Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literarischem. Zurzeit erscheint er ein- bis zweimal im Monat. Viel Spaß beim Lesen und ich freue mich über Feedback!
Als Ärztin behandle ich pro Woche ca. 100 Patient*innen. Sonntags habe ich schon fast alle ihrer Namen vergessen. Noch kann ich einigen Gesichtern Beschwerden und Diagnosen zuordnen. Doch wenn sie in zwei, drei oder sechs Wochen zur Kontrolle kommen, werde ich in die Akte schauen müssen: Was war es nochmal? Arm gebrochen. Welche Seite, welcher Knochen? Was macht die Person beruflich? Wie lange hatte ich sie krankgeschrieben?
Treffe ich Patient*innen auf der Straße oder in der Schlange bei der Bäckerei, weiß ich oft gar nichts mehr. Manchmal kommen sie mir vage bekannt vor. Gelegentlich erinnere ich mich daran, sie behandelt zu haben, aber habe vergessen, weshalb. Oft sind sie mir ohne den Kontext meines Sprechzimmers vollkommen fremd.1 Ich kann nur lächeln und fragen, ob „es“ besser ist, um zu erfahren, dass die Physiotherapie für den Tennisellbogen schon angeschlagen hat. Datenschutzmäßig ideal.
Als Patientin ist mein Gedächtnis besser, weil ich nicht Probleme Anderer mit meinen schlauen Köpfchen lösen soll, sondern meine eigenen. Ich bin vollständig betroffen, mit Kopf, Körper, Schmerz und Seele. Meine Beschwerden begleiten mich täglich – ich kann keinen Computer herunterfahren und Feierabend machen.
Ich würde meinen schlimmsten Orthopäden auf der Straße erkennen. Er hingegen wüsste selbst mit Akte, selbst mit einem Foto, nicht mehr, wie katastrophal unsere Interaktion war. Er hatte mich angemotzt: „Warum ziehen Sie beide Schuhe aus?“ „Damit Sie meine gesunde Achillessehne mit der kranken vergleichen können, so habe ich es in der Uni gelernt.“ Er raunzte zurück: „Das ist Quatsch, vergessen Sie das!“2 Nach zwei Minuten behaupte er, dass er nichts für mich tun könne. Auch die Rheumatologin, die sagte, dass die Beschwerden vielleicht nie besser würden, obwohl sie keine Diagnose gefunden hatte, ist in mein Gehirn tätowiert.3
Als Patient*in, als Privatperson, gibt es kaum Vergessen – je einschränkender die Beschwerden, desto weniger. Die Unsicherheit ist zu groß. Wir spielen die Interaktionen immer wieder durch, nicht nur, wenn wir uns direkt danach auf der Toilette ausheulen, sondern auch Jahre später. Denn sie rütteln an unserer Identität: Werde ich nie wieder gesund? Kann ich mir anmaßen, mehr zu wissen, mehr zu hoffen als meine Ärzt*innen?
Vergessen ist Macht. Ärzt*innen können vergessen, weil es nicht um ihre Körper geht, nicht um ihre Schmerzen. Sie müssen sich nur ein- oder zweimal im Quartal damit beschäftigen. Sie können in die Akte schauen, sich auf fachlich-intellektueller Ebene an den Fall erinnern und sie danach schließen. In dieser Akte steht auch die „Wahrheit,“ die im Zweifelsfall stärker ist als die Erinnerung der Patient*in.
Natürlich ist der Patient*in das Problem wichtiger, weil es sie direkt betrifft. Eigentlich weiß sie das, trotzdem verletzt und verwirrt das ärztliche Vergessen. Es zeigt, wie anders das Land der Kranken funktioniert, wie anders die Gesunden ticken, selbst diejenigen, deren Job buchstäblich Heilen und Erkrankte begleiten ist.
Dabei ist Erinnerung wichtig für die Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen. Wenn Ärzt*innen fragen, wie es den Kindern oder Hunden geht, wie sich das medizinische Problem von vor einem halben Jahr entwickelt hat, zeigt das, dass sie die Menschen hinter ihren Patient*innen sehen. Dass sie sich nicht nur für das Medizinische, sondern auch die Person interessieren. Das schafft Vertrauen. Eine Basis für gemeinsame Arbeit. Für bessere Beratung, bessere Behandlung, Ratschläge und Hinweise, die gemeinsam entwickelt werden und zu den Betroffenen passen.
Trotzdem sind Ärzt*innen genauso vergesslich wie andere Menschen. Da hilft Bescheidenheit: „Helfen Sie mir doch bitte, wie war das nochmal mit …?“ Diese Frage wird gern beantwortet. So gern, dass ich mich frage, ob vielleicht nur ich von mir erwarte, mich an alles zu erinnern, dass meine Patient*innen längst verstanden haben, dass das nicht möglich ist? Als ich noch keine Ärztin war, habe ich meinen Ärzt*innen ihr Vergessen genauso verziehen und war umso beeindruckter, wenn sie sich an Details und Nebensachen erinnerten.4 Auch wenn ich etwas Medizinisches vergesse und die Patientin nochmal anrufe, ist die Reaktion eher Freude (meine Ärztin kümmert sich!) als Ärger (wofür brauche ich so eine Ärztin?): „Frau Müller5, ich hatte vorhin vergessen, das mit Ihnen zu besprechen: Ich würde Sie gern in einer Spezialsprechstunde für Lungenerkrankungen vorstellen.“ Das erste Vergessen ist menschlich. Das zweite macht mich zu einer schlechteren Ärztin, wenn ich es nicht korrigiere.
