Mit achtzehn wollte ich Minimalistin werden. Also sortierte ich mein Kinderzimmer aus: Jede Schublade, jeden Schrank, jeden Schuhkarton. Auf Minimalismus-Blogs fand ich die 20/20-Regel (Kann ich dieses Ding in weniger als 20 Minuten für weniger als 20€ ersetzen?) und die 90/90-Regel (Habe ich dieses Ding in den letzten 90 Tagen benutzt bzw. werde ich es in den nächsten 90 benutzen?). Der krönende Abschluss war das Aussortieren meiner Tagebücher: Ich las alle 32 (sic) nochmal und behielt nur die guten Seiten, also Analysen pubertärer Freundschaften und Erörterungen darüber, in wen ich mich als nächstes verknallen sollte. Als ich – nach Jahren – „genug“ aussortiert und vergleichsweise wenig Neues angeschafft hatte, bezeichnete ich mich offiziell als Minimalistin und schloss mich einem Minimalismus-Stammtisch an.
Ich war vor drei Jahren das letzte Mal dort. Mein Kleiderschrank hat sich seitdem verdoppelt; ich musste mit einer Kleiderstange anbauen. Ich besitze jetzt schätzungsweise 17 Paar Ohrringe. Ich habe mir einen Drucker gegönnt und mir im Urlaub ein Halstuch gekauft, obwohl ich schon zwei habe. Ich bin offensichtlich keine Minimalistin mehr – und habe mich aus dem Stammtisch-Verteiler austragen lassen.
Hat die Welt des Konsums mich wieder eingelullt? Nicht direkt. Viel relevanter ist, dass dieser Sinneswandel sich während meiner Politisierung vollzog. Ich beschäftigte mich mit Marx, sozialistischem Feminismus und den Tücken des neoliberalen Kapitalismus. Ich fragte mich, warum Trump passieren musste, damit ich endlich linke Studi-Gruppen googelte. Minimalismus ist ein Teil der Antwort auf diese Frage.
Er hat mich jahrelang beschäftigt und ich hatte das Gefühl, durch Wenig-besitzen schon ziemlich viel zu tun. Das Problem war nicht das minimalistische Konsumverhalten an sich, sondern die starke Identifikation mit dieser Lebensphilosophie. Denn die hat dazu geführt, dass ich nicht politisch aktiv war. Beim Minimalismus liegt der Fokus auf mir selbst und das hat wenig antikapitalistisches Potential: Dann werden mir eben faire, vegane, multifunktionale Produkte verkauft – am Großen und Ganzen des Kapitalismus ändert das nichts. Auch die nächste Demo wird daran wohl nicht viel ändern, aber kumulativ werden Demos, politische Bildungsarbeit, Volksentscheide für niedrigere Mieten, politischer Druck von Unten, etc. mehr verändern als minimalistisches Konsumverhalten. Denn politische Aktivität lädt uns dazu ein, den Blick nach außen zu richten: Welchen Platz nehmen wir in diesem System ein? Wer sind unsere Mitstreiter*innen? Wie können wir denen helfen, denen es schlechter geht als uns? Ist dieses System wirklich alternativlos? All diese Fragen habe ich mir als Minimalistin nicht gestellt.
Mein Punkt ist nicht, dass alles am Minimalismus schlecht ist oder gar dass alle Minimalist*innen doof sind – natürlich ist es sinnvoll, vor dem Kauf genau zu überlegen, ob das wirklich sein muss, oder unbenutzte Dinge weiterzugeben, etc. Natürlich wäre es besser für die Umwelt, wenn wir alle minimalistischer unterwegs wären. Aber trotzdem ist Minimalismus wie ich ihn praktiziert habe nur ein Symptom kapitalistischer Exzesse, ein (manchmal) zwanghaftes Verkehren in ihr Gegenteil (Beispiel: den Esstisch wegminimalisieren). Doch nur weil es vom Problem inspiriert wurde, ist es noch lange nicht dessen Lösung. Ja, Minimalismus als Lebensstil ist entstanden, weil wir immer größere Berge Zeug angehäuft haben und trotzdem nicht glücklich geworden sind. So betrachtet ist der Versuch, mit wenig Zeug glücklich zu werden nicht unlogisch. Aber das viele Zeug und das Unglück haben eine gemeinsame Ursache: Kapitalismus.
Im Gegensatz zu politischem Engagement ist Minimalismus ein individuelles Pflaster, das wir auf die Wunde kleben, damit wir sie ignorieren können, während unter dem Pflaster die Entzündung tobt. Doch dieses Pflaster stabilisiert das System: Wenn wir weniger Dinge wollen, brauchen wir weniger Geld, also fallen uns stagnierende Löhne weniger auf. Wenn wir in kleineren Wohnungen leben wollen, damit wir nicht so viel putzen müssen, kann die Immobilien-Spekulation weitergehen. Wenn wir mit Freund*innen und im Internet lieber über unsere Aussortier-Erfolge als über die AfD, rassistische Polizeigewalt oder Klimagerechtigkeit reden, werden die Reichen ungestört reicher.
Wie praktisch, dass wir uns ausgerechnet diesen Lebensstil ausgesucht haben, denn eine Gehaltserhöhung gibt es in den nächsten zehn Jahren sowieso nicht, mehr als ein Tiny House werden wir uns niemals leisten können und ob wir jemals eine Rente bekommen bleibt eine Überraschung. Und wir haben trotzdem das Gefühl, uns freiwillig für dieses einfache, spartanische Leben entschieden zu haben. Sind mit dieser Entscheidung so zufrieden, dass wir gar nicht fragen, ob es auch anders sein könnte, wenn da nicht dieser verdammte Kapitalismus wäre.
