Mütter in den 80ern neidisch gewesen wären, nur dass meine auch noch aus Biobaumwolle sind. Ich bin nicht die Einzige, die nur noch flache Schuhe trägt; letztens sah ich eine gestylte Frau in Turnschuhen und dachte: „Nice, vor ein paar Jahren hätten wir unsere Füße für dieses Outfit in High Heels zwängen müssen.“ Diese Kleidung ist unglaublich praktisch; die Mom Jeans hat sogar ernstzunehmende Taschen! In den Turnschuhen kann ich stundenlang demonstrieren und zur Bahn rennen sowieso. Wenn ich nach Hause komme, lasse ich die Draußen-Hose an, statt panisch nach einer Jogginghose zu suchen. In dieser Kleidung darf mein Körper einfach sein, statt von ihr verändert zu werden. Sie ermöglicht Bewegung, statt sie zu verhindern – so wird Baucheinziehen zur vergessenen Geste.
Hochgeschlossene Kuschel-Pullis, wadenlange weite Röcke, in denen Laufen und Bücken möglich ist, besagte Turnschuhe, viel Stretch – warum ist bequeme Kleidung auf einmal in? Ist der Hygge-Trend bei der Alltagskleidung angekommen? Sollen unsere neuen gemütlichen Klamotten uns von der kalten politischen Welt ablenken? Sollen wir uns mit Netflix und Kaschmirpullis einkuscheln, statt wachsende soziale Ungleichheit zu kritisieren oder gar Geld statt Applaus für systemrelevante Arbeiter*innen zu fordern?
Oder geht es – wie immer im Kapitalismus – darum, uns etwas zu verkaufen? Aber unsere Schränke sind noch voll mit unbequemen, kurzen, engen Sachen, weshalb bequeme Kleidung modern werden musste, um das Fast-Fashion-Rad am Laufen zu halten? Weil dieses Geschäftsmodell nur funktioniert, wenn wir kaufen, kaufen, k a u f e n und H&M dann doch zugeben muss, dass wir nicht dumm genug sind, den fünfundzwanzigsten Minirock zu kaufen? Das Kalkül geht wie ihr merkt auf – trotz aller Kapitalismuskritik ist dieser Text eine Lobeshymne auf diese Kleidung, die ich kaufen musste, um sie loben zu können.
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Ist diese Kleidung trotzdem feministische Selbstermächtigung? Ein Ignorieren des Male Gaze, also des männlichen Blicks, für den Frauen im Patriarchat sich gefälligst zu kleiden haben? (Für sich selbst einen Minirock zu tragen ist natürlich legitim, in dieser Kolumne wird kein Slutshaming betrieben!) Ist meine Mom Jeans vielleicht sogar Teil der Kampfmontur gegen das Patriarchat? Es fühlt sich jedenfalls äußerst feministisch an, eine Jeans zu tragen, die sich nicht um die Form meiner Beine schert. Die meinen Hintern versteckt, obwohl ich gelernt habe, dass frau ihre Schokoladenseiten betonen soll. Ich hoffe, dass Mom Jeans nicht nur bei mir selbst dazu führen, dass ich diesen Mist verlerne, sondern auch andere dazu inspirieren, sich bei der Kleiderwahl von Bequemlichkeit leiten zu lassen. Denn die Welt geht von weiten Jeans nicht unter, die Style-Polizei existiert nicht und niemandem außer mir ist aufgefallen, dass meine Beine mehr Platz haben.
Aber ist diese Selbstermächtigung von Trends getrieben oder dagegen immun? Oder ist sie durch Trends entstanden, doch entwickelt Immunität dagegen – wie bei Viren, die die Infektion zwar verursachen, aber wenn das mit der ersehnten Immunität klappt, immerhin nur ein einziges Mal? Oder ist der Ursprung dieser Ermächtigung irrelevant, solange sie sich als nachhaltig erweist? Motte ich diese Jeans beim nächsten Minirock-Trend wieder ein oder werde ich bis dahin durch die tägliche positive Erfahrung des Sich-bewegen-Könnens gegen das Trend-Diktat gestählt sein? Aber wie bereits hier erwähnt, bin ich geschmacklich längst nicht so unabhängig wie ich es gern wäre. Werden meine Mom Jeans mir beibringen, dass sich Wohlfühlen wichtiger ist als jedes Spiegelbild?
Embodiment ist eine wissenschaftliche Sichtweise, die psychische Prozesse in Bezug auf den Körper untersucht. Die Grundidee ist, psychische Prozesse in den Körper eingebettet zu betrachten: Körper und Psyche sind keine getrennten Kompartimente, sondern beeinflussen sich gegen- und wechselseitig. Die Psyche wird zum Beispiel davon beeinflusst, wie wohl wir uns in unserer Kleidung fühlen: Das Leben in einer weiten Hose ist leichter als in einer zu engen Röhrenjeans. Umgekehrt ist die Arbeit im Homeoffice in Jeans produktiver als in Jogginghosen. Ihr kennt das: Jeans und BHs triggern Arbeit, Jogginghosen triggern Entspannung. So können wir im Umkehrschluss mit unserer Kleiderwahl entscheiden, wie wir uns fühlen wollen.
Bequeme Kleidung trägt also zu psychischem Wohlbefinden bei. Kein Wunder, dass die Idee für diese Abhandlung mir in der entsprechenden Kleidung kam. Aber wie viele gute Ideen kommen uns schon in zu engen Jeans? Gerade Frauen*, die historisch in eher unbequeme Kleidung gepackt wurden, können sich durch bequeme Kleidung empowern. Die Mom Jeans wird noch bequemer, wenn ich sie als radikale Alternative zum Korsett betrachte, als Symbol für alles, was wir schon erreicht haben.
Das Konzept Embodiment erinnert mich an Materialismus (hier meine ich den philosophischen Begriff, nicht überquellende Kleiderschränke). Unsere Körper sind im weitesten Sinne Material und bei Kleidung fragen wir ja schon beim Kauf „Aus welchem Material ist das?“ Marx sagte einst: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Da ging es zwar nur indirekt um Kleidung, aber verzeiht mir den Sprung: Wenn wir Embodiment und historischen Materialismus verquirlen, kommt dabei heraus, dass Marx heutzutage auch Mom Jeans und Turnschuhe tragen würde, egal mit welchem Geschlecht Marx sich 2021 identifizieren würde. Ich würde diese These gern höchstphilosophisch belegen, aber dafür qualifiziert mein Medizinstudium mich leider nicht. Auch Google findet keine schlaueren Personen, die das bereits getan haben. Falls ihr es könnt, bitte auf diese Mail antworten! Nach 2020 ist mein Gehirn leider nicht mehr in der Lage, diese intellektuelle Leistung allein zu vollbringen, bequeme Kleidung hin oder her. Die verleiht schließlich (leider) keine geistigen Superkräfte, sondern kann „nur“ Gehirnkapazität freischaufeln. Mein Gehirn wollte trotzalledem den schönen Satz „Marx trägt Mom Jeans“ mit euch teilen – seht es ihm nach, es hat ihn schon im März 2020 formuliert und erst jetzt, acht Monate und sechs Entwürfe später, akzeptiert, dass eine philosophischere Artikulation uns nicht möglich sein wird. Mut zum Küchenmarxismus! Ich werde bei der Revolution – wie Marx – jedenfalls keinen Minirock tragen. Aber alle Rocklängen sind herzlich willkommen, denn die Revolution schaffen wir nur zusammen.
Dieser Text hat keine Kleiderordung. Schickt ihn trotzdem euren stylischen Freund*innen.