Natürlich vergessen auch Patient*innen und zwar nicht erst mit dem Einsetzen der Demenz. Doch dieses Vergessen ist mühsamer, langwieriger, mehr Arbeit – eher aktives Verdrängen als passives Vergessen. Es ist Selbstschutz: Was bringt es schon, sich an alle schlechten Ärzt*innen, alle unangenehmen Konsultationen, alle Enttäuschungen zu erinnern? Das macht bitter und kann am Weiterleben hindern.
Gleichzeitig kann aktives Vergessen ein Zeichen von Genesung sein. Wenn Betroffene sich weniger mit ihren Beschwerden beschäftigen, wenn diese seltener ihre Gedanken dominieren, wird das Vergessen möglich. Sei es, weil sie sich an die neue Situation gewöhnt haben, weil die Beschwerden besser sind oder weil sie sich schlicht auf etwas anderes als frustrierende Arztbesuche konzentrieren wollen. Andere Gedanken, ein anderer Fokus helfen nicht bloß bei psychosomatischen Erkrankungen, sondern können den Umgang mit jeder Erkrankung, insbesondere chronischen, unterstützen und die Lebensqualität verbessern.
Hat auch das ärztliche Vergessen positive Aspekte? Nicht alle Patient*innen für immer in meinem Kopf herumzutragen hilft mir, mich von meinem Job abzugrenzen. Es ermöglicht eine Life-Work-Balance, auch wenn diese häufig wackelt. Vergessen schließt abschließbare Fälle ab. Ich muss mich nicht an jede Prellung, jeden Husten, jede Platzwunde erinnern. Gleichzeitig ist es auch bei Ärzt*innen Selbstschutz: Die Krebsdiagnose mit Ende 30, den Abschiedsbrief der Lieblingstante vor ihrem Suizid, den eskalierten Konflikt über die Behandlung der hartnäckigen Schulterschmerzen muss ich vergessen (oder verdrängen?), um weitermachen zu können. Ist Vergessen also nicht nur unvermeidlich, sondern unerlässlich? Oder rede ich mir mein schwächelndes, gestresstes Gedächtnis schön?
Mein Vergessen kondensiert zu klinischer Erfahrung: Ich kann nicht mehr alle Bänderriss-Patient*innen aufzählen, aber weiß jetzt, wie der typische Bänderriss aussieht – wo ich drücken muss, wie dick der Fuß normalerweise wird, wo ich im Röntgenbild sehe, dass das Band aus dem Knochen ausgerissen ist. Ich vergesse euch, aber ihr macht mich zu einer besseren Ärztin für die nächsten, die ich ebenfalls vergessen, aber kompetenter behandeln werde.
Lektorat: Antoni Dylan – Danke!!!
Dieser Text ist mein erster Beitrag fürs einwortKollektiv. Kea hat unsere Entstehungsgeschichte hier erzählt. Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Mit dabei sind:
Oliwia Hälterlein – hier ihr Text zum Vergessen.
Vivian Sper – hier ihr Text zum Vergessen.
Kea von Garnier – ihr Text erscheint nächste Woche.
Franziska König – freut euch auf ihren Text!
Antoni Dylan – coming soon: ein extrem spannender Text, den ich ein bisschen lektorieren durfte.
Einen Triumph hat meine Erinnerung: Im Impfzentrum erkannte ich einen Impfgast wieder, bevor mir sein Impfpass bestätigte, dass er auch die erste Impfung von mir erhalten hatte.
Ist es nicht. Wir untersuchen immer im Seitenvergleich.
Spoiler: Sie wurden besser.
Meine überhöhten Ansprüche an mich selbst sind ein Thema für einen anderen Sonntag …
Heißt natürlich anders, alle Details sind geändert.
Ohhh, ich finde diesen Text so spannend! Weil ich als chronisch kranke Person ja immer nur auf der anderen Seite sitze, der, die sich mit dem Vergessen so schwer tut. Dabei verstehe ich es auch als Patientin absolut, dass sich Ärzt*innen nicht alles merken können und umso erstaunter bin ich, wenn mich jemand nach langer Zeit wiedersieht und sich doch an ein Detail meines Lebens und/oder meiner Beschwerden erinnern kann. Irgendwie hat es mich auch getröstet, zu lesen, dass auch Ärzt*innen es nicht kalt lässt, wenn es zu Konflikten mit Patient*innen kommt. Ich dachte immer, dass es für allem für die Patient*innen eine prägende Erfahrung ist, weil sie ja in diesem Machtgefälle zwischen "Fachpersonal" und "Laie" gefühlt die schwächere Position haben. Gerade dann nimmt man Ärzt*innen oft als "unantastbar" wahr, aber dein Text zeigt mir, dass das längst nicht immer der Fall sein muss. So spannend. Danke, dass du darüber geschrieben hast!