Wie gut wir durch die Pandemie kommen, hängt größtenteils von Faktoren ab, die wir kaum kontrollieren können: Soziale Unterstützung, Job, Wohnsituation, Stoizismus-Reserven, wie dringend wir unsere Friseur*in wieder sehen müssten, der Widerstandsfähigkeit unserer Psyche… Dass wir so lange durchhalten müssen, sollte nicht so sein. Aber patentierte Impfstoffe werden nur langsam verteilt, während das Virus fröhlich mutiert. So verlieren selbst überdurchschnittlich optimistische Menschen wie ich den Mut. Mir helfen kleine Gewohnheiten dabei, nicht wahnsinnig zu werden. Sie sind kein Wundermittel, aber vermitteln eine Illusion von Kontrolle. Diese Illusion hilft, mich selbst auszutricksen und nach einem Jahr Pandemie weiterzumachen.
Gewohnheiten erleichtern mir das Leben, weil ich so mein Gehirn nicht einschalten muss. Ein Beispiel: Ich habe mir angewöhnt, während der Kaffee zieht (oder was auch immer er in der French Press tut), die Küche aufzuräumen. Gestern war alles scheiße, aber bevor ich es gemerkt hatte, war das trockene Geschirr im Schrank. Im Flow konnte ich nach einem Lappen greifen und hatte wenige Minuten später frischen Kaffee und eine saubere Küche. Die Laune besserte sich entsprechend. Ohne diese Gewohnheit hätte ich niemals aufgeräumt. Doch so war das Chaos fast weg, als ich feststellte, dass ich nicht aufräumen wollte – Gewohnheiten überlisten unser Gehirn. Sie ersparen uns die Entscheidung, ob wir heute putzen, kochen oder Sport machen wollen, weil wir uns das erst fragen, wenn wir schon im Autopilot losgejoggt sind.
Die "richtigen" Gewohnheiten unterscheiden sich von Person zu Person, weshalb ich euch nicht raten werde, täglich zu schreiben oder gar euer Bett zu machen. Es soll stattdessen um Strategien gehen, Gewohnheiten zu etablieren oder zu verändern. Das ist keine Selbstoptimierung, sondern Selbsthilfe: Ich verrate euch meine Tricks und ihr schickt mir eure. (Meine Tricks habe ich vor allem aus diesem Blog und diesem Podcast (Staffel 5, Folge 3).)
Das Erleichterndste zuerst: In der Pandemie müssen wir unsere Standards senken. Das mag in einem Text über Gewohnheiten paradox klingen, aber Zufriedenheit können wir erreichen, indem wir uns weniger vornehmen und so häufiger unseren Erwartungen gerecht werden. Deshalb habe ich gute Tage neu definiert: Ein guter Tag ist einer, an dem ich draußen war (zehn Minuten reichen), geschrieben habe (jeder Satz zählt) und eine Lebensorganisationsaufgabe erledigt habe (Müll rausbringen, eine E-Mail beantworten, etc.). So sehe ich Tageslicht, kann mich Autorin nennen und stehe seltener vor der kompletten Sorgearbeits-Überforderung. Ein Tag, an dem ich um den Block gelaufen bin, drei Zeilen geschrieben und Blumen gegossen habe ist genauso gut wie einer, an dem ich die gesamte To-Do-Liste abgehakt habe. Wenn ich meine neuen niedrigen Standards erfülle, habe ich mein Leben im Griff, egal wie viel oder wenig ich objektiv betrachtet „geschafft“ habe.
Eure drei Dinge können anders aussehen; es müssen nicht einmal drei sein: Eine Seite lesen, ein Haushaltsmitglied umarmen, einen Apfel essen, saubere Kleidung anziehen, das Bett verlassen, eine Nachricht beantworten, vor 23 Uhr ins Bett gehen… Ihr wisst am besten, was das Gefühl von Kontrolle vermittelt und machbar ist. Wichtig ist, das es kleine Dinge sind – oft werden die von allein größer. Am Mittwoch habe ich 673 Wörter geschrieben, war eine Stunde draußen, habe Wäsche abgehängt, eingekauft und eine Versicherung abgeschlossen. Doch genauso gibt es Tage, an denen ich diese Dinge nicht übertreffe und das ist absolut in Ordnung.
Deswegen habe ich eine weitere neue Messlatte: Ich frage nicht mehr, ob alles so lief wie geplant, sondern ob es funktioniert hat. Eigentlich wollte ich diesen Text am 21.2.21 verschicken, doch heute ist der 7.3.21. Hat es trotzdem funktioniert? Ja, die Kolumne ist an einem Sonntag in eurem Postfach gelandet, ihr könnt sie lesen und die Tricks ausprobieren. Das muss nach einem Jahr Pandemie einfach reichen.
Ein Trick für bessere Gewohnheiten ist die strategische Nutzung eines Triggers. Das ist der Wink mit dem Dirigierstab, der dazu führt, dass wir in die Trompete pusten, stundenlang durch Instagram scrollen oder zu unserem täglichen Spaziergang aufbrechen. Alles kann ein Trigger sein: Aufstehen (triggert Anziehen), duschen (triggert Abtrocknen), nach Hause kommen (triggert Händewaschen), zum Handy greifen (triggert Instagram). Wir können Dinge, die wir sowieso tun, mit einer gewünschten Gewohnheit verbinden: Zähneputzen triggert zum Beispiel meine Achillessehnen-Übungen. Überlegt euch, welche Gewohnheit ihr einführen wollt und an welchen Trigger ihr sie koppeln könnt: Nach dem Aufstehen meditieren, vor dem Schlafanzug-Anziehen fünf Minuten aufräumen, während des Lüftens drei Dehnübungen machen, in Videokonferenzen Obst essen, etc. Mit diesem Wissen können wir auch schlechte Gewohnheiten indirekt über ihre Trigger angehen: Die Instagram-App löschen, das Handy in einem anderen Raum oder zumindest nicht auf dem Schreib- oder Nachttisch lagern, Autoplay bei Streaming-Platformen ausschalten, …
Der letzte Trick ist für Tage, an denen gar nichts klappt: Anker. Das sind im Prinzip Mini-Versionen erwünschter Gewohnheiten. So komme ich nicht komplett raus, wenn mir erst kurz vor dem Schlafengehen einfällt, dass ich noch nicht geschrieben habe. Dann schreibe ich ein paar Zeilen und lasse es gut sein. Mein Gehirn kann am nächsten Tag trotzdem nicht behaupten, dass wir das doch nur manchmal machen, ob es denn heute wirklich sein muss, der Sessel ist so bequem, blablabla. Andere Anker könnten zehn Liegestütze statt der vollen Sportsession sein, eine Minute meditieren statt einer Viertelstunde, das Klo putzen statt das ganze Bad, einen Müsliriegel statt Müsli frühstücken, ihr habt es längst verstanden.
Die besten Tricks und Gewohnheiten werden die Welt langfristig nicht verbessern. Sie sind kein Ersatz für menschliche Verbindungen, für eine solidarische Gesellschaft und ein Wirtschaftssystem, in dem Menschen über Profiten stehen. Doch bis wir das erkämpft haben, machen sie unser Leben erträglicher. Solange das uns die Kraft geben, für ein besseres Leben für alle zu kämpfen, ist auch egal, ob diese Verbesserung auf Illusionen und ausgetricksten Gehirnen beruht.
Das Teilen dieses Texts mit Freund*innen ist eine phänomenale Gewohnheit. Die solltet ihr auch heute aufrechterhalten…