Eigentlich ist Minimalismus ein erster Keimling der Erkenntnis, dass mit dem Kapitalismus etwas nicht stimmt. Doch ich habe verdammte Jahre in diesem Keimstadium verschwendet. Ich habe Stunden meines ersten Semesters in Berlin mit meinen alten Tagebüchern verbracht, statt politische Studi-Gruppen zu googlen. Das wäre ja in Ordnung gewesen, wenn ich sie gelesen hätte, weil ich Lust auf Kindheits- und Jugenderinnerungen hatte, weil ich meine Memoiren schreiben wollte oder um meinen neuen Freund*innen zu zeigen, dass ich schon immer so witzig war. Aber um sie auszusortieren?!?!? Ohne dieses und ähnliche Commitments wäre ich Jahre früher zu echtem politischen Engagement gekommen. Das muss nicht heißen, dass es keine politisch aktiven Minimalist*innen gibt. Doch ich habe beim Stammtisch und im Internet keine getroffen, was mich in Verbindung mit meiner eigenen Erfahrung zur These bringt, dass Minimalismus im Kapitalismus Zeitverschwendung ist.
Ohne diese persönliche Erfahrung würde ich wahrscheinlich denken, dass ein minimalistischer Lebensstil ein guter Weg wäre, ein Leben mit weniger auszuprobieren, Offenheit für Degrowth-Ansätze zu fördern, etc. Aber leider war das in meiner Erfahrung das Gegenteil der Fall. Diese Philosophie ist ein pseudo-revolutionäres Akzeptieren der Verhältnisse: Viele Minimalist*innen denken, dass sie das Problem lösen, indem sie wenig konsumieren und für ihren Lebensstil missionieren. Den Kapitalismus hinterfragen sie nicht, es ist eher ein trotziges “Hat mit mir doch nichts zu tun, ich besitze wenig!” Minimalismus entpolitisiert, in dem er dazu einlädt, sich auf sich und seine Familie zu konzentrieren, anstatt das System zu hinterfragen. Er gaukelt eine Lösung ohne Systemwandel vor.
Außerdem ist Minimalismus ein Lebensstil der Privilegierten. Ich kann mich nur aktiv für weniger entscheiden, wenn ich weiß, dass ich mir auch mehr haben könnte. Ich kann die 20/20-Regel nur befolgen, wenn ich X mal 20€ auf dem Konto habe. Ist das nicht der Fall, hebe ich die dritte Blumenvase, die leeren Notizbücher und das schwarze Velourslederspray, für das ich gerade keine passenden Schuhe besitze, vorsichtshalber auf. Wenn ich vor allem mit dem Überleben im Kapitalismus beschäftigt bin und nach meinem dritten Mindestlohnjob erschöpft zusammenbreche, werde ich wohl kaum darüber nachdenken, ob ich möglicherweise zu viele Ohrringe besitze. Gerade weil ich genug Zeit und Energie habe, mich mit Minimalismus zu beschäftigen, sollte ich dieses Privileg nutzen, um für ein besseres System für alle zu kämpfen.
Die Alternative zum Minimalismus ist natürlich nicht „schön weiter konsumieren!“, sondern weniger über Konsum nachzudenken und diese Energie in politische Aktivität zu stecken, auch wenn das dazu führt, dass wir drei T-Shirts mehr kaufen. Denn sich ständig gegen den Sirenengesang des Konsums zu wehren kostet viel Energie: Täglich 763 Werbungen ignorieren, so wenig Zeit wie möglich in sozialen Medien verbringen, in der U-Bahn nicht zu genau hingucken, denn die rosa Turnschuhe der Nachbar*in könnten ja nicht-minimalistische Gelüste wecken und die U9 hält gefährlicherweise am Ku‘damm. Diese Energie fehlt für echte Systemveränderung: Politisches Engagement kann einen viel größeren Effekt haben als regelmäßiges Ausmisten. Erst als ich keine aktive Minimalistin mehr war, wurde durch das Wegfallen dieser Beschäftigung die Zeit und Energie für politische Aktivität frei.
Kann Minimalismus eine konkrete Utopie nach Ernst Bloch sein? Also ein Prozess, in dem wir experimentieren und verhandeln, wie eine zukünftige Welt aussehen könnte, indem wir Varianten davon jetzt schon leben? Im Sinne davon, dass wir bei uns selbst anfangen und so leben, wie wir es für die gesamte Gesellschaft erstrebenswert finden? Indem wir zeigen, dass gutes Leben und Konsum voneinander unabhängig sind? Sicherlich. Aber warum sollten wir uns diese Mühe für ein Teilziel wie „wenig besitzen“ machen, wenn wir gleich eine antikapitalistische konkrete Utopie entwerfen könnten? Lasst uns in diesem Lockdown also nicht mit dem Umwälzen unserer Schranke verbringen, sondern auf der Kommunikationsplattform unseres Vertrauens: Dort können wir diskutieren, wie unsere Welt aussehen soll. Und wenn wir von Gerechtigkeit, sozialer Gleichheit, der Abschaffung von Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus träumen, werden aufgeräumte Schränke wohl relativ weit unten auf unserer Wunschliste stehen.
Danke an Maria für das kritische Feedback.
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